Sechsundzwanzigste Woche

Weil mich ein ungeheures Verlangen überkommen hat, eine brennende, glühende Lust. Heute Nacht ist es gar nicht so warm draußen, es liegt Regen in der Luft, aber das Schlafzimmerfenster steht offen. Ich bin schweißnass, und die kühle Brise macht es fast noch schlimmer, sie streichelt über meine nackte Haut, schürt diese heimtückische Flamme in mir. Immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich Martin Toppy vor mir, seine breiten, sonnengebräunten Schultern, die muskulöse Brust und die schmale Taille, seine aufgestützten Arme, seine blau leuchtenden Augen, höre seine Stimme, die flüstert, Miss, o Miss, ich liebe Sie. Ich sehe auch Pat, den siebzehnjährigen Pat, blasser und drahtiger als Martin Toppy, aber nicht weniger schön, die Augen in höchster Konzentration fest zugekniffen, um nicht vor mir zu kommen, sich für mich zurückzuhalten, mir zu zeigen, dass er ein Mann war, der mich, sein Mädchen, seine Frau, befriedigen konnte.

Auf der Baustelle an der Umgehungsstraße gibt es einen Arbeiter, der mit einem Stoppschild den Verkehr regelt. Als ich irgendwann mal ganz vorne in der Kolonne stand, hat er mir zugezwinkert und meinen Blick gehalten und gegrinst. Einmal habe ich ihn abends auf dem Long Hill joggen sehen, in ärmellosem Oberteil und Shorts. Er hat lange, muskulöse Beine. In dieser Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich langsam neben ihm herfuhr, während er auf dem Gehweg joggte, der durch einen schmalen Grünstreifen von der Straße getrennt ist, und als er mich bemerkte, hielt er an und stand schwitzend und schwer atmend da, und ich lehnte mich hinüber und öffnete die Beifahrertür, und er stieg ein, und als ich schweißgebadet aufwachte, versuchte ich mit aller Kraft, wieder zurück in diesen Traum zu finden, doch stattdessen träumte ich von einem hölzernen Schiff, das ein Spielball der Wellen in schwarzer See war, im Frachtraum saßen dichtgedrängt Kinder mit ihren Müttern, deren Väter und Männer flach auf dem stampfenden Deck lagen, die flüsternd einen abwesenden Gott anbeteten, und dann wachte ich wieder auf, und die Brise, die zum Fenster hereinkam und mir übers Gesicht strich, schmeckte salzig, und ich lag unbedeckt im Dunkeln und atmete ein und atmete aus und rührte mich nicht.

 

In der Nähe von Borrisokane hielt ich am Straßenrand, um mich zu übergeben. Ich stand in einer Toreinfahrt, wo ich von einer Kuh mit langen Wimpern beobachtet wurde, bis ich anfing, zu würgen und zu stöhnen und mein Stöhnen fast ein Schreien wurde und die Kuh erschrocken davontrabte und dabei ihre Fladen fallenließ. Ich lehnte mich gegen die Motorhaube meines Autos, wischte mir Erbrochenes vom Kinn und Tränen aus den Augen und beobachtete, wie die Wolken ein letztes blaues Loch schlossen und der Himmel sich verdunkelte, und die Luft um mich herum kühlte ab, und ein leichter Sprühregen benetzte meine Haut, und ich lehnte am Auto und überlegte, umzudrehen und wieder nach Hause zu fahren, meinem Instinkt zu vertrauen, dass das Baby sich schon richtig entwickeln und sein Herz kräftig schlagen würde. Wozu hineinschauen? Millionen von Jahren sind Babys ohne Vorsorgetermine und Ultraschalluntersuchungen geboren worden, das hat doch auch immer funktioniert. Aber dann fuhr ich doch weiter, über die klackernde Brücke in Portumna und die schmale gewundene Straße entlang nach Norden, und trat durch die breiten Pforten des kalten Granitbaus am Rande von Ballinasloe, und dort gab ich einen Namen an und eine Sozialversicherungsnummer und eine Adresse, und ich gab auch einen Vaternamen an, und ich legte meine linke Hand flach auf den Anmeldetresen, damit mein Ehering auch gut sichtbar war, ebenso wie der Solitär dahinter, den Pat von seinen ersten drei Monatsgehältern als ausgelernter Elektriker gekauft hatte.

In diesen drei Monaten hat er nicht einen Schluck Alkohol getrunken, keine einzige Zigarette geraucht und ist mit dem Rad zu allen Baustellen gefahren, um Sprit zu sparen; er aß kaum noch. Und vor einem Springbrunnen in den Gärten von Birr Castle kniete er nieder und hielt mir den Ring hin, und ich war überrascht, obwohl ich gewusst hatte, dass er einen kaufen würde, weil wir uns schon seit Ewigkeiten einig waren, dass wir uns verloben wollten, und x-mal über den genauen Ablauf gestritten hatten, und trotzdem fragte er, Willst du mich heiraten?, und ich schaute ihm in die unsicheren Augen und sagte, Ja, und ich erinnere mich nicht, gelächelt zu haben oder ihn lächeln gesehen zu haben, und seine Hand zitterte leicht, als er mir den Ring an den Finger steckte, und er sagte, wir könnten ihn auch umtauschen, denn eigentlich hatte ich mir einen Ring mit vielen kleinen Steinen gewünscht, keinen Solitär, aber ich stellte mir Pat beim Juwelier vor, in dem kleinen Raum, in dem Männer sich die Auslagekästchen anschauen können, die von schönen Frauen in engen Blusen und noch engeren Röcken präsentiert werden, und wie rot und nervös er gewesen sein musste, und die Wut stieg genauso schnell in mir hoch wie die Scham, und hinter meinen Augen rangen sie miteinander, während Pat mich mit angehaltenem Atem ansah, und ich sagte, Nein, Schatz, der ist perfekt, und das war er wirklich.

 

Ich sagte im Krankenhaus nichts von meinen Fehlgeburten, weil ich dazu nicht imstande war und weil ich ohnehin nur hören will, was ich schon weiß, und die rundliche Krankenschwester lächelte mich an und fragte nach meinem Geburtsdatum, und ich fragte, wofür sie das brauche, und sie lächelte wieder und ihr Blick wanderte spöttisch von rechts nach links, und dann trug sie das Datum, das ich ihr nannte, so langsam und sorgfältig in ihr Formular ein, dass es mich rasend machte, und sie nannte mich Schätzchen, obwohl sie mindestens fünf Jahre jünger war als ich, und dann schickte sie mich durch eine Tür mit der Aufschrift WARTEZIMMER ULTRASCHALL, und dann saß ich in einer Runde von zwölf anderen Frauen um einen Tisch mit abgegriffenen Zeitschriften, und die Handvoll verlegener Männer, die nicht wusste, wo sie hinschauen sollte, starrte ausdauernd auf ihre iPhone-Displays. Als ich endlich drankam, war die Ultraschall-Assistentin jung und blond und unfassbar schön, und ich verdrückte eine Träne, als der Herzschlag aus ihrem kleinen Lautsprecher wummerte, und sie streichelte mir die Hand und lächelte und sagte, es sehe alles ganz prächtig aus, und sie druckte einen Bogen mit hellen und dunklen Umrissen für mich aus und überreichte ihn mir, und ich ertrug es kaum, die Bilder anzusehen, ich hörte ein Echo nie laut gewordener Schreie und fragte mich, wie viel Schmerz sie wohl empfunden hatten, meine anderen Babys, als sie aus dieser Welt gingen.

Die rundliche Schwester rief mich noch einmal zu sich, als ich an ihrem Tresen vorbeikam, und fragte, ob ich nicht eben warten wolle, um noch kurz mit dem Arzt zu sprechen, und ich nickte nur, weil mein Mund trocken war und ich meiner Stimme nicht traute, und ein paar Minuten später brachte sie mich in einen Raum, in dem sich nur ein kleiner Schreibtisch, zwei Stühle und ein paar Bücher auf einem Regalbrett befanden, das über die ganze Breite der Wand verlief. Ein großer, dunkelhäutiger Mann stand in dem Zimmer und las ein Kurvenblatt, und als er aufschaute, sah ich, dass er braune Augen hatte und sein Blick verschleiert war, von Müdigkeit, denke ich, und vielleicht noch etwas anderem, und ich starrte ihn viel zu lange an, ohne etwas zu sagen, den markanten Kiefer, das pechschwarze gewellte Haar, das Grübchen im Kinn, die makellosen Zähne. Mein Traum kam mir wieder in den Sinn, ich weiß nicht, warum, das sturmgebeutelte Schiff und die dichtgedrängten ängstlichen Frauen und Kinder und die liegenden, betenden Männer. Er schien zunächst genauso unsicher zu sein wie ich, doch dann lächelte er und stellte mir die gleichen Fragen wie die Schwester, wann meine letzte Periode gewesen sei und ob ich rauchte oder schon mal Probleme mit hohem Blutdruck gehabt hätte, und er sprach mit beruhigender Stimme, aber was genau er sagte, weiß ich nicht mehr, denn in meinem Kopf hatten sich ungebetene Gedanken breitgemacht, an meine dritte Fehlgeburt, von der nur Pat wusste und die wie eine sehr schwere Regel gewesen war, aber ich hatte sofort gewusst, dass mein Körper sich da einer Sache entledigt hatte, die nicht gesund, nicht lebensfähig, ohne Chance gewesen war, und Pat hatte das Blut auf meinem Nachthemd gesehen und die Tränen in meinem Gesicht, und er hatte sich abgewandt und aus dem Schlafzimmerfenster in den Regen gestarrt. Ein paar Monate später stand er mit Blick zu mir an derselben Stelle, nackt bis auf ein Pflaster an der Stelle, an der der Schnitt gemacht worden war, und sagte, Ich musste es tun, Melody, ich konnte nicht anders. Damit so was nie wieder passieren kann.

 

So rechtfertige ich meine Sünde. Dass ich nicht anders konnte. Dass Pat sich hat sterilisieren lassen, um seinen Körper für den Schmerz zu bestrafen, den er verursacht hatte, um sich selbst zu bestrafen, um mich zu schützen, um mich zu bestrafen. Dass das Leben Form und Gestalt ändert, um den eigenen Fortbestand zu sichern, dass das Fleisch darauf programmiert ist, sich fortzupflanzen, dass ich nur ein leeres Gefäß war. Dass zwischen Martin Toppy und mir unausgesprochen etwas stattgefunden hatte, das wir nicht hätten beeinflussen können, etwas, das wir beide spürten und gar nicht verstehen mussten, weil uns das Walten von Natur und Schicksal nicht zu interessieren hatte. Dass der Druck, der sich von Woche zu Woche hinter einem Damm aus Scham und Anstand aufgebaut hatte, ein Segen war. Woher oder von wem dieser Segen kam, wussten wir nicht, und das mussten wir auch nicht, aber wir spürten seine Macht auf den heißen Lippen des anderen, als der Damm in meiner Küche endlich gebrochen war und alles auf uns einprasselte, uns überschwemmte, wir waren besinnungs- und machtlos, wir ertranken und rangen nach Luft, genau wie Ertrinkende. So rechtfertige ich meine Sünde.

Andere würden hingegen sagen: Du dreckige Schlampe. Versuch nicht, es dir schönzureden. Du hast einen Jungen ausgenutzt, der kaum halb so alt ist wie du, hast ihn nur gebumst, weil du dich nicht zusammenreißen konntest. Du konntest einfach nicht anständig bleiben. Du hast während der Nachhilfestunden zu nah neben ihm gesessen, hast ihn immer ein bisschen zu lange berührt, wenn du so getan hast, als würdest du ihn ermuntern und loben; du hattest Blusen an, die einem Blinden die Tränen in die Augen getrieben hätten, und Röcke, die mehr zeigten, als ein Junge sehen sollte, dessen Vater dich nur dafür bezahlt, dass du ihm Lesen und Schreiben beibringst. Die Jogginghose hast du ausgezogen, sobald Pat zum Training los war, kurz bevor Martin kam, und ordentliche Unterwäsche angezogen und dir Parfüm an den Hals getupft, und das ist doch wohl Beweis genug, um dich für schuldig zu erklären, denn all deine Verfehlungen geschahen aus freiem Willen, mit krimineller Absicht und Vorsatz. Du hast diesen Jungen gemartert, ihm ins Ohr gesäuselt, dich an ihn geschmiegt, die Flamme seiner Leidenschaft geschürt, bis sie nicht mehr zu beherrschen war. Welcher siebzehnjährige Junge würde sich nicht in eine Frau wie dich verlieben? Eine Frau, die allen Anstand verloren hat, jede Hemmung. Die sich wie eine Hure auf‌führt, die ihre besten Jahre schon hinter sich hat. Eine irre, lechzende Schlampe.