Neunundzwanzigste Woche

Heute war Mary Crothery plötzlich wieder da. Gott sei Dank!, rief ich, als sie vor meiner Tür stand.

Was denn?, fragte sie und verzog spöttisch den Mund.

Wo warst du?, fragte ich und hörte selbst, wie aufgebracht ich klang.

Geht Sie ’n Scheiß an, erwiderte sie und lachte über meinen entsetzten Blick. Sie deutete auf meinen ordentlich gemähten Rasen und fragte, Wer hat’n das für Sie gemacht?

Mein Vater, erklärte ich, und sie sagte, Na, das is aber nett von ihm. Wenn ich mich so benomm’ hätt’ wie Sie, hätt’ mein Vater mich schon lang abgemurkst. Das muss ’n lascher Mann sein, Ihr Vater. Wie alt isser denn?

Zu Weihnachten wird er zweiundsiebzig, sagte ich, und sie erklärte, ihr Vater sei irgendwas um die vierzig, das wisse keiner so genau, und er habe einen ziemlichen Bauch, sei aber immer noch stärker als jeder Zwanzigjährige und könne es mit jedem aufnehmen, er lehre alle das Fürchten, und dann schlug sie sich die Hand vors Gesicht und fing an zu weinen, ihre schmalen Schultern bebten unter der Jeansjacke, und Tränen vermischten sich mit dem Glitzer auf ihren hautengen Jeans, und ich stand nur da und schaute sie an, und dann wandte sie sich zum Gehen, aber meine Stimme verriet wohl, wie sehr ich sie hierbehalten wollte.

Bitte, sagte ich und nahm ihre Hand.

Sie sah mich an und blinzelte und schnief‌te und sagte, Sie werden mir jetz aber nich lesbisch hier, Miss, oder?

Auf der Hochzeit hatte es einen Streit gegeben. Die Folans waren mit dem Bräutigam verwandt, die Crotherys mit der Braut. Mary war nicht dabei gewesen: Sie hatte im Haus der Cousine ihrer Mutter warten müssen und nur ihren Schwestern mit Outf‌it und Make-up und Selbstbräuner helfen dürfen. Das hätten Sie sehn sollen, Miss, vor allem meine kleine Margaret, ach Gott, die sah so schön aus, ein glitzeriges Oberteil ganz aus Palljetten, in einem V bis zum Bauchnabel, und der Rock hat dazu perfekt gepasst, und die hat vielleicht Beine gekriegt, so lang, das glaubt man gar nich, und es war fast wie früher, und mein Herz wär fast inzweigerissen, als wieder alle ohne mich los sind.

Aber bei der Feier hat’s Krieg gegeben. Mommy hatte ein Angebot für die Folans fertig, für Frieden, und es wurde sogar eine Schiedsfamilie dazugeholt, damit es keinen Streit gab, solange die Angebote gemacht wurden, und Daddy sollte den Folans einen Batzen Geld anbieten, ich weiß nich, wie viel genau, und außerdem hätten wir denen unsere Rechte zum Asfertiern überlassen, in Bezirken, wo wir die schon immer hatten, und meine und Buzzys Scheidung sollte schnell und sauber über die Bühne gehen, und alles wär fast genauso gewesen wie vorher, aber die ham gesagt: Nein. Das wär nich zu verzeihen. Und einer hat gesagt, Daddy hätte Buzzy Mängelware geschickt, und das würden sie nie und nimmer vergeben, und dem hat Daddy eine Ciderflasche übern Schädel gezogen, und damit war der Frieden vom Tisch, und dann ging’s drunter und drüber, und dann kam’ die Bullen, und ganz viele Leute wurden von denen mitgenommen und noch mehr von Krankenwagen, und am nächsten Morgen ham wir nur gemacht, dass wir auf die Fähre kommen. Und den ganzen Weg nach Hause hat Mommy mich runtergemacht. Das is alles nur deine Schuld, hat sie immer wieder gesagt, du bis’ dadran ganz alleine schuld. Und nach ’ner ganzen Zeit hat mein Daddy gesagt, sie soll den Mund halten, weil er glaub ich die Nase voll davon hatte, und dann hat er gesagt, Die kann doch nix dafür, wie sie is, Gott hat gemacht, dass sie keine Kinder kriegen kann, und das war’s, ein für alle Mal, ich will davon nix mehr hören, und Mommy hat mich nur angeguckt wie ’ne Distel im Blumenbeet, aber sie wusste, dass sie besser nich mehr weitermacht, wenn Daddy so is, und die eine Seite von seinem Gesicht is ganz dick geworden, wo ein Folan ihn mit ’nem rechten Haken erwischt hat, und Mommy is mit meinen Geschwistern woandershin auf die Fähre gegangen, aber Daddy is bei mir sitzen geblieben und hat mir von der Prügelei erzählt und wie er einem den Schädel mit ’ner Flasche eingeschlagen hat, weil der mich beleidigt hat, und so glücklich wie da war ich schon ganz lange nich mehr, und das Schaukeln von dem Schiff war auch gar nich mehr so schlimm.

 

Da es eine Schlägerei gegeben hat, wird es jetzt auch eine Fehde geben. Aus heißem Blut wird böses Blut. Und nichts von alledem war Marys Schuld, und Buzzys genauso wenig, über ihnen hatte einfach kein guter Stern gestanden. Jeden Tag warte ich auf die Meldung, und nie kommt sie, aber Marys Eltern sind in höchster Alarmbereitschaft, und es wurde ein halbes Dutzend Cousins am Tor postiert, wo vorher mein verschlafener Wachtposten allein gestanden hat, und es wird von einem fairen Kampf gemunkelt, um die Sache ein für alle Mal zu klären, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Erst mal wird es wohl kleinere Scharmützel geben, und auf beiden Seiten werden Verbündete mobilisiert. Ich fahre jeden Tag zum Stellplatz und hole Mary ab, kein Folan, so wütend er auch sein mag, wäre dumm genug, das Auto einer Sesshaften, einer Bäuerin anzugreifen. Mommy steht an manchen Tagen hinter der Reihe sommersprossiger Wachleute, die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtet mich, während ich warte, und nickt mir zu, wenn ich fahre, und ich strenge mich mehr denn je an, Mary das Lesen und Schreiben beizubringen, um mich in Mommys Augen zu legitimieren, weil sie etwas an sich hat, weshalb ich ihr gefallen will. Mary und ich üben das ABC und lesen Dr. Seuss und Enid Blyton und ein paar Bücher aus der Bibliothek, die für Erwachsene gemacht sind, die in der Schule ins Hintertreffen geraten sind. Und Mary steckt die Hände zwischen die Schenkel und beugt sich tief über die Seiten und gibt sich große Mühe. Und manchmal höre ich Breedies Stimme, wenn sie meinen Namen sagt.

 

Breedie hielt meine Mutter für eine Königin, auf jeden Fall jedoch für irgendeine Art von Aristokratin. Wenn sie zu uns kam, um fernzusehen oder Musik zu hören oder einfach auf der Schaukel zu sitzen und herumzublödeln, fragte sie immer, wo meine Mutter sei, und wirkte enttäuscht, wenn sie, wie so oft, bei zugezogenen Vorhängen in ihrem Schlafzimmer lag und sich ausruhte. Meine Mutter unterhielt sich immer demonstrativ mit Breedie, sie fragte, wie es ihr ginge und wie es ihren Eltern ginge, und bot ihr Kekse und Chips an, und Breedie lehnte immer ab, woraufhin meine Mutter dann jedes Mal sagte, Richtig so, behalte dir deine Figur, und sie lächelte Breedie an und stellte die verschmähten Naschereien stattdessen mir vor die Nase, und während ich sie aß, fragte ich mich, wozu eine Figur wohl gut war und wie sie eigentlich auszusehen hatte, und ich blickte an meinem pummeligen Kinderkörper mit den kurzen Beinen herab und schaute Breedies lange nackte Arme und lange Beine und ihren schmalen Hals und ihre helle Haut und die großen blauen Augen an und spürte eine kribbelnde Mischung aus Bewunderung, Liebe und ungeheurem Neid darauf, dass es ihr gelang, meine Mutter zum Lächeln zu bringen und dazu, sich eine Tochter wie einen Schwan zu wünschen.

Alles an Breedie, das bei ihr zu Hause verkrampft war, war bei uns entspannt: ihre Schultern, ihr Rücken, ihr Blick, sie lachte länger und lauter, wenn sie bei uns war. Meine Mutter hatte bei aller Blasiertheit nie etwas gegen Spaß einzuwenden. Manchmal stand sie an der Spüle und rauchte, während wir draußen spielten, und ich glaube, sie lächelte dabei, auch wenn ich nie lang genug hinsah, um sicher zu sein. Und eines sonnigen Tages schaute ich vom Garten durch das Küchenfenster und sah meinen Vater neben ihr stehen, und sie schauten einander an, und ganz kurz küssten sie sich auf die Lippen, und ich empfand eine Seligkeit, die ich nicht für möglich gehalten hatte. Aber das passierte nur das eine Mal.