Montag, 16. September 1816
Anton Demuth wollte gerade gegen die schwere Tür zum Bureau des Justizdirektors von Broich klopfen, als er bemerkte, dass sie einen Spalt weit offen stand. Aus dem Inneren des Raumes drangen Stimmen zu ihm.
»Die Situation ist besorgniserregend, wenn nicht sogar beängstigend«, sagte ein Mann, bei dem es sich zweifelsfrei um Hugo von Broich handelte.
»Das sehe ich genau wie Sie, Herr Direktor. Wenn die Lage sich weiter zuspitzt, kommen wir alle noch in Teufels Küche.«
Die Stimme gehörte dem Justizsekretär Hubertus Rüter.
Demuth hielt inne. Sprachen die beiden über ihn?
»Ich habe Menschen beobachtet«, sagte von Broich, »die auf den sumpfigen Wiesen bei Holsterhausen nach Klee gesucht haben, um daraus Gemüse zu kochen.«
»Klee, Brombeerblätter, Löwenzahn, Sauerampfer. Die Ärmsten suchen inzwischen nach allem, was essbar ist. Vor ein paar Tagen ist mir am Ruhrufer kurz vor Kettwig eine Frau mit einer Handvoll verschrumpelter Hagebutten begegnet, die sie kochen wollte.«
»Am ärgsten ist der Stand der Tagelöhner betroffen«, sagte von Broich. »In ihren Gärten, in denen sie vornehmlich Kohl und Kartoffeln gezogen haben, ist alles verfault. Und das eine Stück Vieh, das manche halten, um ein wenig Milch für ihre Kinder zu haben, das kämpft gerade selbst gegen den Hungertod.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Herr Justizdirektor, zumal die meisten Tagelöhner bei den Wetterverhältnissen dieses Jahres keinen Pfennig verdienen konnten. Nirgendwo gibt es Arbeit für sie.«
»Gerade gründen sich vielerorts Hilfsvereine«, sagte von Broich. »Adlige Herrschaften und gut situierte Bürgersleute tun sich zusammen, um wenigstens die ärgste Not zu lindern. Und das ist ganz enorm wichtig, denn wenn das Volk nicht genug zu essen hat, wird es unberechenbar. Wohin es führen kann, wenn der einfache Mann außer Rand und Band gerät, das haben wir in Frankreich gesehen.«
»Ich denke nicht, dass es in Preußen so weit kommt, Herr Direktor. Für eine Revolte fehlt den Menschen die Kraft nach all den Kriegen und nach dem Elend der letzten Jahre. Und es macht ja auch niemand den König für die Misere verantwortlich. Die Menschen wissen, dass er auch die Sonne vermisst.«
»Wissen tut niemand etwas, Rüter. Und genau das ist das Problem. Wo den Menschen das Wissen fehlt, da wird es durch Vermutungen und Verdächtigungen ersetzt. Dann ist mal der schuldig und mal die, und niemand garantiert uns, dass morgen nicht der König für das ganze Elend verantwortlich gemacht wird.«
Demuth klopfte an die Tür.
»Kommen Sie herein, Herr Kriminalrat!«, rief von Broich. »Kommen Sie herein, die Tür steht offen.«
Hugo von Broich und Hubertus Rüter hatten sich am großen Besprechungstisch gegenübergesessen. Beide erhoben sich, der Sekretär behände, der Justizdirektor schwerfällig, als Demuth den Raum betrat. Er begrüßte zuerst seinen Vorgesetzten, dann den jungen Rüter. Beide schüttelten seine Hand lange, so als seien sie tatsächlich hocherfreut, ihn endlich wieder in den Mauern des Inquisitorialgerichtes an ihrer Seite zu haben.
Während Demuth sich auf einen der gepolsterten Stühle setzte, schlurfte von Broich zu seinem übergroßen Schreibtisch, kramte ein paar Papiere zusammen und erkundigte sich indessen nach Demuths Befinden. Der beteuerte einmal mehr, dass es ihm gut gehe und dass er durch die drei Übernachtungen in der Poststation am Schloss Oberhausen keinen Schaden genommen habe.
Von Broich ließ sich ächzend wieder auf den Stuhl fallen, auf dem er zuvor gesessen hatte, legte ein paar Unterlagen auf den Tisch und sagte zu Demuth: »Wir sprachen gerade über das grausige Wetter und seine Folgen. Ich bin der Auffassung, es ist ein Problem, dass niemand etwas über die Ursachen weiß, weil das zu allerlei unsinnigen Vermutungen und Verdächtigungen führt.«
»Das ist zweifellos ein großes Problem.«
»Ich bin ganz optimistisch, dass die Wissenschaft uns bald erklären wird, was die Katastrophe hervorgerufen hat«, sagte der junge Rüter. »Es gibt da zum Beispiel eine interessante Theorie, die sich darauf stützt, dass schon zu Beginn der Wetterkrise das vermehrte Auftreten von Sonnenflecken beobachtet wurde. Die könnten die Kraft der Sonne hemmen und für das Erkalten der Erde zuständig sein. Einige Wissenschaftler vermuten, dass es dadurch zu einer Schwächung des Zentralgestirns und zu einer langfristigen Abkühlung der Erde kommen könnte.«
»Und es gibt andere Naturforscher, die das für einen großen Blödsinn halten«, sagte von Broich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Also, lieber Rüter, da spekuliert die Wissenschaft doch derzeit genauso wie der Bauer und der Kaufmann. Wir Juristen sollten uns an dergleichen nicht beteiligen, sondern uns darauf konzentrieren, die gesellschaftlichen Folgen des Elends in den Griff zu bekommen. Ich bin überzeugt davon, dass da noch einiges auf uns zukommen wird. Aus verschiedenen Gegenden gibt es Berichte von Banden, die herumziehen und kleine Dörfer oder einsame Höfe überfallen und die letzten Kornvorräte rauben. Aus einigen Provinzen des Königreiches vermelden die Justizbehörden schon jetzt eine erhöhte Belegung der Gefängnisse.«
»Und wir sind erst im September.« Demuth machte ein sehr ernstes Gesicht. »Wie soll das im Winter werden und im nächsten Frühjahr, wenn auch die allerletzten Vorräte aufgebraucht sind? Ich fürchte, dass wir gerade erst am Anfang einer großen Hungersnot stehen.«
»Vielleicht sollten wir nicht gar so pessimistisch sein«, sagte Hugo von Broich und griff nach der Zeitung, die ganz oben auf dem kleinen Stapel Papier lag, den er von seinem Schreibtisch geholt hatte.
»Mich lässt hoffen, dass man offensichtlich inzwischen auch in Berlin den Ernst der Lage erkannt hat. Hier, das ist die neueste Ausgabe des Amtsblattes der königlich preußischen Regierung zu Cleve. Darin meldet sich der König höchstpersönlich zu Wort. Er schreibt, dass die jetzige Teuerung des Getreides und der Lebensmittel in den Rheinprovinzen ein besonders wichtiger Gegenstand seiner Aufmerksamkeit und Fürsorge sei.«
Von Broich sah seine beiden Gesprächspartner erwartungsvoll an. Angesichts der versprochenen königlichen Zuwendung hoffte er anscheinend auf den einen oder anderen Ausdruck der Erleichterung. Nach kurzem Zögern tat Rüter ihm den Gefallen.
»Wenn Friedrich Wilhelm selbst sich kümmert, dann wird vielleicht alles nicht ganz so schlimm«, sagte er.
Der Justizdirektor tippte mit dem Zeigefinger auf das Amtsblatt und berichtete: »Hier erklärt der König ausdrücklich, es seien bereits etliche mit Roggen beladene Schiffe auf dem Weg in die Rheinprovinzen, und er habe darüber hinaus einen noch weit beträchtlicheren Ankauf von Getreide durch das Finanzministerium angeordnet, wozu er vorläufig die Summe von zwei Millionen Talern aus seiner Kasse angewiesen habe.«
Diesmal schaute von Broich den Justizrat und den Sekretär so beifallheischend an, als habe er gerade selbst die Millionen aus seiner Schatulle geholt. Demuth und Rüter nickten anerkennend, und von Broich tippte weiter mit seinem Finger auf das Amtsblatt.
»Als begleitende Maßnahmen erlässt der König ein weitgehendes Ausfuhrverbot für jegliche Feldfrüchte nach Frankreich, Österreich, Kur-Hessen und Bayern, und er verfügt, dass keine Kartoffeln mehr für die Branntweinfabrikation verwendet werden dürfen, es sei denn, der Fabrikant selbst hat sie zu diesem Zwecke angebaut.«
»Das sind gute Maßnahmen. Vielversprechend«, sagte Rüter.
»Hoffentlich kommen sie noch rechtzeitig«, sagte Demuth.
»Wie ist denn die Situation an der Emscher? Spürt man da noch mehr von der Not der Menschen als hier in der Stadt?«, fragte von Broich.
»Das ist sehr unterschiedlich. Das fruchtbare Land in den Emscherauen steht unter Wasser. Die Ernte ist hinüber. Die kleinen Bauersleute, die da leben, wissen kaum noch, wie sie satt werden sollen. Aus dem Schloss dagegen hört man keine Klagen, sondern heitere Klavierklänge. Die Scheunen und Vorratskeller sind augenscheinlich gut gefüllt, und natürlich hat die Familie von Westerholt auch die finanziellen Mittel, um alles zu kaufen, was benötigt wird. Im Posthaus ist die Lage nicht so eindeutig. Der Postmeister und seine Gattin jammern über die Verknappung der Lebensmittel auf den umliegenden Märkten und über die enormen Preise. Aber ich habe noch jeden Tag etwas Genießbares vorgesetzt bekommen. Der Posthalter kann die hohen Preise normalerweise an seine gutsituierten Gäste weitergeben, aber er hat gerade das Problem, dass wegen des Dauerregens und der verschlammten Straßen viele Postwagen ausfallen und nur wenige Gäste kommen.«
»Wollen Sie noch einmal dahin zurück? Oder führen Sie Ihre Untersuchungen jetzt von hier aus weiter?«, fragte der Justizdirektor.
Anton Demuth nahm an, dass das nicht nur eine Frage war, sondern auch von Broichs freundlicher Hinweis darauf, dass er, der Kriminalrat Demuth, allein über den Fortgang der Untersuchungen zu entscheiden habe und dass er somit auch allein die Verantwortung für die Aufklärung des Mordfalles trage.
»Sobald wir hier mit unserer Besprechung fertig sind, werde ich mich wieder auf den Weg machen. Es gibt einige Verdächtige, aber noch habe ich niemandem nachweisen können, dass er etwas mit Anna Hasenleders Tod zu tun hat«, sagte er.
Demuth war davon ausgegangen, dass von Broich über den Stand der Untersuchungen unterrichtet werden wollte, und hatte sich schon auf dem Weg zum Gericht zurechtgelegt, was er über Helena Kleinrogge, über Augustin Sumser und über Arnold Terhuven erzählen wollte, aber er kam nicht dazu.
»Verschonen Sie mich mit Einzelheiten, lieber Demuth«, sagte von Broich betont freundlich. »Justizsekretär Rüter hat mich am Freitag nach seiner Rückkehr von der Emscher schon über den Stand Ihrer Untersuchungen unterrichtet. Ich weiß, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, und ich bin überzeugt davon, dass Sie den Mörder dieser Anna Hasenleder überführen werden. Was denken Sie, wie viel Zeit Sie noch brauchen werden?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Demuth achselzuckend.
»Zwei, drei Tage oder eher zwei, drei Wochen?«, fragte von Broich nach.
»Der Kreis der Verdächtigen ist nicht groß. Ich gehe davon aus, dass der Täter in ein paar Tagen überführt sein wird.«
»Oder die Täterin?«, fragte von Broich.
»Oder die Täterin«, bestätigte Demuth.
»Soll ich Sie an die Emscher begleiten, Herr Kriminalrat?«, fragte Hubertus Rüter. »Der Herr Direktor hat mir gesagt, dass er es begrüßen würde, wenn Sie vor Ort meine Unterstützung hätten. Und ich würde mich freuen, Ihnen assistieren zu dürfen.«
Demuth sah von Broich erstaunt an.
»Natürlich nur, wenn Sie das wollen«, fügte der Justizdirektor hinzu.
»Ich bin bisher gut allein zurechtgekommen«, entgegnete Demuth.
»Wenn Sie den Täter überführen, dann werden Sie ihn auch festnehmen müssen.« Rüter deutete durch eines der großen Sprossenfenster auf den gegenüberliegenden Trakt der ehemaligen Werdener Abtei, der jetzt als Zuchthaus genutzt wurde, und fuhr fort: »Und Sie werden Ihren Mörder irgendwie dorthin befördern müssen. Das können Sie doch nicht alleine.«
»Ich bin an der Emscher nicht allein. Es gibt einen Gendarm. Der Posthalter hat einen Sohn und einen Pferdeknecht, und der Herr Graf würde mich auch unterstützen, wenn ich ihn darum bäte. Er hat einige Dienstboten, die gewiss zupacken können, wenn es sein muss. Und es lässt sich immer jemand nach Werden schicken, um Hilfe herbeizuholen.«
»Ich werde an einem der nächsten Tage noch mal nach Ihnen sehen«, sagte Rüter.
»Sind Sie dem Herrn Grafen eigentlich schon mal begegnet?«, fragte von Broich.
»Ja, wir haben uns gemeinsam ein Marionettenspiel im Posthaus angeschaut. Maximilian Friedrich Graf von Westerholt hat mir bei dieser Gelegenheit überaus freundlich die Hand geschüttelt und sich neben mich gesetzt.«
»Ach was«, sagte Hugo von Broich.
Danach schwiegen der verblüffte Justizdirektor und der ebenso verblüffte Justizsekretär eine Weile. Die Stille endete erst, als von Broich nach den Papieren griff, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und zu Demuth sagte: »Vor gut einer Stunde hat ein Bote aus Duisburg den Obduktionsbericht vom Professor Günther gebracht.«
Er schob einen Umschlag über den großen Tisch. Der Justizrat Demuth entnahm ihm den handgeschriebenen Bericht der Duisburger Universität, den Daniel Erhard Günther, ordentlicher Professor der Medizin, unterzeichnet hatte.
Es genügte Demuth fürs Erste, das Papier zu überfliegen, um zu sehen, ob der Herr Professor zu irgendwelchen überraschenden Ergebnissen gekommen war. Er schob seinen Kneifer auf die Nase, nahm den Bericht zur Hand und erkannte schnell, dass er nichts Unerwartetes enthielt. Was da geschrieben stand, bestätigte in allen wesentlichen Punkten die Schlussfolgerungen, zu denen er und Gendarm Schmitting bereits bei ihrer Begutachtung des Leichnams in Anna Hasenleders Schlafkammer gekommen waren.
Professor Günther erklärte, die Platzwunde am Hinterkopf der Toten sei die Folge eines kräftigen Schlages, der mit einem etwa unterarmdicken Ast beziehungsweise Knüppel ausgeführt worden sei. Belege dafür seien kleine Holzpartikel und der Abrieb von Rinde in der Wunde, insbesondere an den Wundrändern.
Es sei davon auszugehen, so der Professor weiter, dass Anna H. infolge des gewaltsamen Schlages gegen ihren Kopf in die Emscher gestürzt sei.
In ihrem Leichnam, namentlich in den Atemwegen, seien bei der Sektion größere Rückstände von aspiriertem Wasser sichtbar geworden. Solche fänden sich erfahrungsgemäß nicht in den Körpern von Wasserleichen, die beim Eintauchen in ein Gewässer bereits tot gewesen seien.
Man finde sie hingegen bei Menschen, deren Atmung unter Wasser noch reflexartig aktiv gewesen sei. Das sei gewöhnlich bei denen der Fall, die beim Baden in einem See oder einem Fluss ertrunken seien, aber auch bei denen, die ohnmächtig in ein Gewässer gestürzt seien.
Bezugnehmend auf seine langjährige Erfahrung als Anatom und gerichtlicher Sachverständiger, sehe er es als erwiesen an, so das Fazit von Professor Günther, dass der Schlag auf den Hinterkopf der Anna H. nicht todesursächlich gewesen sei, dass er vielmehr eine Ohnmacht bewirkt habe, in deren Folge die Frau in die Emscher gestürzt, wo sie durch Ertrinken zu Tode gekommen sei.
Demuth nickte eine Weile still vor sich hin, nahm seine Brillengläser von der Nase und legte den Obduktionsbericht zurück auf den Tisch.
Von Broich sagte: »Ich nehme an, die Erkenntnisse vom Professor Günther stimmen mit den vorläufigen Ergebnissen Ihrer kriminalistischen Untersuchungen überein.«
»Das ist in der Tat so, Herr Direktor«, entgegnete Demuth.
»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.« Von Broich drückte sich, diesmal überraschend zügig, von seinem Stuhl hoch.
Obwohl Anton Demuth ein wenig überrascht vom plötzlichen Ende der Besprechung war, verabschiedete er sich ohne Umschweife, klemmte den Umschlag mit dem Obduktionsbericht unter den Arm, verließ das Bureau des Justizdirektors und schlenderte, in Gedanken versunken, über die langen Flure des ehemaligen Klosters.
Als völlig unerwartet und viel zu laut eine grelle Stimme hinter ihm ertönte, fuhr er erschrocken herum.
»Da bist du ja. Wo treibst du dich denn herum? Ich war schon in deiner Wohnung. Von da hat Klärchen Stüber mich ins Gericht geschickt. In deinem Bureau warst du aber auch nicht.«
Laut zeternd fiel seine Tochter Susanna ihm um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Bevor Demuth etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Du hättest mir wirklich Bescheid geben können, dass du wieder in Werden bist. Ich habe es nur durch Zufall mitbekommen. Die Mädchen fragen dauernd nach dir. Ich habe ihnen erklärt, dass du beruflich verreisen musstest. Aber auch das habe ich erst erfahren, als ich am Freitagabend nach dir sehen wollte. Das geht doch nicht!«
»Da hast du natürlich recht, aber ich musste am Donnerstag sehr plötzlich aufbrechen, und außerdem habe ich gedacht, ich wäre am Abend wieder in Werden«, versuchte Demuth zu erklären.
»Deine Enkelinnen haben Sehnsucht nach dir«, sagte Susanna. Ihr Tonfall war ein wenig sanfter geworden. »Sie haben dich die ganze Woche nicht gesehen. Es wird Zeit, dass du mal wieder vorbeikommst. Was hältst du von heute Abend?«
Seine Tochter war immer noch eine attraktive Frau, auch wenn sie mit zweiunddreißig nicht mehr die Jüngste war. Ihr langes blaues Kleid war unter der Brust gerafft, etwas zu straff, befand Demuth. Ihr Busen war üppig genug, der musste nicht noch auf diese Weise betont werden. Ihr fein gewebtes senffarbenes Schultertuch passte farblich zum Hütchen, das beim stürmischen Kuss ein wenig verrutscht war. Während Susanna es richtete, ging Demuth durch den Kopf, dass sie so aussah, wie sie heutzutage alle aussahen, die Damen der städtischen Bürgerschaft, die Gattinnen der Advokaten und Kaufleute, der Beamten und Fabrikanten. Er war froh, dass seine Tochter dazugehörte, dass es ihr gutging und er sich um sie und ihre Familie nicht sorgen musste.
»Es tut mir leid«, sagte er, »ich muss noch mal für ein paar Tage an die Emscher. Ich habe da einen sehr vertrackten Mordfall aufzuklären. Ich muss schon gleich wieder los.«
»Du wärst also wieder gefahren, ohne mir irgendwas zu sagen«, stellte Susanna schmollend fest.
Demuth machte ein schuldbewusstes Gesicht und schwieg.
»Das geht nicht, dass wir nicht wissen, wo du bist. Wir machen uns doch Sorgen um dich.«
»Das braucht ihr nicht. Ich bin doch kein hilfloser alter Mann.«
»Doch, das bist du wohl.« Susanna gab ihm noch einen flüchtigen Kuss und fügte hinzu: »Melde dich bitte, wenn du wieder in Werden bist.«
»Das tue ich«, versprach Demuth.
Susanna ging mit kleinen, energischen Schritten davon. Bevor sie am Ende des langen Flures die Treppe erreichte, drehte sie sich noch einmal um und winkte. In diesem Moment kam es Demuth so vor, als hätte sie sehr viel von ihrer Mutter. Er winkte lächelnd zurück.
Anton Demuth war gerade am Wasserschloss von Borbeck vorbeigefahren, der ehemaligen Residenz der Essener Fürstäbtissinnen. Das hatte er allerdings kaum bemerkt, denn seine Gedanken waren schon eine halbe Stunde vorausgeeilt und mit der Frage beschäftigt, was nach seiner Ankunft an der Emscher am dringendsten zu tun sei.
Er kam zu dem Schluss, dass er zuallererst dem Herrn Sumser aus Bayern noch einmal auf den Zahn fühlen wollte, falls der nicht inzwischen auf und davon war. Wenn er wirklich etwas mit dem Tod von Anna Hasenleder zu tun hatte, säße er vermutlich nicht brav im Posthaus herum, um die Rückkehr des Herrn Kriminalrichters Demuth aus Werden abzuwarten. Dann hätte er gewiss längst den Kreis Dinslaken, die Provinz Jülich-Cleve-Berg und das ganze große Königreich Preußen hinter sich gelassen.
Demuth ärgerte sich darüber, dass er die Möglichkeit einer fluchtartigen Abreise des Herrn aus Bayern überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte, als ihm ganz unvermittelt die wunderschöne Spieldose in den Sinn kam, die Sumser ihm vor zwei Tagen am Emscherufer vorgeführt hatte.
Er hatte wieder das kleine viereckige Holzkistchen vor Augen, das Augustin Sumser aus seiner Umhängetasche gezogen hatte, sah wieder die sich drehende Messingwalze mit ihren winzigen Erhebungen und war noch einmal entzückt von der zart und heiter dahinplätschernden Musik, die die Walze erzeugt hatte.
Unvermittelt sah er sich, wie er vom Ufer hinüberging zu Anna Hasenleders Haus, wie er die Küche betrat und vor der Truhe und dem Wandregal stehen blieb. Er beobachtete sich dabei, wie er all die tönernen Gefäße und kleinen Holzkisten, die Tiegel und Fläschchen in die Hand nahm, wie er seine Nase in Töpfe steckte, und er fühlte sich wieder betört vom Wohlgeruch der Blüten und Blätter und vom aromatischen Duft der Heilkräuter.
Und dann war sie ganz urplötzlich da, die Idee, dass einer der kleinen hölzernen Kästen in Anna Hasenleders Truhe genauso ausgesehen hatte wie das mechanische Musikinstrument von Augustin Sumser.
Natürlich hatte er nicht in jeden Topf, nicht in jedes Kästchen hineingeschaut. Er hatte keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass sich in irgendeinem der vielen Gefäße keine Kräuter befänden. Niemand hätte das vermutet, und deshalb hätte man auch nirgendwo besser eine Spieldose von Augustin Sumser verstecken können als zwischen all den tönernen, hölzernen und gläsernen Töpfchen, Dosen, Schachteln, Fläschchen und Kistchen in Anna Hasenleders Küche.
Am Posthaus angekommen, überließ Demuth dem Pferdeknecht sein Cabriolet und das Zugpferd. Er begrüßte Friedrich Krumpe, der sich anscheinend über seine Rückkehr freute und ihm einen Weizenbrei zum Mittagessen anbot. Demuth sagte, dass er gerade keinen Hunger habe und lieber am Abend essen wolle.
In der Gaststube sah er Augustin Sumser sitzen und in einer Zeitung lesen. Er begrüßte den Herrn ein wenig überrascht und forderte ihn eindringlich auf, vorläufig nicht abzureisen. Sumser entgegnete verblüfft, dass er das keineswegs vorhabe.
Demuth ging hinauf in die Schlafkammer, die so aussah, als hätte sie seit seiner gestrigen Abreise kein Mensch betreten. Er stellte seine Reisetasche neben das Bett und machte sich umgehend wieder auf den Weg.
Ein paar Minuten später klopfte er an die Haustür von Anna Hasenleders kleinem Kotten. Nichts rührte sich. Demuth zog die Tür langsam auf und horchte ins Haus hinein. Alles blieb still. Er betrat die Küche, ging hinüber zur Truhe und öffnete sie. Da war zwischen all den Dosen und Töpfen das kleine Kästchen aus Ahornholz, auf das sofort sein Blick fiel.
Er nahm es heraus, öffnete es, sah die Walze, den Kamm und den kleinen Hebel an der Seite. Er legte ihn um und hörte eine liebliche Melodie. Es war nicht die, die Sumser ihm am Samstag vorgespielt hatte, aber sie klang ebenso zart und heiter wie jene.
Die Spieldose, die Demuth in der Hand hielt, dieses fein gearbeitete und wohlklingende kleine mechanische Musikinstrument, war ohne Frage ein Werk von Augustin Sumser.
Anton Demuth setzte sich an Annas Küchentisch, stellte das Holzkästchen vor sich hin, sah es lange unverwandt an und versuchte zu begreifen, was dieser Fund für seine kriminalistischen Untersuchungen bedeutete.
Augustin Sumser, ein gutsituierter Hersteller von Spieldosen aus Bayern, ganz offensichtlich ein Meister seines Faches, logierte jetzt schon seit acht Tagen im Posthaus am Schloss Oberhausen. Ausgerechnet hier wollte er angeblich Käufer für seine mechanischen Musikinstrumente finden. Während seines Aufenthaltes an der Emscher wurde in der Nachbarschaft der Poststation die Kräuterfrau Anna Hasenleder das Opfer eines Verbrechens. Sumser hatte ihm, dem ermittelnden Untersuchungsrichter, erklärt, die Frau nicht gekannt zu haben. Doch sie hatte in ihrer Truhe eine Spieldose versteckt, die zweifellos von Augustin Sumser hergestellt worden war.
Hatte Anna kurz vor ihrem Tod den Mann aus Bayern kennengelernt und ihm das Instrument abgekauft? Das war auf den ersten Blick eine plausibel erscheinende Erklärung. Die beiden könnten sich im Umfeld der Poststation begegnet und miteinander ins Gespräch gekommen sein. Sumser könnte Anna im Posthaus seine Spieldosen vorgeführt haben, daraufhin könnte es zu dem Handel gekommen sein. Aber je eingehender Demuth diese Möglichkeit betrachtete, desto unwahrscheinlicher erschien sie ihm. Friedrich Krumpe oder seine Frau hätten von einem Zusammentreffen zwischen ihrem Gast und ihrer Nachbarin gewiss etwas mitbekommen, und es wäre ihnen nicht verborgen geblieben, wenn Anna eine von Sumsers mechanischen Musikinstrumenten gekauft hätte. Beide, Friedrich und Margarete, hatten bisher den Eindruck vermittelt, dass sie gewillt waren, Demuths kriminalistische Nachforschungen zu unterstützen. Sie hätten ihm von einer solchen Begegnung und von einem solchen Handel berichtet.
Gegen die Theorie, dass Anna Hasenleder die Spieldose von Augustin Sumser gekauft hatte, sprach aber vor allem ihr Preis. Demuth schätzte ihn auf mindestens zwanzig Taler. Ein solches mechanisches Musikinstrument mochte sich eine reiche Bürgersfrau oder ein wohlhabender Adliger in den Salon stellen. Eine Bauersfrau von der Emscher würde gar nicht auf die Idee kommen, so ein Ding zu kaufen. Gewiss, Anna Hasenleder war eine ungewöhnliche Frau gewesen, und sie hatte ein wenig Geld zurückgelegt, aber ein so kostbares Instrument hätte ihre finanziellen Möglichkeiten überstiegen.
Nein, Anna hatte die Spieldose nicht gekauft.
Und doch hatte Demuth sie gerade in ihrer Truhe gefunden.
Hatte Sumser sie ihr geschenkt? Hatte er ein engeres Verhältnis zu Anna Hasenleder gehabt, als er zugab? War er vielleicht sogar ihretwegen an die Emscher gekommen?
Wenn es eine Verbindung zwischen Anna Hasenleder und Augustin Sumser gegeben hatte, und dafür sprach nun mal die Spieldose, dann gab es einen Menschen, der darüber Bescheid wissen musste, nämlich Annas engste Vertraute, ihre Nichte Dina Becker.
Er verstaute das Holzkästchen vorsichtig in einer Innentasche seines weiten Mantels. Wenn er Glück hatte und Dina nicht gerade in den Gemächern der gräflichen Familie beschäftigt war, dann traf er sie jetzt wahrscheinlich im Gesindehaus des Schlosses an. Es war jedenfalls einen Versuch wert, sich dort nach ihr zu erkundigen.
Als er gerade die Haustür aufstoßen wollte, hörte er vom Emscherweg her Stimmen. Durch das kleine Fenster neben der Tür sah er, dass sich Dina mit den drei Tendlers dem Kotten näherte.
Demuth trat aus dem Haus, lächelte den vier Leuten, die offenbar alle von seinem Anblick überrascht waren, freundlich zu und rief ihnen entgegen: »Guten Tag, miteinander.«
Alle erwiderten seinen Gruß.
»Guten Tag, Herr Kriminalrat«, sagten Josef Tendler und seine Frau Therese gleichzeitig.
Ihre Tochter Liesel, sie trug wieder Annas blaues Schultertuch, nickte ihm schüchtern zu.
»Guten Tag, Herr Demuth. Was treibt Sie noch mal hierher? Hatten Sie sich nicht schon in Annas Haus umgesehen?«, fragte Dina.
»Eigentlich bin ich auf der Suche nach Ihnen«, antwortete Demuth.
»Nach mir? Warum das denn? Wir haben doch erst gestern lange miteinander geredet.«
»Während einer Morduntersuchung gibt es häufig überraschende Wendungen. Im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Tante bin ich auf etwas gestoßen, das ich gern mit Ihnen besprechen möchte.«
»Sie sind nicht unseretwegen hier?«, fragte Therese Tendler.
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Na, Gott sei Dank«, sagte sie erfreut. »Wir wollen nämlich in den nächsten Wochen hier wohnen, in Annas kleinem Haus. Die Dina hat gesagt, Sie, Herr Untersuchungsrichter, hätten nichts dagegen, aber als ich Sie vor der Tür stehen sah, habe ich gedacht, dass Sie es jetzt doch verbieten wollten.«
»Nein, das will ich nicht«, sagte Demuth.
»Wissen Sie, Herr Kriminalrat, in den Pferdeställen zu übernachten, bei diesem Wetter, das ist nicht sehr angenehm. Alles fühlt sich irgendwie klamm an, und der Wind weht durch die Ritzen«, erklärte Josef Tendler.
»Natürlich sind wir dem Herrn Posthalter dankbar, dass er uns das erlaubt hat. Aber in einem festen Haus zu wohnen und richtige Betten zu haben, das wäre schon eine Freude für uns«, sagte seine Frau.
»Seien Sie unbesorgt. Ich werde Ihnen gewiss nicht in die Quere kommen«, stellte Demuth klar und fügte, als er die Erleichterung der Tendlers bemerkte, die Frage hinzu: »Wie lange wollen Sie denn noch an der Emscher bleiben?«
»Noch ungefähr zwei Wochen«, antwortete Josef Tendler. »Dann haben wir alle unsere Stücke einmal nachmittags und einmal abends gespielt, einmal sonntags und einmal werktags. Nach drei bis vier Wochen ziehen wir meistens weiter.«
»Und wo geht es als Nächstes hin?«
»Nach Bochum.«
»Ach, ins Westfälische.«
»Ja, unsere Konzession gilt auch für die Provinz Westfalen.«
»Bochum ist eine brave, kleine Stadt«, sagte Demuth.
»Wir sind immer gerne da. Die Bochumer schätzen das Marionettentheater und besuchen sehr zahlreich unsere Vorstellungen. Und es sind nicht nur Bauern, die zu uns kommen. Im Publikum sind viele Handwerker und Kaufleute und sogar studierte Leute«, erzählte Tendler. »Manche haben die Stücke sogar schon gelesen, die wir auf die Bühne bringen, die Geschichte vom Doktor Faustus oder die Legende von der heiligen Genoveva zum Beispiel.«
Noch immer stand die kleine Gruppe vor der Tür zu Annas Häuschen, Dina mit den drei Tendlers und ihnen gegenüber der Justizrat Demuth, der schmunzelnd bemerkte: »Ja, so sind sie, die Bochumer. Sie lesen gern.«
Josef Tendler wusste anscheinend nicht, was er von der Äußerung halten sollte. Er schaute fragend in die Runde, dann lachte er verhalten.
»Nein, nein«, sagte Demuth, »das sollte kein Scherz sein. Es gibt sogar eine Lesegesellschaft in Bochum. Da kommen Leute zusammen, um über Literatur zu sprechen, um neue Bücher zu empfehlen und daraus vorzulesen.«
»Davon habe ich noch nichts gehört.« Tendler sah seine Frau an. Die zuckte mit den Achseln.
»Ein Freund aus Studienzeiten lebt in Bochum«, erklärte Demuth. »Er ist Richter am königlichen Land- und Stadtgericht. Ich besuche ihn ab und zu. Er ist selbst Mitglied der Lesegesellschaft, und ich habe ihn ein paarmal zu den Zusammenkünften begleitet. Einmal war sogar der Herr Dr. Kortum anwesend.«
»Der Arzt? Den kennen wir auch«, sagte Therese Tendler. »Er kommt regelmäßig in unsere Vorstellungen, und meinem Mann hat er schon mal geholfen, als er etwas Falsches gegessen hatte.«
»Carl Arnold Kortum ist nicht nur Arzt«, sagte Demuth. »Er ist ein bedeutender Autor und Naturforscher. Er hat über die Bienenzucht, die Alchemie, über den Kaffeegenuss und germanische Grabstätten und über allerlei andere Themen gelehrte Werke verfasst. Er hat sich in Versen und Prosatexten humorvoll und tiefsinnig mit Erscheinungen unserer Zeit auseinandergesetzt. Und natürlich hat er auch über allerlei medizinische Fragen geschrieben. Er ist ein sehr bedeutender Mann. Die Universität Duisburg, an der er ein paar Jahre vor mir Student war, hat ihn im Mai zu seinem fünfzigjährigen Doktorjubiläum mit allerhöchsten Ehren und Auszeichnungen bedacht. Also, wenn der Herr Dr. Kortum Ihre Vorstellungen mit seinem Besuch beehrt, dann dürfen Sie das schon als ein besonderes Kompliment auffassen.«
Tendler, seine Frau und seine Tochter sahen sich schweigend an. Demuths Schilderung von Dr. Kortums Meriten hatte sie offenbar beeindruckt.
»Warum besuchen Sie mit Ihren Marionetten überhaupt so dörfliche Gegenden wie diese hier?«, fragte Dina. »In den großen Städten, wie Duisburg, Düsseldorf oder Köln, gibt es doch viel mehr Menschen, die sich Ihre Aufführungen ansehen könnten.«
»Und es gibt viel mehr Zerstreuungen«, entgegnete Josef Tendler. »Wenn wir in eine Bauerngegend kommen, freuen die Leute sich oft viel mehr über die Abwechslung, die wir in ihren Alltag bringen, als das Publikum in den großen Städten, wo es dauernd neue Attraktionen zu bestaunen gibt.«
Liesel Tendler zog das blaue Tuch enger um ihre Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie schaute gelangweilt vor sich hin. Es war ihr anzusehen, dass sie des Gespräches überdrüssig war und gern ins Haus wollte.
Ihre Mutter legte eine Hand auf ihre Schulter und zog mit der anderen ihrem Mann am Ärmel.
»Wir drei, wir gehen jetzt noch einmal zum Pferdestall und holen unsere Sachen«, sagte sie.
»Aber wir wollten uns doch jetzt erst mit der Dina das Haus ansehen«, protestierte Liesel.
»Ja, das wollten wir. Aber das können wir auch später noch. Außerdem wissen wir, wie es dadrin aussieht. Wir waren oft genug bei der Anna zu Gast. Deshalb gehen wir jetzt erst noch mal los. Dann kann der Herr Demuth sich inzwischen mit der Dina unterhalten.«
Josef Tendler stimmte seiner Frau zu. Die beiden nahmen ihre Tochter in die Mitte und gingen wortlos hinunter zum Emscherweg.
»Das sind nette Menschen, die Tendlers, immer freundlich und bescheiden«, sagte Dina Becker, als sie sich ein paar Minuten später, Demuth gegenüber, an Annas Küchentisch setzte. »Ich mag sie wirklich sehr.«
»Sie sind sehr bemüht, es jedem recht zu machen und niemandem eine Last zu sein. Menschen wie sie haben es nicht leicht«, sagte Anton Demuth.
Dina seufzte. »Nein, leicht haben sie es wirklich nicht.«
Demuth wechselte unvermittelt das Thema. »Kennen Sie eigentlich den Herrn Sumser, der zurzeit in der Poststation logiert?«, fragte er Dina Becker.
»Ich habe gehört, dass dort ein Gast aus Bayern abgestiegen ist. Ob er Sumser heißt, weiß ich nicht.«
»Augustin Sumser heißt der Mann.«
»Nein, den kenne ich nicht«, sagte Dina. »Aber worüber wollten Sie denn mit mir reden? Sie sprachen gerade draußen von einer überraschenden Wendung bei Ihren Untersuchungen.«
»Zum Herrn Sumser wollte ich Sie befragen. Er handelt mit mechanischen Musikinstrumenten, die er selbst hergestellt hat.«
Dina sah ihn verständnislos an.
»Es hat sich herausgestellt, dass er und Ihre Tante sich kannten. Vermutlich sogar sehr gut.«
»Das ist Unsinn«, sagte Dina entschieden. »Hätte die Anna irgendetwas mit diesem Herrn zu tun gehabt, dann wüsste ich davon.«
Demuth zog die Spieldose aus seinem Mantel und stellte sie vor Dina auf den Tisch.
»Ach«, sagte sie erstaunt. »Wo haben Sie die denn gefunden?«
»Da drüben, in Annas Truhe.«
»Ich habe sie schon überall gesucht.« Dina schüttelte den Kopf.
»Sie ist von Augustin Sumser.«
Dina hörte nicht auf, ihren Kopf zu schütteln.
»Er hat dieses mechanische Musikinstrument gebaut, daran gibt es keinen Zweifel«, sagte Demuth.
»Das ist unmöglich«, entgegnete Dina. »Diese Spieldose gehörte der Gräfin Friederike. Schon als ich die Familie von Westerholt kennenlernte, war sie in ihrem Besitz. Nach Friederikes Tod hat Graf Maximilian sie dann der Anna geschenkt. Das war vor etwa drei Monaten, als die Anna gerade mal wieder eines der Kinder, ich glaube es war Friedrich Ludolf, von einem schweren Fieber kuriert hatte.«
Der Gendarm Schmitting stand unten an der Emscher, nur wenige Schritte vom Steg entfernt. Er redete mit einem jungem Mann, dessen Hände mit einem Strick hinter seinem Rücken zusammengebunden waren.
Anton Demuths Blick fiel auf die Szene am Flussufer, während er zusammen mit Dina Becker den kleinen Kotten verließ. Auch Dina sah die beiden Männer, als sie durch die Haustür ins Freie trat.
»Kennen Sie den Kerl, mit dem der Gendarm spricht?«, fragte Demuth sie.
»Das ist Arnold Terhuven.«
Dina sagte das so kühl, dass Demuth sich fragte, ob eine junge Frau so über den Vater ihres ungeborenen Kindes sprechen konnte, so ganz ohne jedes Anzeichen einer Gefühlsregung.
Das wollte er gern genau wissen.
»Es gibt Leute, die halten den Arnold und Sie für ein Paar«, sagte er.
»Es gibt auch welche, die behaupten, die Sonne scheine nicht mehr, weil sie in die Emscher gefallen sei«, entgegnete Dina schnippisch.
»Ach was«, sagte Anton Demuth.
»Was so geredet wird, das ist oft Unfug«, fuhr Dina fort. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht viel darum geben.«
»Mir ist zugeflüstert worden, dass Sie ein Kind erwarten und dass Arnold Terhuven der Vater ist«, sagte Demuth.
Von einem Augenblick zum nächsten war es um Dinas Selbstbeherrschung geschehen. Das Blut stieg ihr in den Kopf, ihre Augen weiteten sich erschrocken. Sie starrte Demuth an und stammelte: »Jemand hat das gesagt? Zu Ihnen? Dass ich schwanger bin? Wer behauptet so etwas?«
Demuth hatte nicht die Absicht gehabt, Dina Becker so sehr aus der Fassung zu bringen. Die verstörte junge Frau tat ihm leid. Jetzt war er es, der stammelte.
»Ich weiß nicht. Das kann ich nicht sagen. Vielleicht habe ich ja auch irgendwas falsch verstanden.«
Dina sah ihn an, verständnislos und sprachlos, eine ganze Weile, bevor sie endlich aufgebracht hervorstieß: »Die Henni. Die Henriette. Das hätte ich ihr nicht zugetraut.«
»Nein, nein«, sagte Demuth energisch. »Sie ziehen falsche Schlüsse. Henriette Terhuven und ich, wir haben noch nie ein Wort miteinander gesprochen. Ich habe sie bisher nur ein Mal gesehen. Das war im Posthaus beim Marionettenspiel von der heiligen Genoveva. Da hat sie ein paar Reihen hinter mir gesessen.«
Dinas Erschrecken war längst umgeschlagen in einen grollenden Zorn.
»Was auch immer Sie gehört haben oder glauben oder vermuten, das ist alles dummes Zeug«, sagte sie wutentbrannt zu Demuth. »Jeder weiß hier, dass der Arnold was von mir will. Aber ich will nichts von ihm. Und das wissen die Leute auch. Aber das ist eine Geschichte, die ihnen nicht gefällt. Also erfinden sie irgendwas, irgendeinen Blödsinn.«
Demuth schwieg dazu.
»Ich nehme an, dass Sie mich hier nicht mehr brauchen«, sagte Dina brüsk und unüberhörbar aufgebracht. »Ich würde jetzt gern den Tendlers helfen, ihre Sachen hierherzuschaffen.«
»Ja, natürlich. Tun Sie das«, entgegnete Demuth.
Dina drehte sich auf der Stelle um und ging in Richtung Herrenhaus davon. Die beiden Männer unten am Steg waren inzwischen auf sie aufmerksam geworden und schauten ihr nach.
Irgendwann rief Schmitting mit seiner dröhnenden Stimme: »Herr Kriminalrichter, da sind Sie ja. Wir warten hier schon eine Weile auf Sie.«
Anton Demuth dachte über Dina nach, über ihre Verwirrung und ihre Wut, während er langsam hinunterging zu den Männern am Flussufer.
»Das ist Arnold Terhuven. Ich habe ihn in Ruhrort in einem zwielichtigen Haus in der Nähe des Hafens aufgegabelt«, sagte Schmitting.
»Aus dem Bett einer schönen Hure hat er mich gezogen, der Herr Gendarm«, sagte der junge Mann ärgerlich.
»Sie haben hier auf mich gewartet? Woher wussten Sie, dass ich in Anna Hasenleders Haus war?«, fragte Demuth den Gendarmen.
»Ich habe den Marionettenspieler und seine Familie getroffen. Die Tendlers haben gesagt, Sie seien zusammen mit der Dina hier.«
Unvermittelt fielen ein paar Regentropfen aus dem grauen Himmel.
Schmitting wischte sich einen von der Nase. »Es wird in Kürze hier sehr ungemütlich. Wenn wir nicht klatschnass werden wollen, sollten wir schnell zum Posthaus gehen.«
»Zum Haus der Terhuvens ist es näher«, sagte Demuth.
Schmitting nickte. »Das stimmt.«
Arnold Terhuven lachte bitter.
»Ja, schleppen Sie den Bösewicht nur gefesselt vor seine Mutter und seinen Großvater«, sagte er bissig. »Warum behandeln Sie mich so, als wäre ich ein Verbrecher?«
»Verbrecher bringen wir ins Zuchthaus und nicht zu ihren Müttern«, sagte Schmitting ungerührt, griff nach Arnold Terhuvens Arm und schob ihn auf dem Emscherweg vorwärts.
»Ich habe nichts getan«, rief der empört und wand sich aus dem Griff des Gendarmen.
Schmitting packte noch einmal energisch zu, aber dieses Mal ließ der junge Terhuven sich nicht von der Stelle schieben. Breitbeinig stand er da, sah den Gendarmen und den Kriminalrichter feindselig an und sagte, seinen Zorn nur unvollkommen beherrschend: »Es ist nicht nötig, dass Sie mich so in mein Elternhaus führen. Sie bereiten meiner Mutter unnötige Sorgen. Warum tun Sie das? Ich werde nicht flüchten. Binden Sie mir endlich die Hände los.«
Demuth bemerkte Schmittings fragenden Blick und zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, ob er uns davonläuft. Sie kennen ihn besser als ich«, sagte er.
Schmitting löste den Strick von Arnolds Handgelenken.
Der Regen wurde stärker. Die Männer sputeten sich. Nur zwei Minuten später standen sie vorm Haus der Terhuvens. Die Bank, auf der gewöhnlich der alte Fürchtegott saß, war leer. Der Regen wurde von einem Augenblick zum anderen zu einem Guss. Schmitting schlug heftig gegen die Haustür.
Henriette öffnete und ließ die drei Männer ein. Gertrude saß am Küchentisch. Als sie ihren Sohn sah, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn an sich. Fürchtegott Terhuven saß auf einer Holzbank neben dem Ofen und beobachtete die Szenerie schweigend.
»Wie geht es dir, Opa?«, fragte sein Enkel ihn.
»Ich lebe noch«, antwortete er.
Als Arnold sich neben ihn auf die Ofenbank setzte, bemerkte Demuth, wie ähnlich die beiden sich sahen. Das spitze Kinn hatte der Junge vom alten Fürchtegott, und sein blonder Haarschopf war genauso struppig und wirr wie der weiße seines Großvaters. Beide schauten aus grünen Augen skeptisch und herausfordernd in die Welt, eine Gleichartigkeit, die besonders auffiel, auch wenn die Lider des alten Mannes müde herabhingen und seine Augen kleiner wirkten als die seines Enkels.
Demuth stellte sich den Anwesenden vor, obwohl er annahm, dass alle bereits wussten, wer er war. »Ich bin Anton Demuth, Kriminalrichter aus Werden«, sagte er laut. »Ich untersuche die Umstände des Todes von Anna Hasenleder. Mit fast allen Nachbarn habe ich inzwischen gesprochen. In diesem Haus habe ich allerdings die meisten Bewohner bisher nicht angetroffen.«
»Deshalb lassen Sie mich in Ruhrort gefangen nehmen und hierherbringen? Weil Sie mit mir reden wollen? Dazu haben Sie kein Recht«, sagte Arnold kopfschüttelnd.
»Doch, das hat er.« Schmitting nahm sein Gewehr von der Schulter und setzte sich auf einen Stuhl am Küchentisch.
»Ich suche den Mörder von Anna Hasenleder, und Sie, junger Mann, gehören zu den Verdächtigen«, sagte Demuth.
»So ein Unfug«, keifte Gertrude Terhuven, die sich inzwischen auch wieder an den Tisch gesetzt hatte. Ihre Tochter Henriette stand neben ihr. Sie hatte die Arme unter der Brust verschränkt und betrachtete abwechselnd den Kriminalrichter aus Werden und ihren Bruder.
»Kann man hier irgendwo ungestört unter vier Augen reden?«, fragte Demuth.
»Da, in meiner Kammer.« Der alte Fürchtegott deutete mit dem Kopf auf eine Holztür. »Da gibt es einen Stuhl und einen kleinen Tisch und ein Bett.«
»Kommen Sie!«, sagte Demuth zu Arnold. Der folgte ihm ohne weiteren Widerspruch in den kleinen Raum hinter der Küche und setzte sich auf das Bett seines Großvaters.
Demuth schloss die Tür und stellte sich neben das kleine Sprossenfenster an der gegenüberliegenden Wand.
Arnold sah ihn herausfordernd an.
Demuth hielt seinem Blick stand und schwieg.
»Warum sollte ich die Anna umbringen?«, fragte der junge Terhuven.
»Sie wollten mit ihrer Nichte anbändeln. Die Anna war gegen die Verbindung. Deshalb haben Sie sie aus dem Weg geräumt.«
Arnold Terhuven lachte ungehalten.
»Kennen Sie die Dina?«, fragte er, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Ja«, sagte Demuth.
»Dann sollten Sie wissen, dass sie sich von niemandem etwas sagen lässt, auch von ihrer Tante nicht. Und die hätte ihr in Liebesdingen auch nicht hineingeredet. Anna Hasenleder hat so gelebt, wie sie es für richtig hielt, und das hat sie auch der Dina zugestanden.«
»Das wissen Sie so genau?«
»Ja, das weiß ich.«
»Sind Sie der Dina irgendwann mal nähergekommen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich wüsste gern, ob die Dina irgendwann mal schwach geworden ist und Sie das ausgenutzt haben?«
»Die Dina ist in meinem Beisein nie schwach geworden. Sie ist das Nachbarsmädchen, in das ich schon als Junge verliebt war, bei dem ich aber nicht landen konnte. So etwas kommt vor. Darüber kann man hinwegkommen. Es gibt genug schöne Frauen, die einem gerne dabei helfen. Ich bin nicht so ein Schwächling wie mein Vater, der davongelaufen ist, weil er es nicht verkraften konnte, dass die Anna ihn nicht wollte.«
»Hat die Dina einen anderen?«, fragte Demuth.
»Das weiß ich nicht«, sagte Arnold.
Demuth knöpfte seinen Mantel auf und setzte sich auf den Stuhl, der dem Bett gegenüberstand.
»Der Gendarm Schmitting hält Sie für einen üblen Kerl. Er glaubt, dass Sie zu allem fähig sind, wenn es Ihnen etwas einbringt.«
»Ja, ich weiß. Für ihn bin ich der Taugenichts, der schon als Halbwüchsiger gewildert hat und Fische aus der Emscher gefangen hat, obwohl er das nicht durfte. Anstatt zu hungern, habe ich es gewagt, Dinge zu tun, zu denen nur der Herr Graf ein Recht hatte. Sogar im Gefängnis gesessen habe ich dafür. Aber ich bin immer noch der Meinung, dass es nicht falsch war, was ich getan habe. Kein König und kein Fürst hat das Recht, alles das, was die Natur den Menschen gibt, für sich zu beanspruchen, während die einfachen Leute verhungern.«
Demuth sah den jungen Mann eine Weile nachdenklich an. Dann fragte er ihn: »Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Vater Rochus Sympathien für die Französische Revolution hatte?«
»Mein Großvater hat mir erzählt, dass er sich in Frankreich den Revolutionstruppen angeschlossen hat«, antwortete Arnold.
»Und Sie selbst haben mit der Armee Napoleons gegen das Königreich Preußen und seine Verbündeten gekämpft?«
»Ja, aber mich hat niemand gefragt, ob ich das wollte. Ich musste Soldat des Großherzogtums Berg werden und mit den Franzosen in den Krieg ziehen. 1813 war das. Aber kurz vor der großen Schlacht bei Leipzig ist es mir gelungen zu fliehen.«
»Zu desertieren«, sagte Demuth.
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich bin froh, dass ich nicht gegen deutsche Brüder gekämpft habe. Und ich bin auch froh, dass ich nicht für den großen Franzosenkaiser gestorben bin, so wie zigtausend junge Männer.«
»So wie Ihr Vetter Georg Kleinrogge.«
»Ja, so wie der Georg.« Arnold nickte. »Ich habe versucht, ihn zu überreden, mit mir abzuhauen. Er wollte nicht. Er sei kein Deserteur, hat er gesagt. Jetzt ist er tot. Da gefällt es mir sehr viel besser, ein Deserteur zu sein.«
»Stimmt es, dass Sie nach der Soldatenzeit Pferdeknecht beim Posthalter Krumpe waren und dass der Sie rausgeschmissen hat, weil Sie unzuverlässig und ständig betrunken waren?«
»Ich trinke zu viel Bier und Branntwein und verbringe zu viel Zeit mit Huren. Das ist wahr. Im Rausch lassen sich Ungerechtigkeiten und Elend besser ertragen.«
»Das bringt doch nichts«, sagte Demuth leise, mehr zu sich als zu dem jungen Mann.
»Es ist schon absonderlich«, sagte Arnold Terhuven, ohne auf Demuths Bemerkung einzugehen, »dass Sie ausgerechnet mich verdächtigen, die Anna getötet zu werden. Niemand hier war ihr so ähnlich wie ich.«
»Ach was«, sagte Demuth.
»Sie hat nach ihren eigenen Regeln gelebt, und das tu ich auch. Deshalb ergeht es mir jetzt so wie ihr. Menschen wie wir sind immer an allem schuld. Man verteufelt uns. Die Anna hat man zur Hexe gemacht, und jetzt wollen Sie mich zum Mörder machen.«
Demuth schwieg.
»Suchen Sie den Unhold, der die Anna auf dem Gewissen hat, lieber bei denen, für die sie eine böse, gemeine Hexe war.«
»Ich glaube, Ihre Mutter Gertrude ist so jemand«, sagte Demuth.
»Ich weiß«, entgegnete der junge Terhuven. »Ich glaube zwar nicht, dass sie fähig ist, einen Mord zu begehen, aber sie hat keine Gelegenheit ausgelassen, schlecht über die Anna zu reden und Menschen gegen sie aufzuwiegeln.«
Ein paar Minuten später hockte Gertrude Terhuven in der Kammer des alten Fürchtegott auf der Bettkante. Demuth betrachtete sie. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaute auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen.
So hatte sie auch dagesessen, als Demuth sie am Donnerstag beim Beten in Anna Hasenleders Küche zum ersten Mal gesehen hatte. Da hatte sie einen Rosenkranz in den Händen gehalten.
Demuth saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen auf dem Stuhl und schaute Gertrude unverwandt an.
Die fühlte sich unübersehbar unbehaglich. Hin und wieder blickte sie scheu zum Kriminalrichter hinüber, nur um jedes Mal schnell ihre Augen wieder niederzuschlagen, wenn sie seinem Blick begegnete.
Demuth wartete ab.
Endlich fragte Gertrude Terhuven kleinlaut: »Glauben Sie, dass ich etwas mit Anna Hasenleders Tod zu tun habe?«
»Ja«, sagte Demuth.
Danach war es wieder still in der kleinen Kammer, bis Gertrude irgendwann vor sich hin murmelte: »Ich habe sie nicht gemocht.«
»Sie haben sie gehasst«, sagte Demuth schroff.
Gertrude schaute auf ihre Hände.
»Sie war die Frau, die Ihr Mann Rochus geliebt hat.«
»Die Anna hatte ihn verhext«, sagte Gertrude sehr leise.
»Warum hätte sie das tun sollen? Sie wollte nichts von ihm. Seine Nachstellungen waren ihr unangenehm.«
Jetzt sah Gertrude dem Kriminalrichter in die Augen und hielt seinem Blick stand. Sie dachte lange nach, bevor sie kopfschüttelnd sagte: »Sie haben mit dem Alten gesprochen.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Demuth.
»Er hat die Anna immer in Schutz genommen. Ich weiß nicht, warum. Sie allein war schuld daran, dass der Rochus damals davongelaufen ist.«
»Soweit ich weiß, sieht Ihr Schwiegervater das anders.«
»Wie kann man das anders sehen? Wäre die Anna nicht gewesen, dann müsste der Alte sich nicht um seinen Sohn grämen. Und ich müsste nicht seit mehr als zwanzig Jahren das Leben einer armen Witwe führen.«
»Ihr Mann hat sich damals dafür entschieden, seinen Vater und Sie und die Kinder zu verlassen. Dafür können Sie doch nicht die Anna Hasenleder verantwortlich machen.«
»Sie war eine Hexe. Sie hatte den Rochus mit einem Zauber belegt. Er konnte nur noch das tun, was sie wollte.«
Demuth winkte ab. Über dergleichen Unfug wollte er nicht diskutieren.
»Wo waren Sie am Donnerstagmorgen?«, fragte er.
»In der Kirche«, behauptete Gertrude Terhuven.
Demuth schickte sie zurück in die Küche und bat ihre Tochter Henriette in die Kammer des alten Terhuven.
Als die junge Frau sich auf die Bettkante gesetzt hatte, sagte Demuth zu ihr: »Ihre Mutter macht die tote Anna dafür verantwortlich, dass sie seit über zwanzig Jahren das Leben einer armen Witwe führen muss.«
»Ich weiß.«
»Ist sie tatsächlich eine arme Frau?«
»Nein«, sagte Henriette, ohne zu zögern. »Ich weiß nicht, ob ihr Leben mit einem Ehemann einfacher gewesen wäre. Einen Grund, sich zu beklagen, hat sie jedenfalls nicht. Bis vor ein paar Jahren war mein Großvater noch ein kräftiger Mann und ein tüchtiger Bauer. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir irgendwann mal nicht satt geworden wären, als wir noch Kinder waren, der Arnold und ich. Inzwischen lassen die Kräfte des alten Mannes zwar nach, aber wenn meine Mutter ihn auf dem Feld und im Stall unterstützt, dann kommen die beiden immer noch gut klar.«
»In diesem Jahr auch?«, fragte Demuth überrascht.
»Nein«, sagte Henriette. »In diesem Jahr ist alles anders. Das wissen Sie doch. Niemand kann genug ernten, um satt zu werden. Und nur wenige Menschen können sich die Lebensmittel leisten, die auf den Märkten angeboten werden.«
»Sie arbeiten in der gräflichen Küche?«
Henriette nickte.
»Ich nehme an, da sieht das anders aus. Im Schloss weiß man nicht, was Hunger ist.«
»Natürlich nicht.«
»Auch das Personal des Grafen nicht?«
»Alle, die im Schloss leben und arbeiten, haben genug zu essen«, sagte Henriette. »Es kommt so viel auf den Tisch, dass von fast allen Mahlzeiten etwas übrigbleibt.«
»Und was geschieht damit?«, fragte Demuth.
»Das wird wieder in den Vorratskeller oder in die Speisekammer geräumt. Es sei denn, es ist verderblich. Dann bleibt es in der Küche. Und weil niemand will, dass etwas weggeworfen wird, habe ich in den letzten Wochen so manche Schüssel mit Gemüse oder mit einer Suppe hierherbringen können, zu meinem Großvater und zu meiner Mutter. Sie hat keinen Grund, sich zu beklagen, nicht einmal in diesen schlechten Zeiten.«
»Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Mutter die Anna Hasenleder getötet hat?«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Und mein Bruder Arnold, der war es auch nicht. Es ist wahr, dass er ein Tunichtgut ist und dass er aufrührerische Ideen hat. Er wäre gern ein Rebell oder ein Räuberhauptmann wie der Schinderhannes. Aber sein Mut reicht nur für ein paar kleine Gaunereien. Zu einem Mord ist er ganz sicher nicht fähig.«
»Und Sie, wie haben Sie zur Anna Hasenleder gestanden?«
»Ich habe die Anna immer gemocht, auch wenn meine Mutter das nicht verstehen konnte. Für mich war sie die freundliche Tante meiner besten Freundin Dina Becker.«
Auf Anton Demuths Frage, ob es im Hause einen Regenschirm gäbe, den der Herr Gendarm und er eventuell ausleihen könnten, antworteten die Mitglieder der Familie Terhuven mit Gelächter.
»Wir gehören zu den Lebewesen, die nass werden, wenn es regnet«, sagte Arnold belustigt.
Sein Großvater fügte hinzu: »Es lässt sich nicht gut auf dem Feld arbeiten mit einem Regenschirm in der Hand. So ein Ding hat kein Bauer hier in der Gegend, Herr Kriminalrichter.«
»Meine Schwester Helena, die besitzt einen Regenschirm«, sagte Gertrude. »Den nehmen wir bei schlechtem Wetter mit zur Kirche. Es ist nämlich sehr unangenehm, eine Stunde lang durchnässt in der Messe zu sitzen.«
»Es hört gerade auf zu regnen«, sagte Schmitting, der am Küchenfenster stand und nach draußen schaute.
»Ich habe mir schon gedacht, dass es nicht lange so gießen würde«, sagte Fürchtegott. »Solche Wolkenbrüche ziehen schnell weiter. In den nächsten Stunden wird es trocken bleiben.«
Demuth bedankte sich bei den Terhuvens. Es sei sehr hilfreich für ihn gewesen, dass sie so geduldig all seine Fragen beantwortet hätten, sagte er, bevor er zusammen mit Schmitting das Haus verließ. Die beiden Männer gingen zügig in Richtung Posthaus. Der Wetterprognose des Alten trauten sie nicht so recht.
»War das ein aufrichtiges Dankeschön?«, fragte Schmitting unterwegs.
»Was meinen Sie?«
»Sie haben sich bei den Terhuvens für ihre Hilfe bedankt. Ich habe nicht bemerkt, dass der Arnold oder seine Mutter besonders entgegenkommend waren. Deshalb hat mich das überrascht.«
»Mit Freundlichkeit macht man sich die Menschen gewogen«, sagte Demuth. »Wer weiß schon, ob ich während der weiteren Untersuchungen nicht noch mal die Unterstützung der Terhuvens brauche? Außerdem haben Gertrude und ihre beiden Kinder letztlich alle Fragen beantwortet, die ich ihnen gestellt habe. Und vom alten Fürchtegott habe ich schon viel erfahren über die Menschen hier an der Emscher. Ich finde nicht, dass mein Dank unangemessen war.«
»Haben die Antworten, die Sie bekommen haben, Ihnen denn weitergeholfen?«
»Ich denke schon. Es ist bei jeder kriminalen Untersuchung ein Fortschritt, wenn man Verdächtige ausschließen kann. Je weniger übrig bleiben, desto näher kommt man dem Täter.«
»Die Terhuvens gehören jetzt nicht mehr zu Ihren Verdächtigen?«
»Der alte Fürchtegott und die Henriette haben nie dazugehört, und der Arnold ist jetzt auch nicht mehr auf meiner Liste. Er ist zwar ein Tunichtgut, und er hat einen Hang zu revolutionären Ideen, aber letztendlich ist er nur ein kleiner Gauner. Annas Mörder ist er nicht.«
»Da sind Sie sich so sicher nach einem Gespräch, das nicht mal eine halbe Stunde gedauert hat?
»Er hatte keinen Grund, ihr etwas anzutun. Ihr Tod bringt ihm nicht den kleinsten Vorteil. Und einer von den Menschen, die etwas gegen die Anna hatten, ist er auch nicht.«
»Und was ist mit Gertrude Terhuven?«
»Die gehört weiterhin zu meinen Verdächtigen. Sie hat die Anna wirklich gehasst.«
»Haben Sie sie mit Ihrem Verdacht konfrontiert?«
»Ja, das hab ich. Sie bestreitet, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hätte, und behauptet, am Donnerstagmorgen in der Frühmesse gewesen zu sein.«
»Man könnte den Priester fragen, der die Messe gelesen hat. Vielleicht erinnert er sich an Gertrude Terhuven.«
»Wenn er das nicht tut, ist das leider kein Beweis dafür, dass sie nicht in der Kirche war«, wandte Demuth ein.
»Aber wenn er sich an die Gertrude erinnert, dann können Sie die auch von Ihrer Liste streichen.«
»Da haben Sie recht«, gab Demuth zu.
»Wer gehört sonst noch zu den Verdächtigen?«, fragte der Gendarm.
»Gertrudes Schwester Helena. Vielleicht auch deren Mann, der Paul. Der sagt kein Wort und starrt Löcher in die Luft. Was von ihm zu halten ist, das kann ich nicht abschätzen.«
»Was ist mit den Puppenspielern?«, fragte Schmitting.
»Es gibt kein Motiv. Die drei Tendlers haben die Anna gemocht. Sie haben eine Freundin verloren und sind sehr traurig darüber.«
»Und wenn es doch ein Fremder war, irgendein Vagabund, der zufällig vorbeigekommen ist, die Frau beim Wasserholen beobachtet hat und dabei erst auf die Idee gekommen ist, sie zu überfallen?«
Demuth schüttelte den Kopf.
»Ich habe, seitdem ich hier bin, nicht einen Wanderer und nicht ein fremdes Fuhrwerk auf dem Emscherweg gesehen. Es gibt keine Kampfspuren, und der Anna wurde nichts gestohlen. Sie kannte ihren Mörder und hat ihn so nah an sich herangelassen, dass er zuschlagen konnte. Nein, es war kein Fremder.«
»Trotzdem muss es niemand von hier gewesen sein«, sagte Schmitting. »Die Anna war mit ihren Kräutern ringsum auf den Märkten unterwegs. Vielleicht hat sie jemanden in Essen oder in Duisburg kennengelernt, einen Menschen, mit dem sie sich angefreundet hat. Der hat sie hin und wieder hier besucht, und irgendwann ist es zum Streit gekommen.«
»Und dann hat der neue Freund oder die neue Freundin gleich zum Knüppel gegriffen?«
»Ich gebe zu, das ist nicht sehr wahrscheinlich«, sagte der Gendarm.
»Hätte die Anna in letzter Zeit Besuch von einem Fremden gehabt, dann hätten das hier ein paar Leute mitbekommen. Und irgendjemand hätte es uns gesagt. Auf jeden Fall hätte die Dina es gewusst und erzählt.«
Schmitting nickte.
»Die Poststation und das Herrenhaus«, sagte er nach einer Weile.
»Was ist damit?«, fragte Demuth.
»Ich überlege, ob wir bei den Menschen, die da leben und arbeiten, vielleicht etwas übersehen haben.«
»Ein Mordmotiv?«
Schmitting zuckte mit den Schultern.
»Sie kennen die Leute hier seit Jahren, Schmitting. Und ich habe an den vergangenen Tagen mit Freunden und Feinden von Anna Hasenleder geredet. Was sollte das für ein Mysterium sein, das uns dabei verborgen geblieben ist?«
»Wahrscheinlich gibt es keins«, sagte der Gendarm und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Dann bleiben tatsächlich nicht mehr viele Verdächtige übrig. Was ist mit dem seltsamen Herrn aus Bayern? Haben Sie den noch auf Ihrer Liste?«
»Ganz oben«, antwortete Demuth.
In diesem Augenblick fing es wieder an zu regnen. Die letzten Schritte zum Posthaus legten die beiden Männer im Laufschritt zurück.
Als kurz darauf der Mantel des Kriminalrichters und das Cape, das Schmitting sich gelegentlich umhängte, um seine lindgrüne Uniformjacke vor Nässe zu schützen, an zwei Kleiderhaken neben der Tür der Gaststube hingen, als die beiden Männer sich am Tisch neben dem Fenster gegenübersaßen und Krumpe ihnen zwei Krüge Bier gebracht hatte, informierte Demuth den Gendarmen zunächst über den Obduktionsbericht vom Professor Günther.
»Also ist die Anna Hasenleder genau so ums Leben gekommen, wie wir es uns schon nach der ersten Begutachtung des Leichnams und des Tatortes gedacht hatten«, fasste Schmitting zusammen.
»So ist es.« Demuth trank einen Schluck Bier.
Auf die Frage Schmittings, warum Sumser ganz oben auf seiner Liste stehe, antwortete Demuth: »Weil unser Opfer etwas besaß, was dieser Mensch fabriziert hat.«
Der Gendarm sah ihn ratlos an. Erst als Demuth ihm die Geschichte erzählt hatte, beginnend mit der Spieldose, die Augustin Sumser ihm am Emscherufer vorgeführt hatte, und endend mit dem mechanischen Musikgerät, das er in Annas Truhe gefunden hatte, begriff Schmitting allmählich, warum der Herr aus Bayern auf der Liste der Verdächtigen an die erste Stelle gerückt war.
»Also hat er Anna Hasenleder gekannt«, schlussfolgerte er.
»Dina Becker behauptet, das sei nicht so gewesen«, entgegnete Demuth. »Sie sagt, der Graf habe der Anna die Spieldose als Dank für die Heilung eines Kindes geschenkt. Zuvor sei sie jahrelang im Besitz der Gräfin Friederike gewesen.«
Während Schmitting Bier trank und ein sehr nachdenkliches Gesicht machte, stand Demuth auf, ging zu seinem Mantel, holte die Spieldose aus der Innentasche, ging zurück zu seinem Platz und stellte das Holzkistchen vor Schmitting auf den Tisch.
Er öffnete es, legte den Hebel um, und es erklang wieder die liebliche Melodie, die Demuth schon in Annas Küche gehört hatte. Schmitting sah mit großen Augen in das Kästchen hinein, betrachtete die sich drehende Walze und beobachtete, wie ihre Erhebungen die Zinken des Kammes anschlugen und so die zarte, feine Musik erzeugten.
»Wundervoll«, war das einzige Wort, das der Gendarm hervorbrachte.
Der Postmeister Krumpe kam vom Schanktisch herüber und lauschte und schaute mit offenem Mund. Kurz darauf standen auch Grete und ihre Magd Trudi neben dem Tisch und starrten schweigend das kleine mechanische Wunderwerk an.
»Da habe ich also richtig gehört«, sagte jemand hinter Demuths Rücken.
Es war Augustin Sumser.
»Was haben Sie richtig gehört?«, fragte Schmitting, und seine Stimme klang nach den zarten Tönen der Spieldose so laut und dröhnend, dass selbst Demuth erschrocken zusammenfuhr.
»Es war tatsächlich meine Musik, die ich plötzlich in den Ohren hatte.« Sumser betrachtete, ungläubig den Kopf schüttelnd, das Holzkästchen auf dem Tisch.
»Diese leise Melodie, die haben Sie oben in Ihrer Kammer gehört?«, fragte Demuth ihn erstaunt.
»Nein, nebenan im Flur. Ich kam gerade vom Abtritt zurück.«
»Sie geben zu, dass Sie dieses Instrument hergestellt haben?«, fragte Schmitting laut.
»Das lässt sich wohl nicht leugnen«, sagte Sumser freundlich.
Während Friedrich Krumpe zurück zum Schanktisch schlurfte und seine Frau Margarete und Trudi wieder in der Küche verschwanden, forderte Demuth den Herrn aus Bayern auf, sich zu ihm und Schmitting an den Tisch zu setzen.
»Woher haben Sie die?«, fragte Sumser, als er Platz genommen hatte. Er streichelte mit den Fingerspitzen sanft über das Ahornholz der Spieldose.
»Was denken Sie, woher sie ist?«, fragte Demuth zurück.
»Ich nehme an, aus dem Herrenhaus.«
»Nein, ich habe sie in der Küche der toten Anna Hasenleder gefunden.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Sumser und lächelte.
Anton Demuth empfand dieses Lächeln als ganz und gar unangemessen und verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, es diesem stets fröhlichen Herrn aus Bayern auszutreiben.
»Es sieht nicht gut für Sie aus, Herr Sumser«, sagte er langsam und sehr nachdrücklich. »Sie haben immer behauptet, ganz zufällig hier an der Emscher zu sein, keine Beziehung zu diesem Ort und den Menschen zu haben, selbstverständlich auch die Tote nicht gekannt zu haben. Das klang bisher schon alles höchst unglaubwürdig, jetzt hat es sich als gänzlich unwahr erwiesen. Das Mordopfer war im Besitz eines von Ihnen fabrizierten mechanischen Musikinstrumentes. Es wäre gut für Sie, wenn Sie dafür eine Erklärung liefern könnten.«
»Das kann ich aber nicht«, sagte Sumser. »Fragen Sie im Herrenhaus nach! Die Spieldose muss irgendwie von dort in die Küche dieser Frau gelangt sein.«
Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
»Warum sind Sie so überzeugt davon, dass dieses Instrument aus dem Schloss stammt? Wie könnte es dahin gekommen sein? Sie sind angeblich noch nie in dieser Gegend gewesen. Und Oberhausen ist weit weg vom Königreich Bayern.«
»Das ist nicht so einfach zu erklären«, sagte Augustin Sumser so leise, als spräche er mit sich selbst.
»Ich glaube, wir haben ausreichend Gründe, Sie nach Werden ins Zuchthaus zu bringen«, sagte Schmitting ziemlich laut.
»Jetzt machen Sie mal langsam, meine Herren!«
Sumser lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er ließ sich vom Posthalter einen Krug Bier bringen und fragte die beiden Vertreter der preußischen Obrigkeit, die ihn erwartungsvoll ansahen, ob sie willens seien, sich eine etwas längere Geschichte anzuhören.
»Wenn es der Wahrheitsfindung dient«, sagte Schmitting. Demuth nickte zustimmend, und der Mann aus Bayern begann zu erzählen: »Als meine Mutter mich zwischen Karwendel und Wetterstein, beim Orte Mittenwald, zur Welt brachte, war mein Vater gerade beim Wildern erschossen worden.«
»Ach was«, sagte Demuth bestürzt.
Er kannte Lebensgeschichten, die sich mit der Zeit zu Tragödien entwickelten, aber Sumser hatte gerade mal einen Satz vorgetragen und doch schon ein verstörendes Drama heraufbeschworen. Auch der folgende Akt war erschütternd.
Als er vier Jahre alt war, so berichtete Augustin Sumser, wurde seine Mutter auf der Straße von Partenkirchen nach Mittenwald von einem Fuhrwerk überrollt, dessen Pferde durchgegangen waren. Sie starb noch am selben Abend.
Er sei daraufhin in die Obhut eines Bruders seiner Mutter gekommen, erzählte Sumser. Das war der Pfarrer Knöpfle zu Wasserburg am Bodensee, ein freundlicher Mann, der dem kleinen Augustin das Abc und das Einmaleins beibrachte und noch manches andere, was man so brauchte, um für einen gebildeten Menschen gehalten zu werden. Mit vierzehn wusste er in Geometrie und in Geschichte Bescheid, sprach Französisch und ein wenig Latein, war mit den wichtigsten Lehrsätzen der Theologie vertraut und hatte auf der Kirchenorgel das Musizieren erlernt.
Der Onkel vermittelte ihn zum fürstbischöflichen Seminar nach Merseburg, wo Augustin in den folgenden zwei Jahren seine Kenntnisse vertiefte und sein Wissen erweiterte.
Als man ihm die Nachricht überbrachte, dass sein guter Onkel, der Pfarrer Knöpfle zu Wasserburg, in seinem fünfzigsten Jahr an einem Schlagfluss gestorben sei, hielt Augustin nichts mehr in Merseburg. Dass aus ihm ein geistlicher Herr werden sollte, war gewiss der stille Wunsch des Onkels gewesen, aber nie der seine. Er hatte andere Pläne. Er ging zurück in die Gegend, in der er seine früheste Kindheit verbracht hatte. Mittenwald war seit uralten Zeiten der Ort der Geigenbauer, und einer von ihnen wollte Augustin nun werden. Der angesehene Meister Tiefenbrunner erklärte sich bereit, ihn während der nächsten drei Jahre in die Lehre zu nehmen und ihm Wohnung und Verpflegung zu geben. Dafür zahlte Augustin ihm fünfundzwanzig Gulden Lehrgeld im Voraus, was ihm möglich war, weil die Mutter und der Onkel ihm ein kleines Erbe hinterlassen hatten.
»Das waren glückliche Jahre in Mittenwald«, erzählte Sumser. »Ich lernte mit großer Freude alles über den Geigenbau, und gegen Ende der Lehrzeit begegnete ich dann einer jungen englischen Lady, die zusammen mit ihrer Zofe die Gegend bereiste. Sie besaß ein Instrument, das mir bis dahin gänzlich unbekannt gewesen war, eine mechanische Spieldose.«
Augustin verliebte sich in beide, in die Lady und in ihr Musikgerät. Das brachte ganz zarte silbrige Töne hervor, Klänge, die ihn betörten. Er wusste sofort, dass er in Zukunft keine Geigen mehr bauen wollte, sondern nur noch solche wunderbar klingenden mechanischen Instrumente.
Die Lady reiste bald wieder ab, ließ dem jungen Geigenbauer aber ihre Spieldose als Geschenk zurück. Der baute sie auseinander und wieder zusammen, baute sie nach, baute eine zweite, verfeinerte ihren Klang, probierte verschiedene Holzarten aus, veränderte mehrmals die Form des Kästchens und verbesserte die Mechanik der Walze und hatte es bald zur Meisterschaft im Bau von mechanischen Musikinstrumenten gebracht.
Nun hielt er die Zeit für gekommen, einen Lebenstraum zu verwirklichen, den er mit sich herumtrug, seitdem er als Knabe einmal mit seinem Onkel die Reichsstadt Lindau besucht hatte. In diesem wunderschönen Städtchen am Bodensee, so hatte er damals beschlossen, wollte er eines Tages leben.
Er mietete eine Wohnung in einer der hübschen alten Gassen von Lindau, fand einen geschickten Uhrmacher, der ihm die feinen Federn für die Mechanik der Walze fertigte, und baute ein wunderhübsch klingendes Gerät nach dem anderen. Schon bald hatte sein Ruf sich in der Stadt verbreitet, und es galt unter den wohlhabenden Bürgern als schick, eines seiner mechanischen Instrumente zu besitzen, und so dauerte es nicht lange, bis er selbst ein wohlhabender Bürger geworden war.
Auch im adligen Frauenstift hatte man von seinen Spieldosen gehört. Er führte sie den jungen Damen vor, und die waren erwartungsgemäß begeistert.
»Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Musikinstrumente ich damals im Lindauer Stift verkauft habe«, sagte Sumser, »es waren wohl zwei oder drei. Eines jedenfalls kaufte die junge Fürstäbtissin persönlich, eine natürliche Tochter des Kurfürsten von Bayern und der Pfalz, eine gewisse Friederike von Bretzenheim.«
»Unsere Gräfin von Westerholt?«, fragte Schmitting erstaunt.
»Ja«, sagte Sumser. »Sie war damals die blutjunge Fürstäbtissin von Lindau, und später heiratete sie den Grafen Maximilian Friedrich von und zu Westerholt-Gysenberg.«
»Das erklärt in der Tat, wie die Spieldose an die Emscher gekommen ist«, gab Demuth zu. »Aber warum Sie hier sind, Herr Sumser, das weiß ich immer noch nicht.«
»Das sagte ich Ihnen doch schon vor ein paar Tagen. Ich bin während meiner Handlungsreisen zufällig in diesem Posthaus gelandet.«
»Und warum sind Sie jetzt schon seit über einer Woche hier?«
»Da ich nun schon mal in dieser schönen Gegend war, wollte ich mich hier ein wenig umschauen.«
»Herr Sumser, dass das vollkommen unglaubwürdig ist, das wissen Sie doch selbst.« Demuth schüttelte missmutig den Kopf. »Es gibt kaum einen anderen Ort im ganzen Rheinland, an dem es so wenig zu schauen gibt wie hier an der Emscher rings um diese einsam gelegene Poststation. Na gut, das neue Herrenhaus ist ein sehenswertes Gebäude, das gebe ich zu. Aber nachdem man es einmal umrundet hat, kann man dann auch getrost weiterreisen.«
Sumser zog die Schultern hoch und schwieg.
»Solange ich den wahren Grund für Ihren Aufenthalt hier nicht kenne, bleiben Sie für mich ein Verdächtiger«, sagte Demuth unwirsch. »Ich fordere Sie auf, sich zur Verfügung zu halten und nicht weiterzureisen, bis die Untersuchungen zum Tod von Anna Hasenleder abgeschlossen sind.«
Der Gendarm hatte sich verabschiedet, und Demuth war, immer noch ärgerlich, hinaufgestapft in seine Schlafkammer. Das konnte er nicht gut ertragen, dass dieser Mensch aus Bayern ihn so unverfroren anlog. Er logiere im Posthaus, weil er hoffe, hier Kunden für seine mechanischen Musikinstrumente zu finden, hatte er vor ein paar Tagen behauptet, und jetzt war es gar die Schönheit der Gegend, die ihn angeblich schon seit mehr als einer Woche hier festhielt.
Ein dummer Junge mochte solche Phantastereien als Tatsachen hinnehmen, aber nicht er, der Kriminalrichter Anton Demuth. Dieser Sumser würde schon sehen, was er davon hatte, ihn so dreist zu belügen. Vorläufig jedenfalls würde er hier nicht wegkommen. Den Posthalter hatte Demuth bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass es dem Herrn Augustin Sumser aus dem Königreich Bayern bis auf weiteres untersagt sei, sein Logis in der Poststation aufzukündigen und die Weiterreise anzutreten.
Demuth ließ sich aufs Bett fallen. Es war nicht gut, sich so aufzuregen. Das führte zu nichts und schadete vermutlich auch noch der Gesundheit. Er versuchte, den unverschämten Menschen aus seinem Kopf zu vertreiben, indem er seine Gedanken auf allerlei Erbauliches und Erfreuliches richtete. Eine Weile beschäftigte er sich mit der Frage, ob er mit der ständigen Zurückweisung von Klärchen Stüber nicht doch einen Fehler machte. Er rief sich ihre zweideutigen Bemerkungen in Erinnerung, und tatsächlich hätte jede einzelne von ihnen ausgereicht, um Augustin Sumser aus seinem Kopf zu vertreiben, aber um die Wallungen seines Blutes ein wenig zu dämpfen, taugten die Gedanken an Klärchen Stüber nicht. Er dachte an seine Tochter Susanna und ihren morgendlichen Auftritt auf dem Gerichtsflur in Werden. Es hatte ihm nicht gefallen, dass sie ihn für einen hilflosen alten Mann hielt, aber zugleich hatte es ihn beglückt, dass sie sich so liebevoll um ihn sorgte. Seine Enkeltöchter hätten Sehnsucht nach ihm, hatte Susanna gesagt. Bei dem Gedanken an die beiden liebreizenden Mädchen wurde ihm warm ums Herz. Er hörte den Regen auf dem Dach des Posthauses, ein regelmäßiges sanftes Rauschen, und schlief ein.
Als er wieder wach wurde, fühlte er sich erholt und unternehmungslustig und freute sich auf den bevorstehenden Abend mit seinem alten Schulfreund Jacob Troost. Die Kanne auf der Kommode war voll mit frischem Wasser. Er schüttete etwas davon in die Waschschüssel und machte sich frisch. Dann ging er hinunter in die Gaststube.
In der hinteren Ecke saßen zwei Männer und redeten leise miteinander. Dabei tranken sie Bier.
Demuth setzte sich auf den Platz am Fenster. Krumpe kam an seinen Tisch und raunte ihm zu: »Die Herren sind aus Mülheim. Ich glaube, sie haben etwas mit der Schifffahrt auf der Ruhr zu tun, jedenfalls sprechen sie dauernd darüber. Und sie machen Geschäfte mit der Hüttengewerkschaft. Deshalb müssen sie wohl ab und zu nach Sterkrade. Und auf dem Rückweg kehren sie dann jedes Mal hier ein. Es gäbe hier das beste Bier weit und breit, sagen sie immer.«
Demuth sah auf dem Platz vor dem Posthaus weder Pferd noch Kutsche.
»Sie sind zu Fuß?«, fragte er verblüfft.
»Nein, nein«, entgegnete Krumpe. »Der Johann versorgt ihre Tiere im Stall, solange sie hier in der Gaststube sitzen.«
Demuth fragte den Posthalter, ob es noch etwas anderes zu essen gäbe als den Weizenbrei, den er ihm bei seiner Ankunft am Mittag angeboten habe.
»Das nicht«, sagte Krumpe, »aber die Grete hat ein Stück Speck ausgelassen. Ein paar Löffel davon verwandeln jede Getreidegrütze in ein schmackhaftes Essen.«
Demuth war skeptisch, dennoch bat er um eine Portion. Der Postmeister hatte nicht zu viel versprochen. Margarete Krumpes Weizenbrei mit ausgelassenem Speck war ein durchaus genießbares Essen. Als Demuth seine Schüssel geleert hatte, wollte Krumpe ihm einen Krug Bier bringen.
»Ich warte noch auf den Jacob Troost«, sagte Demuth. »Wenn ich jetzt schon anfange zu trinken, dann kriege ich zu schnell einen Rausch. Ich nehme lieber gleich zusammen mit ihm das erste Bier.«
»Ganz wie Sie wünschen, Herr Kriminalrichter.« Krumpe räumte die Schüssel vom Tisch und trug sie in die Küche.
Demuth musste nicht lange auf den Freund warten. Er kam ohne Eile über den Vorplatz auf das Posthaus zu, einen aufgespannten Regenschirm in der einen, seinen Gehstock in der anderen Hand. Er sah Demuth hinter dem Fenster sitzen und nickte ihm fröhlich zu.
In der Gaststube hängte er seinen Mantel an einen Haken und stellte den offenen Schirm auf die Holzdielen neben dem Kachelofen, in dem auch an diesem frühen Montagabend wieder kein wärmendes Feuer brannte.
»Da sehen wir uns also tatsächlich schon wieder«, sagte Jacob Troost lachend.
Sie schüttelten einander die Hände.
»Wir haben uns viel zu lange viel zu selten gesehen«, stellte Demuth fest, während Troost sich setzte. »Es wäre schön, wenn sich das ändern würde.«
Friedrich Krumpe brachte ihnen zwei Krüge Bier an den Tisch, und Jacob sagte: »An mir soll es nicht liegen.«
Er prostete Anton Demuth zu und fragte ihn: »Du warst zwischenzeitlich in Werden? Hast du deine Tochter und deine Enkelinnen gesehen?«
»Nur die Susanne heute Morgen. Für einen Besuch bei den Mädchen war die Zeit zu kurz. Den will ich aber so bald wie möglich nachholen. Mir fehlt etwas, wenn ich sie lange nicht sehe.«
»Ich hätte auch gern eine Familie gehabt«, sagte Troost und fügte achselzuckend hinzu: »Aber es sollte nicht sein.«
»Was heißt das? Die Mädchen mochten dich doch, viele jedenfalls.«
»Das heißt, dass ich hin und wieder verliebt war, dass aber nie was daraus geworden ist. Entweder wurde die Liebe nicht erwidert, oder der arme Dorfschullehrer war nicht gut genug für die Familie der Angebeteten. Und die, die ich am liebsten hatte, mit der ich schon verlobt war, die ist kurz vor der geplanten Hochzeit am Fieber gestorben.«
»Oje«, sagte Demuth betroffen. »Das tut mir leid.«
»Nun, ich habe ja meine Kinder.« Jacob Troost lächelte. »Für die bin ich der alte Papa Troost, und ich spüre, dass sie mich gernhaben. Darum will ich nicht klagen. Ich habe ein gutes Leben und einen Beruf, den ich immer noch mag. Hätte ich eine Familie gehabt, wäre manches schwieriger gewesen. Die Einkünfte eines Schullehrers sind immer noch dürftig. Ich hätte mich gewiss so manches Mal krummlegen müssen, um Frau und Kinder satt zu kriegen. So hatte ich immer genug, um zu leben, um hin und wieder ein Buch zu kaufen oder hierherzukommen und einen Krug Bier zu trinken.«
»Und eine Frau, die mit dir das Bett teilt, die hast du nie vermisst?«
»Nun ja, wie soll ich es sagen?« Troost schaute ein wenig verlegen an Demuth vorbei. »Da hat sich schon hin und wieder etwas ergeben. Es gab zum Beispiel die Frau, für deren Familie ich nicht gut genug war. Die hatte später einen sehr viel älteren Gatten und ein paar Kinder, die zu mir in die Schule kamen. Und da gab es dann öfter schon mal etwas zu besprechen zwischen dem Lehrer der Kinder und ihrer Mutter, am besten abends im Schulhaus in aller Ruhe.«
»Ach was«, sagte Demuth erstaunt.
Er überlegte kurz, ob er dem Freund von Klärchen Stüber erzählen sollte, kam aber, während er nach den passenden Worten suchte, zu dem Schluss, dass es eigentlich gar nichts über sie und ihn zu sagen gab.
Die beiden Männer, die am Tisch in der Ecke gesessen hatten, verließen grußlos die Gaststube. Vor dem Posthaus bestiegen sie mit Johanns Hilfe ihre Pferde und ritten in Richtung Emscherbrücke davon.
»Dein Vater hat sich immer gewünscht, dass Dorfschullehrer eines Tages Lehrer sein können, ohne zugleich Küster oder Schankwirt oder Bauer oder Barbier sein zu müssen. Weißt du das noch?«, fragte Troost, als die beiden Reiter aus ihrem Blickfeld verschwunden waren.
»Ich erinnere mich, dass er oft sehr erschöpft war, wenn er mit der Sense das Feld hinterm Schulhaus gemäht hatte oder wenn er spätabends aus dem Stall kam. Dann hat er geschimpft, er sei es leid, ein Bauer zu sein. Er wolle Kinder unterrichten und sonst nichts.«
»Lehrer müssen so gut bezahlt werden, dass sie einen anderen Broterwerb nicht mehr nötig haben, hat er immer gesagt. Vor allem für die Kinder hat er sich das gewünscht. Wenn aus ihnen tüchtige Erwachsene werden sollten, dann brauchten sie die ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung eines Lehrers und nicht nur einen kleinen Teil davon.«
»Hat sich denn seit den Zeiten meines Vaters etwas geändert?«, fragte Demuth.
»Ein wenig schon«, entgegnete Jacob Troost. »Bauer sein muss ich nicht mehr. Ein paar Hühner halte ich, und einen Gemüsegarten hab ich am Schulhaus. Der macht zwar ein bisschen Arbeit, aber die tu ich gern. Wenn es jemand im Dorf mit den Behörden oder der Justiz zu tun kriegt, dann setze ich die nötigen Schreiben auf. Anfragen, Einsprüche, Bittschriften, was gerade so anliegt. Dafür sind die Leute mir sehr dankbar. Ich sage ihnen immer, dass sie mir dafür nichts geben sollen, aber sie tun es trotzdem. Vor allem wenn ein Schriftstück zum Erfolg führt, dann kann auch schon mal ein ganzer Sack Kartoffeln dafür herausspringen. Außerdem spiele ich auch noch die Orgel in der Kirche. Das bringt beinahe so viel ein wie das Unterrichten. Und ich tu das alles gern, nichts davon ist so anstrengend wie die Arbeit eines Bauern, und es lässt sich alles gut miteinander vereinbaren.«
»Der Wunsch meines Vaters, dass ein Lehrer von seinem Beruf leben kann, hat sich also noch nicht erfüllt«, resümierte Demuth.
»Das stimmt. Die Zuwendungen der Gemeinde haben sich erhöht, und die Eltern zahlen die paar Pfennige Schulgeld ein wenig zuverlässiger als früher, aber das alles reicht noch längst nicht aus.«
»Macht die derzeitige Missernte dir sehr zu schaffen?«, fragte Demuth den Freund.
Troost schüttelte sofort den Kopf, dachte dann eine Weile nach und antwortete endlich: »Nun ja, im Garten ist nichts gewachsen. Und die Leute, für die ich Schriftstücke aufsetze, können mich nicht mit Naturalien bezahlen, wie sie es sonst tun. Aber ich bekomme mein Geld fürs Unterrichten und fürs Orgelspielen. Und etwas zurücklegen konnte ich mir im Lauf der Jahre auch. Ich kann auf den Märkten ringsum einkaufen. Das habe ich rechtzeitig getan, schon vor Wochen habe ich Bohnen und Linsen und einen Sack Roggen gekauft und eingelagert. Da waren die Preise noch erträglich. Also, im Vergleich zu den Tagelöhnern und zu denen, die von ihrer Landwirtschaft leben, geht es mir gut. Bisher habe ich jedenfalls immer genug zu essen gehabt. Und für ein Bier im Posthaus reicht es auch noch ab und zu.«
»Das freut mich«, sagte Demuth erleichtert. Er winkte dem Postmeister zu und streckte zwei Finger in die Höhe. Friedrich Krumpe stellte kurz darauf zwei volle Krüge auf den Tisch. Demuth prostete dem Freund zu. »Dazu möchte ich dich einladen. Ich hoffe, dagegen hast du nichts.«
»Nein, ganz und gar nicht«, sagte Jacob erfreut.
Als beide getrunken hatten und Demuth sich mit dem Handrücken den Mund abgewischt hatte, fragte er: »Hast du vorhin gesagt, die Sterkrader Bauern würden heute bereitwilliger das Schulgeld bezahlen? Wie ist das möglich? Ich weiß, dass der Vater früher schon immer über die säumigen Zahler geklagt hat.«
»In diesem schrecklichen Jahr ist natürlich alles wieder anders«, entgegnete Troost. »In den Bauernfamilien herrschen Not und Hunger. Viele können das Schulgeld für ihre Kinder zurzeit nicht aufbringen, aber grundsätzlich ist schon einiges besser geworden. Es ist den Volksschulen zugutegekommen, dass die Franzosen eine Weile das Sagen hatten. In den Jahren, in denen wir zum Großherzogtum Berg gehörten, war es hier ein bisschen so wie in Frankreich, wo nach der Revolution die Bildung des einfachen Volkes eine viel größere Rolle spielte als im Königreich Preußen. Auch hier, im Kanton Dinslaken, wurden Schulkommissare eingesetzt, deren Aufgabe es war, die Lehrmethoden zu beobachten und zu verbessern. Das hat die Qualität des Unterrichts durchaus gehoben. Die Behörden des Großherzogtums gingen auch gegen den schleppenden Schulbesuch vor. Wenn die Eltern ihre Kinder zu Hause hielten, weil sie Vieh hüten oder Feldarbeit verrichten sollten oder auch weil sie angeblich keine Kleider für die Schule hatten, dann sollte das nicht mehr hingenommen werden. Wir Lehrer wurden angehalten, Schulversäumnisse zu melden, und die Eltern wurden aufgefordert, ihre Kinder in die Schule zu schicken und das Schulgeld zu entrichten, anderenfalls hätten sie mit harten Strafen zu rechnen. Das hat dazu geführt, dass der Schulbesuch regelmäßiger und die Zahlungsmoral deutlich besser geworden ist.«
»Und das ist so geblieben?«, fragte Demuth skeptisch. »Die Franzosen sind seit drei Jahren weg. Deine Schule steht jetzt in der preußischen Provinz Jülich-Cleve-Berg.«
»Das ist mir nicht entgangen.« Troost lachte fröhlich und fügte nach einer nachdenklichen Pause ernst hinzu: »Die Schulverordnungen des Großherzogtums Berg sind nicht außer Kraft gesetzt worden. Es ist allerdings so, dass die preußischen Behörden kaum kontrollieren, ob sie eingehalten werden.«
Die Tür zur Gaststube wurde aufgestoßen. Augustin Sumser kam herein, lächelte Demuth zu, freundlich wie immer, und ging zu dem Tisch in der hinteren Ecke, an dem die beiden Männer aus Mülheim gesessen hatten.
»Einer deiner Verdächtigen?«, fragte Troost.
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast ihn angeschaut, als würdest du ihn gern aufs Schafott schicken.«
»Einer der letzten Verdächtigen, die mir geblieben sind«, sagte Demuth zerknirscht. »Außer ihm gibt es nur noch die Schwestern Gertrude Terhuven und Helena Kleinrogge. Sie haben die Anna gehasst.«
Der Postmeister brachte Sumser einen Krug Bier.
»Die Schwestern kenne ich beide«, sagte Troost. »Die Helena ist die Mutter von der Marie. Das Mädchen sitzt in der Schule neben dem Carl vom Holzfäller Hülsken. Ich glaube, der Junge ist verliebt in sie. Jedenfalls scharwenzelt er immer um sie herum. Die beiden gehören zur Gruppe meiner Großen, die demnächst ihr Abschlusszeugnis bekommen. Der Carl ist vierzehn, die Marie noch nicht ganz.«
»Ich bin den beiden schon begegnet«, sagte Demuth.
»Die Gertrude Terhuven kenne ich, weil ihre Kinder, der Arnold und die Henriette, auch meine Schüler waren«, fuhr Troost fort. »Außerdem sind beide Schwestern fleißige Kirchgängerinnen.«
»Sie behaupten, sie wären am Donnerstagmorgen, als die Anna Hasenleder getötet worden ist, in Sterkrade in der Frühmesse gewesen.«
»Das mag sein«, sagte Troost. »Wenn ich auf meiner Orgelbühne sitze, dann sehe ich nicht, wer alles da unten kniet und betet.«
»Du hast am Donnerstagmorgen die Orgel gespielt?«
»Ja, gewiss. Und der Pfarrer Grimberg selbst hat die Messe gelesen. Donnerstag war das Namensfest Mariä.«
»Ach was«, sagte Demuth und fügte eilig hinzu: »Ich würde ihn gern kennenlernen, den Herrn Pfarrer Grimberg.«
»Ich sage es ihm. Wenn er hört, dass der Sohn vom alten Lehrer Demuth ihn sprechen möchte, wird er gewiss Zeit haben.«
»Er hat meinen Vater noch kennengelernt?«
»Nein, aber er kennt die Geschichten, die über ihn erzählt werden. Wilhelm Grimberg ist ungefähr zu der Zeit nach Sterkrade versetzt worden, als auch ich zurück ins Dorf gekommen bin.«
»Ach ja, das hatte ich beinahe vergessen. Du warst ja zwischenzeitlich mal geflüchtet.«
Jacob Troost nickte zögerlich, so, als erinnere er sich nicht allzu gern.
»Das war tatsächlich eine Flucht. Ich wollte damals nur weg aus Sterkrade. Es war eine Qual, hier Lehrer zu sein. Ständig gab es Streit um die Schule. Sie wurde von der Bauernschaft unterhalten, aber die Äbtissinnen des Klosters mischten sich in alles ein, setzten von den Bauern ausgewählte Lehrer wieder ab und bestimmten eigene Kandidaten. Immer wieder musste sich die Regierung einschalten. Mal wies sie die eine Seite zurecht, mal die andere, aber das Zerwürfnis zwischen den Damen der Abtei und der Bauernschaft wurde immer tiefer. Auch an mir entzündete sich der Streit. Die Bauerngemeinde wollte mich, die Äbtissin hatte einen anderen Favoriten. Da bin ich nach Osterfeld geflüchtet, wo gerade ein Schullehrer gesucht wurde. Und das war gut so. In Sterkrade endeten die Auseinandersetzungen letztlich erst, als das Kloster im Zuge der Säkularisation aufgelöst wurde.«
Demuth erinnerte sich, dass auch sein Vater seinerzeit schon über die anmaßenden Einmischungen der adligen Fräuleins geklagt hatte.
»Bedauern die Leute im Dorf eigentlich, dass die Klosterfrauen nicht mehr da sind?«, fragte er Jacob Troost.
»Die Leute, die ihren Broterwerb in der Abtei hatten, die vermissen die Fräuleins gewiss. Ansonsten kenne ich niemanden, der ihnen nachweint.«
»Was ist eigentlich aus ihnen geworden? Weiß man das?«
»Äußerst wohlhabende Damen sind sie alle geworden«, antwortete Troost bissig. »Bei der Auflösung des Klosters wurde festgelegt, dass die Äbtissin eine jährliche Pension von fünfhundert Talern bekommt und die einfachen Fräuleins dreihundert. Das Geld zahlt die Domänenkasse in Dinslaken ihnen bis zu ihrem Lebensende.«
»Das ist sehr viel Geld. Damit lässt sich auch in schlechten Zeiten gut leben«, sagte Demuth nachdenklich.
Sumser, der anscheinend nur ein Bier zur Nacht hatte trinken wollen, verließ, freundlich grüßend, die Gaststube.
»Sind die Frauen alle in Sterkrade geblieben?«, fragte Demuth.
»Nein, nur eine, Theresia Grimberg, die Schwester unseres Pfarrers. Sie lebt jetzt bei ihrem Bruder im Haushalt, und sie ist eine wirklich gute Seele. Sie tut viel für die Schule, so als wolle sie die früheren Anmaßungen ihrer Äbtissinnen vergessen machen. Sie gibt immer wieder Geld für Material, das wir dringend brauchen, für Bücher zum Lesenlernen, für Griffel und Tafeln. Für die tüchtigsten Schüler haben wir sogar ab und zu Papier und Feder und Tinte. Und vorige Woche habe ich dank Theresias Unterstützung drei Exemplare eines Märchenbuches kaufen können. Meine großen Schüler, die Mädchen und auch die Jungs, sind ganz beeindruckt davon. Sogar die, die bisher wenig Lust am Lesen hatten, versuchen, die Geschichten zu entziffern.«
»Du sprichst von der Märchensammlung der Brüder Grimm?«, fragte Demuth.
»In der Tat. Kennst du sie?«
»Ja, ich lese zurzeit auch darin. Ich habe das Buch in der Kommode der toten Anna Hasenleder gefunden.«