Mittwoch, 18. September 1816
Anton Demuth hatte am Vorabend noch lange mit Augustin Sumser zusammengesessen. Der hatte allerlei zu erzählen gewusst aus seinem bunten Leben. Sogar dem großen Napoleon war er einmal persönlich begegnet, als er den Baron von Gravenreuth bei einer diplomatischen Mission als Sekretär begleitet hatte.
Krumpe hatte ihnen einen zweiten Krug Bier gebracht, und sie hatten nach einer Weile damit begonnen, über Gott und die Welt zu reden, über die große Politik und die kleinen Sorgen des Alltags, über die Juristerei und die Liebe, über die schweren Zeiten, die sie schon überstanden hatten, und über die, die sie gerade erlebten.
Später hatte Sumser vorgeschlagen, noch einen dritten Krug zu bestellen, aber Anton Demuth hatte dankend abgewinkt. Er war müde ins Bett gegangen, und kurz vorm Einschlafen war es ihm ganz absonderlich vorgekommen, dass er mit all seiner Erfahrung und Menschenkenntnis tatsächlich vor ein paar Stunden noch ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, dieser Mann von Welt, dieser freundliche Herr Sumser aus Bayern, könne etwas mit dem Tod von Anna Hasenleder zu tun haben.
Jetzt saß Demuth in der Gaststube auf seinem Platz am Fenster und frühstückte. Draußen wurden frische Pferde vor einen Postwagen gespannt, Gepäck wurde verstaut, und zwei Herren bestiegen die Kutsche. Einer von ihnen war Augustin Sumser. Bevor er im Wageninneren verschwand, drehte er sich noch einmal zum Posthaus um, sah Demuth hinter dem Fenster sitzen und schwenkte zum Abschied seinen Hut. Anton Demuth winkte zurück, bis die Pferde sich in Bewegung setzten und der Sechsspänner langsam in Richtung Emscherbrücke davonrollte.
Auch der Postmeister Krumpe sah der Kutsche nach. Er stand draußen, noch eine ganze Weile, dann schaute er auf seine Taschenuhr, nickte zufrieden und kam langsam zurück ins Haus. Seine Uniformjacke war zugeknöpft und spannte sich auch heute ganz bedenklich über seinem Bauch. Demuth fragte sich, wie es möglich war, dass in diesen schlechten Zeiten, in denen so viele Menschen nicht satt wurden, ein Mann mit einem solchen Fettwanst durch die Gegend lief. Margarete Krumpe hatte gestern Abend noch beklagt, wie schwierig es sei, auf den Märkten ringsum bezahlbare Lebensmittel in ausreichender Menge zu bekommen.
Der Posthalter verschwand für kurze Zeit in seinem Bureau, ging von dort in die Küche und sprach mit seiner Frau. Während Demuth die beiden reden hörte, kam ihm in den Sinn, dass vielleicht nicht Margaretes Kochkunst, sondern das Können des gräflichen Braumeisters die Ursache für Krumpes drallen Bauch war.
Trudi brachte ihm eine zweite Tasse Kaffee. Kurz darauf kam Friedrich Krumpe an seinen Tisch und fragte, ob er sich setzen dürfe. Seine Uniformjacke hatte er aufgeknöpft. Demuth bat ihn, Platz zu nehmen.
»Das war das erste Mal seit langem, dass die Personenpost nach Düsseldorf fahrplanmäßig abgefahren ist«, erklärte Krumpe gutgelaunt. »Die Wegeverhältnisse scheinen allmählich besser zu werden.«
»Den Eindruck habe ich auch«, sagte Demuth. »Als ich vorgestern von Werden hierhergefahren bin, waren die Straßen nicht mehr so schlammig wie vergangene Woche.«
»Die Grete und ich, wir hoffen sehr, dass der Postverkehr bald wieder störungsfrei läuft. Je mehr Wagen hier vorbeikommen, desto mehr Reisende kehren bei uns ein. In letzter Zeit hatten wir viel zu wenige Gäste.«
»Ich bin jetzt seit fast einer Woche hier, und mir scheint es so, als herrsche im Posthaus und drum herum immer ein ganz reger Betrieb«, entgegnete Demuth. »In der Gaststube hab ich jedenfalls selten mal allein gesessen, und bis zur Abreise vom jungen Herrn Heine waren drei der vier Gästezimmer oben belegt. Und heute Abend findet die nächste Aufführung des Marionettentheaters statt, da wird es hier bestimmt wieder richtig voll werden.«
»Das ist alles nicht verkehrt, Herr Justizrat. Aber waren hier schon mal mehr als zwei Tische gleichzeitig besetzt? Ja gut, am Abend nach dem Puppenspiel war das so, aber die Tendlers werden nicht mehr viele Vorstellungen geben, bevor sie weiterziehen. Und der Herr Heine ist weg, und der Herr Sumser hat sich gerade verabschiedet, und Sie werden gewiss auch abreisen, sobald Sie Anna Hasenleders Mörder gefunden haben.«
Demuth nickte und hoffte zugleich, Krumpe werde ihn nicht fragen, wie lange er vermutlich noch brauche, um den Fall aufzuklären.
Den Gefallen tat der Posthalter ihm nicht. Er formulierte die Frage zwar anders, aber er wollte eben doch genau das wissen, was Demuth selbst nicht wusste.
»Wie lange in etwa werden Sie denn voraussichtlich noch unser Gast sein?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Demuth, durchaus wissend, dass er gerade so resigniert klang, wie er sich fühlte.
Friedrich Krumpe ging darauf nicht ein. »Die Grete kann es einfach nicht lassen«, sagte er stattdessen. »Ich weiß, dass sie gestern mit Ihnen geredet hat und einmal mehr die Anna für alles Elend in der Welt verantwortlich gemacht hat. Mich ärgert sehr, dass sie diesen Unfug nicht für sich behalten kann. Solange Annas Mörder noch nicht gefasst ist, macht sie sich dadurch doch nur verdächtig.«
»Ich verdächtige sie nicht«, entgegnete Demuth, »aber ich verstehe nicht, dass die Grete so denkt. Sie ist doch keine dumme Person.«
»Nein, das ist sie nicht«, sagte ihr Ehegatte achselzuckend.
Demuth trank von seinem Kaffee. Der Postmeister schaute aus dem Fenster. Seine Frau redete in der Küche mit Trudi.
»Ist es wahr«, fragte Krumpe nach einer Weile, »dass die Anna bereits gestern in Duisburg beigesetzt worden ist?«
»Ja, das stimmt.«
»Das ist schade. Ich hätte sie gern auf ihrem letzten Weg begleitet«, sagte Krumpe und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Vermutlich wollte Pfarrer Grimberg sie nicht in Sterkrade bestatten.«
»Doch, das hätte er getan«, entgegnete Demuth. »Anna Hasenleder ist in Duisburg auf dem Friedhof beigesetzt worden, auf dem schon ihr Vater und andere Verwandte ihre letzte Ruhe gefunden haben. Ihre Nichte Dina hat das so gewollt.«
»Wenn ein Mensch diese Welt verlässt, den du lange gekannt hast, dann nimmt er immer etwas mit von dir«, sagte Friedrich Krumpe leise und zögerlich. Nach einer Pause fügte er sehr viel lauter die Frage hinzu: »Halten Sie das für möglich, Herr Justizrat?«
»Nein.«
»Nun ja, die Grete glaubt das. Jedenfalls hat sie das so gesagt, als sie gehört hat, dass die Anna jetzt unter der Erde liegt.«
»Und was ist der Margarete abhandengekommen?
»Sie meinen, was die Anna von ihr mitgenommen hat ins Jenseits? Das wird sich noch herausstellen. Die Grete sagt, das wisse man oft erst Wochen oder Monate nach dem Tod eines Menschen.«
»Vielleicht sollten Sie den Ansichten Ihrer Frau hin und wieder etwas energischer widersprechen«, schlug Demuth vor.
»Sie haben gut reden«, entgegnete Krumpe und sah wieder zum Fenster hinaus.
»Ach, schauen Sie, wer da kommt«, sagte er kurz darauf, »unser Pfarrer Grimberg aus Sterkrade. Will der zu Ihnen?«
»Ja, wir sind verabredet.«
Krumpe erhob sich hastig, eilte zur Haustür, hielt sie dem Pfarrer auf und führte ihn in die Gaststube. Wilhelm Grimberg setzte sich zu Demuth an den Tisch, trank eine Tasse Kaffee und redete über seine Sterkrader Schäfchen. Sie seien allesamt rechtschaffene Bauersleute, gottesfürchtig und leicht zu lenken, erzählte er. Weniger zugänglich seien sie hin und wieder in schlechten Zeiten, wenn sie nicht genug zu essen hätten oder wenn ihnen die Kinder wegstürben.
Dann falle es ihnen schon mal schwer, den Allmächtigen zu loben und zu preisen. In solchen Zeiten, also auch gerade jetzt, neigten manche braven Leute dazu, mit diesem unberechenbaren Gott zu hadern.
Er predige seinen Pfarrkindern immer wieder, dass ihr himmlischer Vater es gut mit ihnen meine. Die Prüfungen, die er ihnen auferlege, seien Meilensteine auf dem Weg zur ewigen Seligkeit. Die meisten seiner Schäfchen gäben sich Mühe, das zu verstehen, aber manche wendeten sich auch enttäuscht oder gar wütend von Gott ab.
»Zu welcher Sorte gehört denn Ihrer Meinung nach Helena Kleinrogge?«, fragte Demuth den Pfarrer.
»Sie macht Gott nicht für ihr Unglück verantwortlich. Also hat sie auch keinen Grund, mit ihm zu hadern.«
»Sie gibt einer Nachbarin die Schuld für alles Schreckliche, das in ihrem Leben passiert ist. Ist das besser, als gegen Gott zu zürnen?«
»Nein, gewiss nicht. Ich denke, dem Allmächtigen missfällt das eine ebenso wie das andere. Deshalb habe ich der Helena ja auch immer wieder ins Gewissen geredet.«
»Weiß sie von unserem geplanten Besuch?«, fragte Demuth.
»Nein. Sie wird überrascht sein, wenn wir beide zusammen vor ihrer Tür stehen. Ich denke, das verbessert unsere Aussichten, dass sie oder ihr Mann etwas ausplaudern, was bisher nicht über ihre Lippen gekommen ist.«
»Wollen wir es hoffen«, sagte Demuth.
Wenige Minuten später gingen der Pfarrer und der Kriminalrichter auf den heruntergekommenen Kotten der Kleinrogges zu.
»Herr des Himmels!«, sagte Wilhelm Grimberg bestürzt beim Anblick der Fassade mit den verwitterten Fachwerkbalken und dem herausgebrochenen Lehm. »Ich war schon lange nicht mehr hier. So schlimm hatte ich den Zustand des Hauses nicht in Erinnerung.«
Er klopfte gegen die Tür. Helena öffnete und starrte den Pfarrer und den Richter erschrocken an.
»Ist was mit Marie?«, fragte sie aufgeregt.
»Nein, nein, Helena, es ist alles in Ordnung. Wir wollen nur mit Ihnen und Ihrem Mann reden«, sagte Grimberg beschwichtigend.
»Ist das Mädchen in der Schule?«, fragte Helena Kleinrogge.
»Das nehme ich an«, antwortete der Pfarrer.
»Gott sei Dank!« Helena bekreuzigte sich. »Sie haben noch nie unangekündigt vor unserer Tür gestanden, Herr Pastor. Das hat mir einen Schrecken eingejagt.«
Grimberg ging einen Schritt auf sie zu, legte seine Hand auf ihren Arm und sagte schuldbewusst: »Es war nicht unsere Absicht, Ihnen Angst zu machen. Verzeihen Sie bitte!«
Sie nickte und bat die beiden Männer ins Haus.
Demuth hatte die Frau am Samstag zuletzt gesehen. Es kam ihm so vor, als sei sie in den vergangenen vier Tagen noch hagerer und verhärmter geworden, als lägen ihre Augen noch etwas tiefer, als seien die Falten in ihrem Gesicht noch zahlreicher geworden.
In der Küche sagte Grimberg zu ihr. »Sie haben Sorgen, Helena. Das sieht man Ihnen an.«
»Wie sollte ich keine Sorgen haben?«, entgegnete sie und deutete auf die Ofenbank, wo Paul Kleinrogge, wie am Samstag, im Halbdunkel saß und ins Leere starrte.
Der Pfarrer setzte sich neben ihn. Anton Demuth und Helena nahmen auf zwei Stühlen am großen Tisch in der Mitte des Raumes Platz.
»Paul, wie geht es Ihnen?«, fragte Wilhelm Grimberg.
Demuth stellte erstaunt fest, dass Kleinrogge auf die Ansprache reagierte. Über sein Gesicht glitt ein zaghaftes Lächeln. Es war unverkennbar, dass er sich über die Gegenwart Grimbergs freute.
»Warum sind Sie gekommen?«, fragte Helena.
Dabei schaute sie nicht Demuth an, sondern ihren Pfarrer.
»Der Herr Justizrat ist immer noch auf der Suche nach Anna Hasenleders Mörder«, antwortete Grimberg.
»Und was haben Sie damit zu tun?«
»Es könnte sein, dass eines meiner Pfarrkinder der Täter oder die Täterin ist. Mich erschreckt der Gedanke, dass dieser Mensch der irdischen Gerechtigkeit entkommen und jeden Sonntag unerkannt in meiner Kirche knien könnte. Deshalb unterstütze ich den Kriminalrichter.«
»Und warum kommen Sie ausgerechnet zu uns?«
»Das wissen Sie doch, Helena«, entgegnete Grimberg. »Sie haben die Anna für eine böse Frau gehalten, die ganz schreckliche Dinge angerichtet hat. Niemand hier in der Gegend hat Anna Hasenleder so sehr verabscheut wie Sie. Diesen Eindruck hat auch der Herr Justizrat während seiner Untersuchungen gewonnen.«
»So, hat er das?« Helena schaute Demuth kurz an, dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf und wandte sich wieder ihrem Pfarrer zu. »Ich verstehe den Herrn nicht. Er war am Freitag hier und hat lange mit mir gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass ich die Anna nicht umgebracht haben kann, weil ich an dem Morgen, an dem sie gestorben ist, zusammen mit meiner Schwester in Sterkrade in der Kirche war.«
»Ja, das weiß der Herr Demuth. Ich habe das natürlich bestätigt, dass Sie am Donnerstag in der Frühmesse waren.«
»Also, was wollen Sie dann?«
»Nun ja«, sagte Grimberg zögerlich. »Es könnte ja sein, dass Sie jemanden zum Mord an Anna Hasenleder angestiftet haben.«
»Angestiftet?«, fragte Helena verstört. Sie schien nicht zu verstehen, was der Pfarrer meinte.
»Es ist schon hin und wieder vorgekommen, dass ein Mann aus Liebe zu seiner Frau zum Mörder geworden ist«, erklärte Demuth.
»Aber Herr Justizrat, warum sagen Sie so etwas?«, fragte Helena empört. »Haben wir das nicht am Samstag schon besprochen, dass mein Mann nicht dazu fähig wäre, einen Menschen zu töten?«
»Doch, das haben wir.«
»Und nun? Sehen Sie ihn sich doch an. Haben Sie den Eindruck, dass sich an seinem Zustand irgendwas geändert hat?«
Demuth schüttelte den Kopf.
Grimberg legte eine Hand auf die Schulter des verstörten Mannes. »Paul, Sie müssen zurückkommen aus der Dunkelheit, in der Sie sich versteckt haben. Sie haben sich vom Leben abgewandt, weil Ihnen Ihr Kummer unerträglich geworden ist. Das verstehe ich zwar, aber Sie müssen sich zusammenreißen. Die Helena und die Marie, die brauchen Sie. Bitte, Paul, arbeiten Sie wieder, sorgen Sie für Ihre Frau und das Mädchen! Sprechen Sie wieder! Kommen Sie zurück ins Leben!«
Über Pauls Wangen liefen ein paar Tränen. Er wischte sie mit dem Handrücken weg und nickte zaghaft.
Grimberg erhob sich von der Ofenbank. »Wir werden jetzt gehen, aber ich werde in den nächsten Tagen ab und zu vorbeikommen und nach euch sehen.«
Er segnete Paul und Helena. Die beiden bekreuzigten sich.
Während der Pfarrer zur Tür ging, stand Demuth auf.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte er zu den Kleinrogges. Dann folgte er Wilhelm Grimberg nach draußen.
Die beiden Männer gingen schweigend über den Emscherweg, bis Grimberg nach einer Weile sagte: »Das hatte ich nicht geahnt, dass es so schlimm um Paul Kleinrogge steht. Ich hatte ihn seit der Beerdigung seines kleinen Sohnes nicht mehr gesehen. Es ist erschreckend, was in der Zwischenzeit aus ihm geworden ist. Ich glaube nicht, dass dieser Mann in der Lage wäre, einen Menschen umzubringen.«
»Nein, das wäre er ganz sicher nicht«, sagte Demuth.
In Höhe des Schlossparks kam ihnen ein Mann entgegen, ein sehr alter Mann, der sich, auf einen Stock gestützt, sehr langsam, Schritt für Schritt, vorwärtsbewegte.
Es war Fürchtegott Terhuven. Als er Grimberg und Demuth erkannte, blieb er stehen und lachte.
»Ein Diener Gottes und ein Staatsdiener Seite an Seite«, stellte er erheitert fest. »Haben Sie sich zusammengetan, um die Gauner der Gegend hinter Gitter zu bringen oder um ihnen zu verzeihen und sie zurückzuführen auf den Weg der Tugend?«
»Uneinsichtige Verbrecher schicken wir ins Gefängnis, und reuigen Sündern weisen wir den Weg zu Gott«, antwortete Grimberg freundlich.
»So sollte es sein.« Der Alte nickte dem Pfarrer und dem Kriminalrichter lächelnd zu.
»Ich bin überrascht, Ihnen hier zu begegnen, lieber Herr Terhuven. So weit von Ihrem Haus entfernt habe ich Sie schon sehr lange nicht mehr gesehen«, sagte Grimberg.
»Das liegt vermutlich daran, Hochwürden, dass Sie so selten hier an der Emscher sind. Wenn das Wetter es zulässt und die alten Knochen nicht schon beim Aufstehen schmerzen, dann spaziere ich nämlich ganz gerne schon mal bis zur Landstraße und wieder zurück. Das schaffe ich noch gut, wenn ich mich auf meinen Stock stütze und langsam gehe und wenn ich im Posthaus eine Pause machen und ein Bier trinken kann.«
»Das freut mich für Sie, Herr Terhuven«, sagte Grimberg. »Wie alt sind Sie inzwischen?«
»Das weiß ich nicht so genau, über achtzig auf jeden Fall.«
»Ein wahrhaft biblisches Alter«, stellte Pfarrer Grimberg fest.
Fürchtegott Terhuven wendete sich Anton Demuth zu. »Und Sie, Herr Untersuchungsrichter, Sie suchen jetzt zusammen mit unserem Herrn Pastor nach Annas Mörder?« Er lachte in sich hinein und fuhr fort: »Das wird Ihnen nichts nutzen. Jemanden, den es nicht gibt, finden Sie auch mit geistlichem Beistand nicht.«
»Aber was reden Sie denn da?« Wilhelm Grimberg schüttelte den Kopf.
»Gerade Sie sollten wissen, wovon ich spreche«, entgegnete der Alte dem Pfarrer. »Unser Herrgott selbst holt diejenigen zu sich, die er liebt, die zu gut sind für diese Welt. Er hat die Anna aus diesem irdischen Jammertal erlöst.«
»Aber der Allmächtige hat ihr gewiss nicht mit einem Knüppel gegen den Kopf geschlagen«, wandte Demuth ein.
»Wer weiß, wer weiß?«, sagte der Alte, lächelte Grimberg und Demuth zu und ging langsam, Schritt für Schritt, einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, seiner Wege.
Auf dem Platz vor der Poststation verabschiedete der Pfarrer sich und machte sich auf den Weg nach Sterkrade.
Anton Demuth ging mürrisch ins Haus. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Vielleicht fand er ja einen Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen, wenn er sich alle Begegnungen, Gespräche und Ereignisse der vergangenen Tage noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Er wollte sich auf seinen Platz am Fenster setzen und Trudi fragen, ob man ihm in der Küche noch einen Kaffee aufbrühen könne.
Doch als er die Gaststube betrat, musste er feststellen, dass ausgerechnet sein Tisch wieder einmal besetzt war.
»Ach was«, sagte er erstaunt. Die beiden Männer, die da einander gegenüber Platz genommen hatten, waren der Gendarm Schmitting und der Gerichtssekretär Rüter.
»Wir haben uns zufällig draußen vorm Haus getroffen«, erklärte Hubertus Rüter.
»Ich kam gerade auf dem Vorplatz an, als der Herr Sekretär dort von seinem Pferd stieg«, fügte Schmitting hinzu. »Da habe ich ihn natürlich angesprochen und ihn gefragt, woher er komme und wohin er wolle.«
»Und dann haben Sie festgestellt, dass Sie beide zu mir wollten?«, fragte Demuth, während er sich setzte.
Der Gendarm und der Gerichtssekretär nickten.
»Und was treibt Sie heute hierher?«
»Der Herr von Broich hat mich gebeten, Sie zu unterstützen. Aber es war auch mein Wunsch, hierherzukommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht und wie Sie vorankommen«, sagte Rüter.
»Ich wollte mich erkundigen, ob ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann«, erklärte Schmitting.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, entgegnete Demuth, »von Ihnen beiden.«
»Wie geht es denn mit den Untersuchungen voran?«, fragte Hubertus Rüter. »Haben Sie inzwischen einen vorrangigen Verdacht?«
»Den hatte ich schon einige Male, aber dann ist mir ein Verdächtiger nach dem anderen verlorengegangen.«
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte der Gendarm.
»Darüber wollte ich gerade nachdenken, als ich hereinkam und Sie beide hier sitzen sah«, antwortete Demuth.
»Am Freitag haben Sie mir etwas über einen rätselhaften Herrn aus Bayern erzählt«, sagte Rüter. »Der logierte hier aus unerklärlichen Gründen und hatte sich durch sein Verhalten verdächtig gemacht, soweit ich mich erinnere. Was ist denn aus dem geworden?«
Trudi kam mit einem Tablett aus der Küche und brachte drei große Tassen Kaffee.
»Wer hat die denn bestellt?«, fragte Schmitting.
»Niemand«, erwiderte Trudi. »Die Frau Krumpe hat Sie hier am Tisch sitzen sehen und gemeint, gegen eine gute Tasse Kaffee hätten Sie gewiss nichts einzuwenden.«
»Das ist überaus freundlich«, sagte Demuth.
»Richten Sie der Frau Krumpe bitte unseren Dank aus!«, rief Schmitting mit seiner dröhnenden Stimme hinter Trudi her.
Als sie in der Küche verschwunden war, fragte Rüter: »Also, Herr Kriminalrat, was ist aus diesem bayrischen Herrn geworden?«
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Schmitting.
»Er ist heute Morgen abgereist.«
»Mit Ihrer Erlaubnis?«, fragte der Gendarm.
»Ja, ich hatte keine Einwände«, antwortete Demuth.
»Das verstehe ich nicht. Dieser Augustin Sumser hat sich doch äußerst verdächtig benommen«, sagte Schmitting. »Und Sie selbst, Herr Kriminalrichter, hatten den Eindruck, dass er Sie belogen hat, dass er über den Grund seines Aufenthaltes hier an der Emscher falsche Angaben gemacht hat.«
»Ich habe gestern Abend mit ihm hier an diesem Tisch zusammengesessen«, erklärte Demuth. »Während unseres langen Gespräches hat der Herr Sumser jeden Verdacht, der gegen ihn bestand, ausräumen können.«
Schmitting und Rüter sahen ihn fragend an. Doch Anton Demuth hatte nicht die Absicht, den beiden die Geschichte von Augustin Sumser und der Gräfin zu erzählen.
Der Gendarm machte keinen Hehl daraus, dass er sich über Demuths Verschwiegenheit ärgerte. »Wenn Sie alles glauben, was die Leute Ihnen erzählen, dann wundert es mich nicht, dass am Schluss kein Verdächtiger mehr übrigbleibt«, sagte er pikiert.
»Was Augustin Sumser mir erzählt hat, war plausibel und glaubhaft. Er kannte Anna Hasenleder nicht. Er hat mit ihrem Tod nichts zu tun«, entgegnete Demuth dem Gendarmen.
»Im Kriminalgericht in Werden weiß jeder, dass der Herr Justizrat Demuth über eine ganz hervorragende Menschenkenntnis verfügt«, sagte der junge Rüter. »Es ist nicht davon auszugehen, dass er einen Mörder nicht erkennt und ihn laufen lässt.«
»Und was ist mit Arnold Terhuven?«, ereiferte Schmitting sich. »Er ist ein übler Geselle, bekanntermaßen zu allen Schandtaten fähig. Und Sie, Herr Kriminalrat, Sie reden ein paar Minuten mit ihm, und schon sind Sie von seiner Unschuld überzeugt. Haben Sie auch in Erwägung gezogen, dass so ein Kerl vielleicht nur ein guter Geschichtenerzähler ist, der genau weiß, was man einem Untersuchungsrichter auf die Nase binden muss, um jeden Verdacht von sich abzuwenden?«
»Das ziehe ich immer in Erwägung«, sagte Demuth gelassen.
»Und was ist mit diesen dahergelaufenen Puppenspielern?«, fuhr der Gendarm fort. »Die erzählen Ihnen, dass sie mit der Hasenleder befreundet waren, und schon gehören sie nicht mehr zu den Verdächtigen. Ich will Ihnen ja nicht zu nahetreten, Herr Kriminalrat, aber sind Sie da nicht viel zu gutgläubig?«
Demuth blieb gelassen. »Nicht nur die Tendlers haben mir erzählt, dass sie und Anna Hasenleder befreundet waren. Die Anna hat die Familie des Marionettenspielers gemocht, besonders das Mädchen. Das steht fest. Sie hat Josef und Therese und Liesel Tendler nicht abgelehnt, obwohl sie zum fahrenden Volk gehören. Solche törichten Vorurteile waren ihr fremd. Sie hat die drei in ihr Haus eingeladen, der Frau Tendler hat sie beim Nähen geholfen, und dem Mädchen hat sie ein Schultertuch geschenkt. Es gab nie einen Grund dafür, den Mechanikus Josef Tendler oder ein Mitglied seiner Familie zu verdächtigen.«
»Was fahrendes Volk angeht, so sind meine Ansichten keineswegs Vorurteile, sondern das Ergebnis von Erfahrungen, die ich als preußischer Gendarm mit diesen Menschen gemacht habe«, sagte Schmitting sehr laut. Danach war es eine Weile still an dem Tisch, an dem die drei Männer saßen.
Demuth hatte das Gefühl, er müsse etwas Versöhnliches zu Schmitting sagen, doch bevor er dazu kam, sahen er und der Gendarm gleichzeitig, dass Wilhelm Grimberg und Jacob Troost über den Vorplatz auf das Posthaus zugelaufen kamen.
Als sie kurz darauf, beide ziemlich außer Atem, die Gaststube betraten, erhob Demuth sich von seinem Platz, machte den Gerichtssekretär aus Werden mit dem Pfarrer und dem Lehrer aus Sterkrade bekannt, wartete ab, bis Rüter und der Gendarm Schmitting die beiden Neuankömmlinge begrüßt hatten, schob zwei weitere Stühle an den Tisch, bat Grimberg und Troost, Platz zu nehmen, und sagte endlich: »Was ist passiert, Herr Pfarrer? Es ist noch keine halbe Stunde her, dass wir uns voneinander verabschiedet haben? Was gibt es, Jacob?«
»Zunächst einmal das hier«, antwortete Troost, zog eine Zeitschrift aus seiner Manteltasche und warf sie auf den Tisch. »Das ist ein Journal aus dem Brandenburgischen, schon rund zwei Monate alt. Das hat vor einigen Wochen mal ein Reisender hier im Posthaus liegengelassen. Ich habe es damals mit nach Hause genommen und ein paar Artikel darin gelesen«, erklärte Troost, während er durch die Zeitung blätterte. »Hier. Hier ist der Bericht.« Er schob das aufgeschlagene Heft zu Demuth hinüber.
»Kannst du uns nicht sagen, worum es geht, oder uns das Wichtigste vorlesen, damit wir alle Bescheid wissen?«, fragte Demuth den Freund.
Jacob Troost zog die Zeitschrift wieder zu sich.
»Also, das hier, das ist die Schilderung eines Kriminalfalles, der im Kreis Stargard in der Provinz Westpreußen für Aufsehen gesorgt hat«, erklärte der Lehrer den vier Männern, die ihm gespannt zuhörten.
»›Die Mörderinnen einer Hexe‹, so lautet die Überschrift des Artikels. Darin heißt es, dass in dieser Gegend des Königreiches Preußen der Glaube an Hexen noch sehr verbreitet sei. Auch eine gewisse Marianna Prabucka stand in ihrem Dorf im Verdacht, eine Hexe zu sein. Näheres über ihr Wesen erfahren wir nicht, wir können hier nur lesen, sie sei verheiratet gewesen, vierundzwanzig Jahre alt und wohlgenährt, und es habe sie sehr verdrossen, dass man sie für eine Hexe hielt.«
Troost schaute in die Runde. Keiner sagte etwas, alle sahen ihn nur erwartungsvoll an. Also fuhr er fort. Die nächste Passage des Artikels las er wörtlich vor:
»Am Morgen des 22. Juli 1815 fand man die Marianna Prabucka kurz nach Sonnenaufgang erhängt in ihrem Kuhstall auf. Ein Dienstjunge hatte sie entdeckt. Der Ehemann, der hinzukam, schnitt den Leichnam los, aber alle Bemühungen, sie ins Leben zurückzurufen, waren fruchtlos. Es wurde eine gerichtliche Obduktion vorgenommen, der zufolge die Verstorbene sich selbst erhängt hatte. Weil jedoch keine Gründe für einen Selbstmord vorlagen, weil vielmehr alle Zeugen übereinstimmend aussagten, Marianna Prabucka habe nie eine Neigung zum Trübsinn erkennen lassen und sie habe mit ihrem Ehemann zufrieden gelebt, wurde eine zweite Obduktion durchgeführt, dieses Mal in Danzig. Dort erkannte man Druckverletzungen am Hals der Toten, die nicht durch das Erhängen entstanden waren, sondern durch fremde Gewalt.«
Troost hörte an dieser Stelle auf, vorzulesen. »Ich kürze das hier mal ab.« Er fuhr mit dem Zeigefinder über die Zeitungsseite und fasste die nächsten Abschnitte in wenigen Sätzen zusammen.
Es gerieten schnell zwei Frauen in Verdacht. Die beiden Schwestern hatten die Marianna Prabucka wiederholt bezichtigt, eine Hexe und ein böses Weib zu sein. Von der fünfundfünfzigjährigen Eva K., der Schwiegermutter der getöteten Marianna, wusste jeder im Dorf, dass sie ihre Schwiegertochter gehasst hatte. Eva K. und ihre jüngere Schwester Victoria B. hatten behauptet, Marianna Prabucka verursache mit ihren zauberischen Kräften Krankheiten von Mensch und Vieh. Doch die Schwestern waren am Morgen des 22. Juli nachweislich nicht in der Nähe des Tatortes. So wurden dann zwei junge Frauen verdächtigt, die in der Nachbarschaft der beiden Schwestern gelebt und viel mit ihnen verkehrt hatten.
Troost las vor: »Das waren die Catharina Z., neunzehn Jahre alt, die nie zur Schule gegangen war, und die Josephine J., die fünfundzwanzigjährige Tochter von Bettlern, die auch keine Erziehung genossen und ebenso dumm und unwissend war wie ihre Freundin Catharina.«
Die beiden jungen Frauen gestanden die Tat. Sie hatten am frühen Morgen Marianna beim Melken in ihrem Stall überfallen, sie bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und den leblosen Körper dann gemeinsam aufgehängt.
Beide gaben an, eine große Angst vor den Hexereien der Marianna Prabucka gehabt zu haben. Catharina Z. hatte an Geschwüren gelitten, und Josephine J. hatte ein schwächliches und häufig darniederliegendes Kind. Sie waren überzeugt davon, dass Marianna diese Krankheiten verursacht hatte.
Auf den Mordplan seien sie jedoch von allein nicht gekommen. Dazu hätten die beiden Schwestern Eva K. und Victoria B. sie angestiftet.
Jacob Troost las den nächsten Abschnitt des Artikels wieder vor:
»Die beiden jungen Mörderinnen behaupteten, die Schwestern hätten ihnen immer wieder zugeredet, die Hexe müsse aus der Welt geschafft werden, damit sie keinen Schaden mehr anrichten könne. Eva K. und Victoria B. hätten sie aufgefordert, die Marianna beim Krebsfangen ins Wasser zu stoßen und zu ersäufen oder sie aufzuhängen oder auch, weil sie sehr kitzlig gewesen sei, sie zu Tode zu kitzeln. Sie sollten sie auf irgendeine Art und Weise ums Leben bringen und sie in jedem Falle nachher aufhängen, um den Eindruck zu erwecken, die Marianna Prabucka habe sich selbst das Leben genommen.«
Jacob Troost schaute von der Zeitung auf. Er sah nacheinander seinen Freund Anton Demuth, seinen Pfarrer, den Gendarm Schmitting und den jungen Gerichtssekretär an. Keiner von ihnen sagte etwas. Alle schauten schweigend vor sich hin.
»Die Schwestern waren übrigens geständig«, berichtete Troost weiter. »Nach anfänglichem Leugnen gaben sie zu, die beiden jungen Frauen aufgewiegelt zu haben. Dafür wurden Eva K. und Victoria B. vom Gericht für jeweils fünf Jahre ins Zuchthaus geschickt.«
»Und die beiden Mörderinnen sind zum Tode verurteilt worden, nehme ich an«, sagte Hubertus Rüter.
»Zunächst schon«, erklärte Troost, während er noch einmal in die Zeitung schaute. »Das zuständige Kammergericht verhängte die Todesstrafe für Catharina und Josephine. Aufgrund der geringen Verstandeskräfte der beiden jungen Dinger und aufgrund ihres Glaubens, die Marianna sei eine bösartige Hexe gewesen, hat der Appellationsrichter aber entschieden, die beiden seien nur beschränkt zurechnungsfähig. Das Todesurteil wurde deshalb in eine fünfundzwanzigjährige Zuchthausstrafe umgewandelt.«
Der Erste, der zu der Kriminalgeschichte aus dem fernen Westpreußen einen Kommentar abgab, war der Gendarm Schmitting. »Ich sehe ja durchaus einige Parallelen zu unserem Fall, aber ich vermag daraus keine Schlussfolgerungen zu ziehen, die uns weiterhelfen könnten.«
»In der Geschichte gibt es zwei Schwestern, die den Tod einer vermeintlichen Hexe wollen und ihr Ziel erreichen, ohne selbst zu morden«, stellte der Gerichtssekretär Rüter fest. »Das scheint mir das Besondere an diesem Kriminalfall zu sein.«
Demuth nickte nachdenklich. »Zwei verdächtige Schwestern haben wir auch, und auf die Idee, dass sie andere Personen zur Ermordung von Anna Hasenleder angestiftet haben könnten, sind wir auch schon gekommen«, erklärte er dem Gerichtssekretär. »Pfarrer Grimberg hatte vermutet, Helena Kleinrogge könnte ihren Mann zu der Tat gedrängt haben.«
»Na und?«, fragte Hubertus Rüter.
»Paul Kleinrogge ist so krank, dass er als möglicher Täter nicht in Frage kommt«, antwortete Demuth.
»Im Kreis Stargard haben zwei ungebildete und unerfahrene Weibsbilder die Tat begangen, zwei ängstliche und leicht beeinflussbare junge Menschen«, stellte Grimberg fest. Er wandte sich an Troost und fügte hinzu: »Vielleicht sollten Sie den Herren jetzt mitteilen, aus welchem Grunde Sie den Zeitungsbericht vorgelesen haben.«
»Ich hatte den Artikel schon fast vergessen, erst gestern Abend kam er mir wieder in den Sinn. Da fiel mir plötzlich auf, dass es darin ähnlich zugeht wie in einer Erzählung der Brüder Grimm«, erklärte Troost. »Sowohl in dem Fall in Westpreußen als auch im Märchen von Hänsel und Gretel töten zwei junge Menschen eine Frau, von der sie bedroht werden oder sich bedroht fühlen. Die Geschichte aus dem Märchenbuch habe ich kurz vor Anna Hasenleders Tod meinen großen Schülern vorgelesen. Wir haben anschließend lange darüber gestritten, ob die Gretel sich versündigt habe, als sie die böse Alte, die ihren Bruder schlachten wollte, in einen Backofen stieß. Zu den Kindern, die sehr entschieden die Meinung vertraten, es sei recht und billig, eine Hexe ins Jenseits zu befördern, um sich selbst und andere Menschen vor Schaden zu bewahren, gehörten Marie Kleinrogge und Carl Hülsken.«
»Hänsel und Gretel? Carl und Marie?« Anton Demuth sah seinen Freund Jacob entgeistert an.
»Wollen Sie etwa andeuten, Herr Lehrer, dass der Carl und die Marie die Mörder von Anna Hasenleder sein könnten?«, fragte Schmitting ungläubig.
»Es spricht einiges dafür«, entgegnete Troost. »Die beiden waren davon überzeugt, dass die Frau aus dem Haus nebenan eine Hexe war. Sie bekamen von Helena immer wieder zu hören, die Anna sei ganz furchtbar böse, sie habe die Marie krank gemacht und ihren kleinen Bruder getötet, sie habe die Gräfin Westerholt auf dem Gewissen, sie habe Maries Vater Paul verhext und auch für viele andere schreckliche Vorkommnisse in der Welt sei die Anna verantwortlich. Das hat der Carl gewiss genauso mitbekommen wie die Marie. Er geht ja bei den Kleinrogges ein und aus und folgt dem Mädchen auf Schritt und Tritt. Ich glaube zwar nicht, dass Helena Kleinrogge ihre Tochter oder den Jungen zum Mord anstiften wollte, aber sie hat, ob sie es nun wollte oder nicht, die Kinder dazu gebracht, die Anna zu fürchten und zu hassen wie den Leibhaftigen selbst.«
»Und dann hören die beiden in der Schule die Geschichte von einem Hänsel und einer Gretel, die stark und mutig genug sind, so eine böse Hexe zu beseitigen«, sagte Demuth und verbarg entsetzt sein Gesicht hinter seinen Händen.
»Der Carl ist ein kräftiger Junge. Er könnte eine schmächtige Frau wie Anna Hasenleder zweifellos mit einem einzigen Stockschlag niederstrecken«, stellte Schmitting fest.
»Und noch etwas müssen Sie wissen.« Jacob Troost sah betreten in die Runde. »Carl und Marie waren am vorigen Donnerstag nicht in der Schule. Sie haben mir später erzählt, dem Carl wäre es an dem Morgen nicht gut gegangen und die Marie hätte sich um ihn gekümmert. Deshalb hätten sie nicht nach Sterkrade kommen können.«
»Wo sind die beiden jetzt?«, fragte Schmitting.
»Ich denke, dass sie nach der Schule nach Hause gegangen sind. Sie müssten hier sein, entweder im Haus vom Hülsken oder bei den Kleinrogges«, antwortete Troost.
Schmitting erhob sich von seinem Stuhl. »Spricht etwas dagegen, Herr Kriminalrat, dass ich die beiden suche und hierherbringe?«, fragte er.
Demuth schüttelte schweigend den Kopf.
»Ich begleite Sie«, sagte Wilhelm Grimberg.
Während der Pfarrer und der Gendarm unterwegs waren, blieben Demuth, Troost und Rüter still um den Tisch sitzen. Jeder von ihnen schaute bedrückt vor sich hin und hing seinen Gedanken nach. Anton Demuth wäre gern erleichtert darüber gewesen, dass dieser äußerst verwickelte Mordfall jetzt anscheinend doch kurz vor der Aufklärung stand, aber es gelang ihm nicht. Der Gedanke, dass zwei Kinder Anna Hasenleder getötet haben könnten, zerriss ihm das Herz. Doch je länger er nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass es so gewesen sein musste.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da betraten Grimberg und Schmitting wieder die Gaststube, begleitet von Marie und Carl. Der Pfarrer und der Gendarm hatten die Kinder im Haus des Holzfällers Hülsken gefunden. Sie waren den beiden Männern widerspruchslos gefolgt.
Als der Kriminalrichter Demuth sie fragte, ob sie wüssten, warum man sie geholt habe, nickte Carl. Marie schüttelte den Kopf.
Es spräche vieles dafür, dass sie beide gemeinsam die Bauersfrau Anna Hasenleder zu Tode gebracht hätten, erklärte Demuth ihnen.
Der Junge und das Mädchen sahen schweigend zu Boden.
»Ihr wusstet, dass die Anna jeden Morgen an ihrem Steg Wasser holt. Ihr habt ihr aufgelauert, und als sie gerade ihren vollen Eimer aus der Emscher zog, habt ihr euch an sie herangeschlichen und ihr mit einem Ast auf den Kopf geschlagen«, sagte Demuth.
Die beiden Kinder sahen immer noch zu Boden.
»Guckt mich mal an!«, forderte Demuth sie auf.
Als ihm beide in die Augen schauten, fragte Demuth sie: »Wer von euch hatte den Knüppel in der Hand?«
»Das war ich«, sagte Carl.
»Wir brauchten uns nicht anzuschleichen, die Hexe kannte uns ja. Sie hat sich nichts dabei gedacht, als wir zu ihr auf den Steg gekommen sind«, erklärte Marie.
»Hat sie irgendwas zu euch gesagt?«
»Ja. ›Guten Morgen, Kinder‹, hat sie gesagt«, antwortete Marie.
»Und dann?«
»Als wir bei ihr waren, hat der Carl ihr einen Schlag versetzt. Sie taumelte. Da hab ich sie ins Wasser gestoßen. Und dann sind wir weggelaufen.«
»Und warum habt ihr das getan?«, fragte Pfarrer Grimberg.
»Die alte Hexe sollte nicht noch mehr Unheil anrichten«, sagte Carl, und Marie nickte.
Anton Demuth stand zusammen mit Friedrich und Margarete Krumpe und mit seinem Freund Jacob Troost auf dem Platz vor dem Posthaus. Seine lederne Reisetasche hielt er in der Hand.
»Was wird denn jetzt aus der Marie und dem Carl?«, fragte der Posthalter.
»Der Gendarm und der Pfarrer bringen sie gerade nach Sterkrade. Grimberg und seine Schwester werden die beiden erst mal in ihre Obhut nehmen, bis ein Aufenthaltsort für sie gefunden ist.«
»Du meinst, sie werden nicht zu ihren Eltern zurückkehren?«, fragte Troost.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Demuth.
»Haben Sie das denn nicht zu entscheiden, was mit dem Carl und der Marie geschehen wird?«, fragte Margarete Krumpe ihn.
»Nein, ich habe als Untersuchungsrichter am Inquisitorialgericht die Aufgabe, Verbrechen aufzuklären und die Täter zu überführen«, erklärte Demuth. »Jetzt werde ich das Ergebnis meiner Ermittlungen in allen Einzelheiten schriftlich niederlegen. Der Akt geht nach Cleve zum Kriminalsenat des Oberlandesgerichts. Die Richter dort fällen das Urteil über Carl und Marie, und sie legen auch das Strafmaß fest.«
»Es kann also sein, dass die beiden zum Tode verurteilt werden?«, fragte Margarete Krumpe ängstlich.
Demuth stellte seine Reisetasche ab.
»Nein«, antwortete er entschieden. »Carl und Marie sind Kinder. Die werden nicht zum Tode verurteilt.«
»Zu welchem Urteil könnte das Gericht kommen? Was denkst du?«, fragte Troost.
»Es gibt Einrichtungen, in denen jugendliche Straftäter untergebracht und erzogen werden. In der ehemaligen Abtei Brauweiler bei Köln gibt es zum Beispiel so eine Anstalt. Ich denke, dass die beiden da die nächsten Jahre ihres Lebens verbringen werden.«
Johann kam von den Ställen herüber. Er führte den jungen Rappen, den er wieder vor das zweirädrige Cabriolet gespannt hatte, auf den Platz vorm Posthaus.
Anton Demuth bedankte sich beim Pferdeknecht und stellte seine Tasche in den Fußraum des Wagens.
»Ach, da fällt mir noch etwas ein.« Er öffnete die Reisetasche und zog ein Buch heraus. »Würden Sie das bitte der Dina Becker geben. Es ist ihr Eigentum, sie hat es mir geliehen.« Demuth drückte Margarete Krumpe das Märchenbuch in die Hand.
»Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm.« Jacob Troost las den Titel des Buches laut und schüttelte den Kopf. »Wenn ich gewusst hätte, was Märchen anrichten können, hätte ich sie nicht mit meinen Schülern gelesen.«
»Jetzt mach bitte nicht Hänsel und Gretel für den Mord an Anna Hasenleder verantwortlich«, sagte Demuth. »Die Schuld an solch unsinnigen Verbrechen tragen Menschen wie Helena Kleinrogge mit ihrer Abneigung gegen alles, was ihnen fremd ist, mit ihrer Vorliebe für simple Antworten und mit den schlichten Erklärungen für alles, was sie nicht verstehen. Sie bringen Unschuldige in Verruf und schüren Angst und Hass.«
Margarete Krumpe fühlte sich offenbar nicht angesprochen. Sie sagte freundlich: »Es war sehr schön, Sie nach all den Jahren noch mal zu sehen. Mein Mann und ich, wir würden uns freuen, wenn Sie gelegentlich wieder unser Gast wären.«
»Dazu könnte es schon bald kommen«, sagte Demuth. »Der Jacob und ich, wir haben uns vorgenommen, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden. Und wir sind uns einig, dass die Poststation ein guter Treffpunkt wäre. Auch wenn es mal spät würde, käme der Jacob noch gut nach Hause, und ich könnte oben in einer der Kammern logieren. Ich habe hier in den vergangenen Nächten wirklich gut geschlafen, und das Bier hat mir geschmeckt und der Kaffee zum Frühstück auch.«
»Das freut uns sehr«, sagte Margarete.
Ihr Mann nickte zustimmend. Als er begann, seine Uniform zuzuknöpfen, bestieg Demuth den kleinen Wagen. Er setzte sich, und Johann gab ihm die Zügel in die Hand.
»Dann hast du heute wohl noch einen anstrengenden Tag vor dir«, sagte Troost.
»Warum denkst du das?«, fragte Demuth.
»Du wirst eine Weile unterwegs sein, und dann hast du noch einen langen Bericht zu schreiben, und dein Herr Justizdirektor will doch gewiss auch in aller Ausführlichkeit informiert werden.«
Demuth schaute auf seine Taschenuhr.
»Der Justizsekretär Rüter ist ein guter Reiter, er ist vielleicht schon im Kriminalgericht. Wenn ich Glück habe, dann hat er dem Herrn von Broich schon alles berichtet, wenn ich in Werden ankomme. Und mit meinem Bericht für den Kriminalsenat fange ich heute gewiss nicht mehr an.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt«, sagte Friedrich Krumpe.
Demuth bedankte sich und wollte gerade losfahren, als er sah, dass sich Josef Tendler auf dem Emscherweg näherte. Kurz bevor der Mechanikus die kleine Gruppe am Posthaus erreicht hatte, rief Demuth ihm zu: »Ich wünsche Ihnen für heute Abend eine schöne Vorstellung und viele Zuschauer!«
»Werden Sie denn nicht unser Gast sein?«, fragte Tendler enttäuscht.
»Nein, ich muss zurück nach Werden.«
»Das ist schade, wirklich schade. Unser ›Doktor Faustus‹ hätte Ihnen gut gefallen.«
»Ja, das glaube ich auch.« Demuth ließ die Zügel locker und schnalzte mit der Zunge. Der junge Rappe setzte sich in Bewegung, und das Cabriolet rollte langsam am Schloss vorbei zur Emscherbrücke.