Vierundzwanzigste Woche

Heute war ich bei meinem Vater und habe es ihm erzählt. Auf der Fahrt hing der Himmel voller schwarzer Regenwolken, die von wässrigem Sonnenlicht durchbrochen wurden, und ein Regenbogen wölbte sich über die Welt, und ich wusste, dass mein Vater ihn sah, weil er am Fenster stand und auf mich wartete. Am Telefon hörte ich einen Anflug von Tadel heraus, in dem kurzen Moment nach meinem Hallo, Dad?, eine, vielleicht zwei Sekunden bleischweren Schweigens, aber bei diesem Schweigen beließ er es, und es schwang ausschließlich Erleichterung in seiner Stimme mit, als er sagte, Ach, Herzchen, wie geht’s dir denn?

Und ich sagte, Mir geht’s gut, Dad, ich komme morgen vorbei. Brauchst du irgendwas?

Und er sagte, Nein, Herzchen, ich bin eingedeckt. Gott, ja. Ich hab alles, was ich brauche. Wann bist du denn ungefähr hier?

Als ich auf den Hof fuhr, stand er am Fenster, und der Rasen im Vorgarten war länger, als er je gewesen war, die immergrüne Hecke am Zaun wuchs gen Wildnis, und die Beete waren alle vom Gras überwuchert. Osterglocken blühten in schludrigen Reihen an den Kanten und kämpften mit dem Unkraut um ihren Platz. Mein Kopf registriert diese Dinge, vermerkt die Anzeichen des Verfalls, aber das Herz kann ich nur voller Angst davor verschließen. So sehr brauche ich meinen Vater, der auf mich wartet und an mich denkt, meinen geschätzten Verpflegungsoffizier, dessen Lager randvoll sind mit bedingungsloser Liebe. Vielleicht werde ich eines Tages einmal etwas tun, womit ich sie mir auch verdiene.

Als ich das erste Mal schwanger war, hat er einen Apfelbaum am Ende meines Gartens gepflanzt. Er klopf‌te die Erde um den Baum mit seinem Spaten fest, richtete sich auf, wischte sich den Schweiß aus den Augen und sagte, ohne mich anzusehen: Der steht noch in fünfzig Jahren, wenn Gott will. Und vielleicht wird irgendwann dein Kind hier stehen, wo wir jetzt stehen, oder dein Kindeskind. Wenn ich lange Staub bin.

Und ich musste sagen, Hör auf, Dad, bitte rede nicht so.

Und er lachte und sagte, Niemand lebt ewig. Ein paar Wochen später saß er auf der Gartenbank neben mir und hielt meine Hand und sagte nichts, nicht über das Leben, nicht über den Tod oder sonst irgendwas, ich wusste, dass er seiner Stimme nicht trauen konnte, und ebenso wenig den lauernden Tränen.

Heute saßen wir, und ich habe tiefschwarzen Kaffee aus der Stempelkanne und er milchigen Tee getrunken, und er fragte mich immer wieder, ob der Kaffee auch wirklich in Ordnung sei; er sei so unsicher gewesen, ob er auch alles richtig gemacht habe, aber im Internet gebe es ein Video, in dem gezeigt werde, wie man es ganz genau richtig macht, und genau so hatte er es gemacht, weil es schon so lange her war, seit er das Ding zum letzten Mal benutzt hatte. Er selbst trank ja nur Tee, und falls mal Besuch kam, trank der auch immer nur Tee, aber Kaffee hatte natürlich Vorteile, er half bei der Konzentration, wenn man müde war, besonders beim Fahren, ach Gott, dafür ist er wirklich toll, wenn jemand eine lange Fahrt machen muss, kann er überall anhalten und einen Kaffee kaufen, in einem Pappbecher mit besonderem Deckel, um ihn mit ins Auto zu nehmen und beim Fahren zu trinken, damit er munter bleibt, und zehn Minuten bevor ich da sein sollte, hatte er mit dem Kaffeekochen angefangen, weil der nette Neger im Internet gesagt hatte, dass der Kaffee nach dem – wie hatte er es noch genannt? – ach, ja, Aufgießen noch ziehen müsse, und er nehme an, das sei wohl genauso wie bei Tee.

Ich bin schwanger, Dad.

Er schaute mich an und sagte nur, Ach, Herzchen. Ach.

Und ich sagte, Es ist nicht von Pat. Ich hatte eine Affäre.

Und er zögerte einen langen Moment, damit ihm die Stimme nicht versagte, und dann fragte er, Stimmt es also, dass Pat weg ist? Minnie Wiley hat mich das letzten Sonntag vor der Abendandacht gefragt.

Und ich sagte, Ja, Dad. Ich hätte es dir eher erzählen sollen.

Und er sagte, Niemand erfährt Neuigkeiten vor Minnie Wiley. Die sagt dir sogar, was du zum Frühstück gegessen hast. Und er schaute in seinen Tee und seufzte und sagte, Was ist das auch für ein Mann, der nichts im Griff hat? Und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also sagte ich nichts.

 

Mein Vater beschrieb mir seine Tage, als wollte er für mich einordnen, wie meine Neuigkeiten dort hineinpassten, vielleicht auch nur, um irgendetwas zu sagen. Er steht zeitig auf und lockert sich zunächst, so gut es geht, die Treppe schafft er ohne Probleme, wenn er sich Zeit lässt, und dann beobachtet er vom Gartenfenster aus die Vögel und den heller werdenden Himmel und macht ein wenig Ordnung und trinkt seinen Tee und isst sein Porridge und eine Scheibe Toast mit Orangenmarmelade, und dann wäscht er sich und zieht seine Cordhose und blankgeputzte Schuhe und ein Hemd, einen Pullover und eine Jacke an und geht zur Messe. Manchmal isst er dann mittags einen Happen unten im Café; da arbeitet eine nette junge Frau aus Lettland oder Litauen oder einem von diesen Ländern, und die ist so reizend, netter geht’s kaum, und wie eine richtige Irin ist die, wie die einen begrüßt und zwischendurch nachfragt, ob alles in Ordnung ist, wenn man seinen Happen isst, und ob man noch frischen Tee nachgeschenkt haben möchte. Meistens isst er aber mittags zu Hause, ein bisschen Schinken oder Hühnchen und ein hartgekochtes Ei und ein paar Scheiben Brot mit Butter. Außerdem liest er nachmittags Zeitung, die Times und den Indo, und abends hin und wieder den Herald. Und dann macht er sich ein frühes Abendessen, wie es ihm einmal geraten wurde, ein, zwei Koteletts vielleicht und dazu Kartoffeln, und abends sieht er fern, Nachrichten und Wetter und dann Sport, je nachdem, was gerade läuft, oder auch mal einen Film. Und hin und wieder zieht es ihn in Ciss Briens Pub auf ein Bier, an solchen Abenden raucht er vor dem Schlafengehen noch eine Zigarette, von einer Zigarette alle Jubeljahre ist schließlich noch keiner gestorben.

Und ich hörte zu, während er mir seine Tage beschrieb, ein allein gelebtes und dennoch selbstloses Leben, denn seine einzige Sorge, das weiß ich genau, auch wenn er es nie aussprechen würde, bin ich und ob es mir gutgeht und ob ich jemals ein Kind bekommen werde, wie ich es mir immer gewünscht habe, und ob da vielleicht etwas falsch ist, das man nicht richten kann, weil ich zwei kleine Babys verloren habe, bevor sie auch nur die Chance auf einen einzigen Atemzug hatten, und ob Pat gut zu mir ist und ob ich alles habe, was ich brauche. Und das bisschen Frieden in seinen stummen Tagen, während er an den Kreuzwegstationen kniete oder ein Spiel im Fernsehen sah oder ein Pint trank, ist jetzt dahin, wegen mir und meinem neuen Ärger. Ich sehe seine Hand zittern, und das habe ich zu verantworten, genauso wie die Träne, die ihm im Augenwinkel blitzt, und die Worte, die aus seinem Mund kommen. Keine Sorge, Herzchen. Keine Sorge. Es wird sich alles finden.

Ach, Daddy, wenn es doch nur so wäre.

 

Letzte Nacht habe ich gut geschlafen und mich beim Aufwachen auf Mary Crotherys Besuch gefreut. Ich will mit ihr Schreiben üben, sehen, wie sie Buchstaben zu Papier bringt. Es wurde zwei Uhr, aber von Mary keine Spur. Ich saß da, fummelte nervös an den Kanten eines Buchs herum und wusste nicht, was ich tun sollte. Hätte sie wenigstens ein Handy, dann könnte ich ihr eine Nachricht schreiben. Eigentlich hatte sie eins gehabt, glaube ich, aber das war im Rahmen ihrer Bestrafung konfisziert worden. Niemals würde Mommy über diese Schande hinwegkommen. Darüber, was dieses Weib der Familie angetan hatte. Als die Stunde ungenutzt verstrichen war, fuhr ich zur Ashdown Road und traf dort den nuschelnden Wachtposten und die zerlumpten großspurigen Jungs an, die zwischen den Pfützen das Boxen übten, und als ich einen Fuß auf die erste Stufe von Marys Wagen setzte, rief einer von ihnen, Die sin’ alle weg, Ma’am.

Was heißt denn ›weg‹?

Weißnich, England?

Und plötzlich spürte ich ein Brennen im Magen, und das Baby bewegte sich. Davon hatte ich gelesen: Erregung durch einschießendes Adrenalin bei plötzlichem Stress. Ich versuchte trotzdem, die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen, alle Vorhänge waren zugezogen, und mir stockte der Atem, ich fühlte mich benommen und musste mich am Geländer festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Kommen die denn wieder zurück?, fragte ich den Jungen, der in der Vorwoche den Kampf verloren hatte, und er sagte, Schätzma schon. Nehmich an. Hochzeit. Asfertiern. Und dann wandte er das immer noch leicht lädierte, mürrische Gesicht ab und baute seine Deckung wieder auf.

Ich setzte mich zurück ins Auto und machte mich auf den Weg zu Daddy, doch dann entschied ich mich um und fuhr nach Hause. Ich saugte in jedem Zimmer und wechselte die Laken auf allen Betten. Ich faltete Klamotten, die Pats Vater nicht mitgenommen hatte, und drückte meine Nase in ein Hemd, um den schwachen Geruch von Schweiß und Haut zu atmen. Ich dachte wieder darüber nach, wo er jetzt wohl war und wie er die Lücken füllte, die ich immer ausgefüllt hatte. Am Ende fuhr ich doch noch zu Daddy, aber er war nicht zu Hause, also setzte ich mich auf die Betonbank am Ende des Gartens und fing an zu weinen, und plötzlich war er neben mir und legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte leise, verlegen: Aber, aber, ist ja gut, Schätzchen.

 

Warst du beim Arzt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?

Nein, was soll mir denn ein Arzt sagen, was ich nicht schon weiß?

Daddy sah zum Himmel auf, wie immer. Oh. Ach, Junge, Junge, tja. Willst du dich denn nicht mal untersuchen lassen? Und ich sagte, das würde ich tun, sobald man mir einen Termin gäbe; ich hatte schon angerufen. Oh. Ach. Na, dann ist ja gut. Und dann erzählte er mir, wie sich meine Mutter die ganze Schwangerschaft hindurch gesorgt hatte, tage- und wochenlang habe sie im Bett gelegen und sei ein einziges Häufchen Elend gewesen mit Schmerzen von Kopf bis Fuß; er habe sich freigenommen, damit er sich um sie kümmern konnte, und hatte einen Riesenärger mit seinem Chef bekommen, weil der Urlaub nicht genehmigt gewesen war, woraufhin ihm auch noch das Gehalt gekürzt wurde. Und welche Sorge er um uns beide gehabt habe, weil sie eine Zeitlang gar nichts hatte essen wollen und kaum mal einen Schluck Wasser trank und nur bei zugezogenen Vorhängen dalag und fast kein Wort sagte, bis er schließlich den Arzt rief, und der war ins Haus gekommen und hatte ihr klipp und klar gesagt, sie müsse sich zusammenreißen, aus medizinischer Sicht fehle ihr nicht das Geringste, sie müsse jetzt vernünftig essen und auch trinken, und er gab ihr Tabletten, die sie nehmen sollte, und einen Zettel, den sie mehrmals aufmerksam las, ihrem Mann jedoch nie zeigte, aber er ging davon aus, dass es eine Liste von Dingen war, die sie tun und zu sich nehmen sollte, und schlussendlich riss sie sich am Riemen, und von da an lief alles wunderbar. So ist das eben manchmal, sagte mein Vater. Da gehen Dinge in einem vor, und man glaubt, man hätte darauf keinen Einfluss, aber dann stellt sich raus, dass man den eben doch hat, man muss es nur von jemand anderem hören.

 

Ich habe ein Buch über einen Mann gelesen, der allein in einer kleinen Hütte in einem kleinen Ort lebt, der beinahe vom Krieg zerstört wird. Seine Nachbarn und Sandkastenfreunde stehen sich als Feinde gegenüber, und seine große Liebe kommt ums Leben. Als der Krieg vorbei ist müssen die Menschen dort weiterleben und ihnen ist unbehaglich, weil sie sich an jene Zeit erinnern, aber sie sprechen nie über das, was passiert ist. Ich fühle mich mit diesem erfundenen Mann verbunden, der lebt, wo einst Blut vergossen wurde, umgeben vom Widerhall der Schreie.