Fünfundzwanzigste Woche

Pat kam gestern vorbei, gerade als es draußen dunkel wurde. Hallo, sagte ich in unabsichtlich fragendem Tonfall, als wäre ich ans Telefon gegangen, als würde ich ihn nicht kennen. Mit hochgezogenen Schultern stand er gebeugt und zerzaust da, die Arme baumelten wie nutzlos an den Seiten. Er wirkte älter und hatte abgenommen, außerdem schien sich sein Haar inzwischen überall zu lichten.

Die Sekunden zogen sich, bis er sprach: Tut mir leid, Melody. Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen, dass ich dich umbringen will. Das ist das Einzigste.

Und ich erwiderte: Das Einzige. Verwirrung flackerte in seinem Blick auf, dann Erkennen, meine ewige Besserwisserei, mein Schnappreflex, der ungebeten einsetzte. Er wurde rot. Sein Gesicht glühte. Und ich wünschte mir Rasiermesserzähne, um meine boshafte Zunge einfach abbeißen zu können. Ich wusste, dass er nicht wusste, wohin mit seinen Händen; also nahm ich ohne nachzudenken eine davon. Er machte den Mund auf, und ob er bloß über diese unerwartet zärtliche Geste erschrocken war oder etwas sagen wollte, weiß ich nicht, es kamen jedenfalls keine Worte heraus. Ich sagte also nur, Schon okay.

Mehr nicht, und er antwortete mit einem angedeuteten Lächeln, ganz leicht zeigten seine Mundwinkel nur nach oben. Sein Blick wanderte zu meinem Bauch; ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er zog seine klamme Hand vorsichtig zurück und wandte sich dann auf dem schmalen, unkrautbewachsenen Weg zum Gehen, auf dem Regen und Frost ein wildes Zickzackmuster hinterlassen hatten. Er trug die Levi’s, die ich ihm vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt habe. Sie schlabberten jetzt gürtellos um seinen flachen Hintern; traurig wehte das schlechtgebügelte Hemd im Wind. Am Gartentor drehte er sich um und winkte, dann zögerte er noch eine Sekunde und ging.

Ich blieb in der Tür stehen und schaute hinaus in die penibel getrimmten Gärten meiner Nachbarn: akkurate Rechtecke makellosen Asphalts flankiert von pedantisch geraden Pflanzenreihen. Wie viele von ihnen wissen Bescheid? Jemand schaute aus dem Fenster, aus einem Haus ein Stückchen die Straße runter, fast in der Kurve. Mrs. Brannigan. Oder Flanagan. Oder Irgendeinandererscheißagan. Ich sah Pat hinterher. Und rief ihn zurück.

Er machte sofort auf dem Absatz kehrt und war schneller durchs Tor und wieder an der Tür, als ich begreifen konnte, was ich da gerade getan hatte. Und dann stand er im Flur und fragte, Was machen wir denn jetzt? Und die Frage kam mir zugleich fremd und vertraut vor. Einen kurzen Augenblick lang fühlte es sich an wie damals mit siebzehn, als hätten wir gerade erst angefangen, miteinander zu schlafen, und wären an einem ungestörten Ort, keine Eltern in Sicht, und das auch noch für eine ganze Weile. Mit siebzehn hatte er bloß sagen müssen, Komm mal her, worauf ich dann sagte, Nur küssen, mehr nicht, und er: Ja, ja, ich weiß, und fünf Minuten später lagen wir nackt bis auf die Unterwäsche in meinem oder in seinem Zimmer, und er fummelte fluchend an meinem BH-Verschluss herum, und schließlich machte ich ihn selbst auf, und er sagte, Danke, und ich sagte, Mein Gott, das ist echt nicht so schwer!, und wir wälzten uns schweißgebadet hin und her, bis wir es nicht länger aushielten, und dann sagte ich, Scheiß drauf, los, steck ihn rein, aber zieh ihn bloß rechtzeitig wieder raus, und als er in mich eindrang, sogen wir beide scharf die Luft ein, und ich grub die Fingernägel in seine Pobacken, und fast jedes Mal zog er ihn rechtzeitig raus, es fehlten immer nur Zehntelsekunden, weil er auf mich wartete und dabei im Kopf das Alphabet rückwärts aufsagte oder sich die Freundinnen seiner Großmutter nackt vorstellte, und hinterher waren die Laken versaut und mussten mit dem klebrigen Fleck nach innen gefaltet ganz nach unten in den Wäschekorb geschmuggelt werden, und dann zogen wir uns an und lagen nebeneinander auf dem Rücken und hielten Händchen und redeten über Gott weiß was, und manchmal, wenn wir noch Zeit hatten, fingen wir noch mal von vorne an.

Eines Frühsommernachmittags kam mein Vater ins Zimmer, als wir beide nackt und nur mit einem Laken bedeckt schliefen. Pat war am Morgen herübergeradelt, als nur ich und der Geist meiner Mutter zu Hause gewesen waren, aber sie hatte uns noch nie gestört. Wir waren davon ausgegangen, noch Stunden zu haben. Aber Daddy war an dem Morgen in Eile gewesen und hatte sich für die Mittagspause nichts zu essen mitgenommen, daher war er um kurz nach eins nach Hause zurückgekommen und hatte verstreute Klamotten auf der Treppe gefunden, die er in seinen zitternden Händen hielt, als er auf uns herabblickte. Ich wachte auf und schrie, Daddy, ach du Scheiße!, wobei ich das Laken fester um meinen nackten Körper zog, und da wurde auch Pat wach und lachte hysterisch auf, und Daddy sagte, Oh, oje, oje, ’tschuldigung, ich dachte, es wäre niemand hier, ich wollte nur Ordnung machen, deine Sachen lagen auf der Treppe, und er schaute auf seine Hände, und es war Pats Chelsea-Trikot, das er da hielt, und mein BH und mein Rock, und er ließ alles aufs Fußende meines Betts fallen und sagte, Tja, ja, Junge, Junge, und er war knallrot vom Hals bis zum Scheitel, als er den Rückzug antrat, und Pat und ich schauten uns nur an und lachten in unsere Kissen und lauschten darauf, dass er wieder ging, damit wir es noch mal machen konnten.

Und weil ich ihn kenne und genau weiß, was in seinem Kopf vorgeht, glaube ich, dass Pat auch an damals dachte, als die ganze Welt sich noch um unsere Liebe drehte. Als wir gerade die Geheimnisse unserer Körper entdeckt hatten und selbst der Regen in unserem Rhythmus ans Fenster prasselte und die Menschen auf der Straße lächelten, wenn sie uns Händchen halten sahen, weil wir so perfekt zueinander und in die Welt passten und in den Raum, den wir darin einnahmen. Doch wir wussten, dass sich in Wirklichkeit die Welt an uns anpasste, dass wir das Zentrum waren, von dem alles andere ausging, aber alles andere war ohnehin nichtig und ohne Sinn.

 

Pat zuckte mit den Schultern und lachte, ein winziges Ausatmen nur, und dann sah er an die Decke und schnalzte mit der Zunge. Der Fleck wird immer größer. Verdammt. Jetzt geht er schon bis hier. Irgendwann bricht dir der ganze Scheiß nach unten durch. Darauf erwiderte ich nichts, und so standen wir wortlos da, und es fühlte sich an, als hätte ich einen warmen Mantel angezogen, der eine Zeitlang unauffindbar gewesen, der mir aber auf den Leib geschneidert war und den ich jahrelang jeden Tag getragen hatte, so natürlich kam es mir vor, schweigend mit Pat im Flur zu stehen. Und so wie jetzt sah er seinem Teenager-Ich derartig ähnlich, dass ich lachen musste, und er grinste und schaute mich erwartungsvoll an, als würden meine nächsten Worte die Lösung all unserer Probleme bedeuten und alle Erniedrigungen und Racheakte ungesagt und ungeschehen machen.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dagestanden hatten, als ich fragte, wie es bei seinen Eltern lief. Er atmete tief durch und senkte enttäuscht und resigniert den Blick. Die Schultern fielen noch ein Stückchen nach unten, der Rücken krümmte sich, und nun sah man ihm sein wahres Alter wieder an. Super, sagte er. Die gucken nur noch fern. Und meckern über den Regen. Die lassen sich nix anmerken. Tun so, als wär ich nie weg gewesen. Und er zog die Grimasse, mit der er schon immer eine Geschichte beendet hatte, als wollte er damit deren Wahrheitsgehalt unterstreichen, und bei diesem Anblick musste ich wieder lachen, und er fragte, Was?, und grinste, und ich grinste zurück. Und so standen wir im Flur, gestern Abend erst, und redeten und grinsten, während die Sonne unter- und der Mond aufging und die Rasenmäher einer nach dem anderen verstummten.

Ein bisschen nervös sind sie nur an dem Tag geworden, an dem du in der Stadt ausgerastet bist.

Was?

Als du mit dem Zigeunermädel in der Stadt warst und Elsie Brien und Mamie Graney und so angeschrien hast. Wegen der Nutten. Scheiße, Mann, Melody. Das war echt unnötig. Elsie und Mamie waren im Nullkommanix bei uns und haben alles brühwarm erzählt. Sie meinten, sie würden nur Bericht erstatten, sie wüssten ja, dass da kein Funken Wahrheit dran ist, das Weib will ja immer nur Ärger machen, aber wir müssten doch wissen, was rumgehe.

Zigeuner sagt man nicht. Sie ist Travellerin.

Bringst du ihr auch Lesen bei?

Habe ich. Jetzt ist sie weg.

Brauchst du Geld?

Wieso, hast du welches?

Ich hab ’nen Sack voll Steuern zurückgekriegt. Hab den Pissern zu viel gezahlt, in dem Jahr, als die Firma übern Jordan ist. Muss man sich mal vorstellen.

Und er erzählte weiter vom Finanzamt und dass er sich langsam wieder etwas aufrappele, dass er die kleinsten Aufträge annehme und alle sofort in bar auszahle, und dass Ignatius Farrell rumlaufe, als hätte ihm der Teufel persönlich die Eier abgebissen, seit ich ihn in der Stadt angeschwärzt hatte, und dass es sich komisch anfühle, von mir getrennt zu sein, obwohl er wisse, dass es so, wie es war, nicht gut war, seit Jahren sei es schon nicht mehr gut gewesen, wir hätten ja genauso gut völlig Fremde sein können, und er sprach immer weiter, ohne dabei viel zu sagen, und wir saßen inzwischen am Küchentisch, als er schließlich verstummte, und er wartete ab und ich auch, und als er sich die Formulierung schließlich zurechtgelegt hatte, fragte er: Willst du es nicht wegmachen lassen?

Und plötzlich rollten ihm die Tränen übers Gesicht, und er streckte die Hand nach mir aus, doch ich war schon von ihm weggerückt, und er flehte: Wir könnten abhauen, wir könnten überallhin gehen, es gibt Arbeit ohne Ende in Kanada, die suchen da immer Tischler und Elektriker, wir könnten irgendwo in den Norden ziehen, wo das ganze Jahr lang Schnee liegt, du liebst doch Schnee, Melody, und kein Schwein wüsste was über uns, und wir könnten den ganzen Krieg einfach hier lassen und noch mal von vorne anfangen.

Okay, sagte ich. Wenn ich das Baby wegmachen lasse, nimmst du mich also wieder zurück, und wir ziehen irgendwo anders hin?

Ja, sagte er und legte die Hände offen vor mir auf den Tisch.

Aber ich ließ sie dort liegen und fragte: Egal wohin? Wir können leben, wo ich will?

Ja, wiederholte er, und noch immer warteten seine Hände auf meine.

Was, wenn ich das Haus verkaufen und mir einen Wohnwagen besorgen und mich für eine Parzelle auf dem Stellplatz an der Ashdown Road bewerben würde? Würdest du da mit mir hinziehen?

Er sah mir in die Augen und erkannte darin nur noch Mitleid, und er lachte leise auf und schloss die Augen, um neue Tränenströme zurückzuhalten, und ballte die offenen Hände zu Fäusten, presste sie gegen die Schläfen und stand so plötzlich auf, dass sein Stuhl umfiel, und er rief: Was ist das eigentlich für eine Scheiße mit dir und diesen Zigeunern? DU UND DEINE VERSCHISSENEN ZIGEUNER!

Und dann drehte er sich um, packte den umgefallenen Stuhl, hob ihn über den Kopf und schmetterte ihn zu Boden, so dass die Beine zerbarsten und Holzsplitter sich in der ganzen Küche verteilten. Und ich machte die Augen zu, klammerte mich an der Tischkante fest und hielt den Atem an, und Sekunden später war er weg, und alles, was er hinterließ, war das Echo seiner Schmähungen, das mir in den Ohren klang und langsam verhallte. Und ein, zwei Sekunden lang dachte ich ernsthaft darüber nach, ihn zurückzurufen und zu fragen, ob er mit mir ins Bett gehen wollte.