Dreiunddreißigste Woche

Ein paar Wochen nachdem Breedie Flynn beerdigt worden war, gegenüber der Kirchenruine auf dem Friedhof in Kilscannell, zwischen ihren Großeltern mütterlicherseits, erzählte mein Vater, er habe ihre Mutter beim Einkaufen getroffen. Sie hat gefragt, ob du mal vorbeikommst, sagte er, und dich einfach mit ihnen unterhältst. Vielleicht ist es ein Trost für sie, mit dir zu sprechen und dich im Haus zu haben, weil ihr doch immer so gute Freundinnen wart. Mein Herz hämmerte vor Angst so heftig, dass ich nur noch verschwommen sah. Auf der Beerdigung hatte ich bei den coolen Mädchen gestanden und nicht mal Erde ins Grab geworfen; ich gab mir die größte Mühe, mit meiner Umgebung zu verschmelzen, unsichtbar zu werden. Wir stellten uns in unseren Uniformen entlang des Kirchhofs auf und bildeten ein Ehrenspalier für ihre letzte Fahrt, und in das Schluchzen mischten sich Spötteleien von den Jungs, die hart wirken wollten, und das Schluchzen war ohnehin nur für den dramatischen Effekt und reine Show, weil Breedie zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen echten Freund mehr hatte. Ich konnte nicht hinsehen, als ihr Sarg zum Leichenwagen getragen wurde, und ich konnte ihrer Mutter nicht in die Augen schauen, und das Herz schlug mir wieder bis zum Hals und gleichzeitig gefror mir das Blut in den Adern, als ich die Trauerrede ihres Vaters hörte, in der er sagte, sein kleiner Engel sei von ihm gegangen, und dann hielt er inne und konnte nicht weitersprechen, und nach einer ganzen Weile verließ er schließlich mit vors Gesicht geschlagener Hand und bebenden Schultern das Rednerpult, und beinahe wäre er auch noch an der Altarstufe gestürzt.

Ich ging die Kieseinfahrt hinauf, zwischen Reihen von im Wind rauschenden Pappeln, und betrachtete das sonnengesprenkelte Grün entlang der Steine, und als ich endlich den Mut aufbrachte, den Blick zu heben, stellte ich fest, dass Breedies Eltern schon an der Tür standen. Ihr Vater sagte etwas, das ich noch nicht hören konnte, und ihre Mutter packte ihn am Arm und sagte mit zusammengebissenen Zähnen, Du hast es mir versprochen, Alan, du hast es versprochen. Ich ging weiter und dachte: Das ist das Mindeste, was ich verdiene. Und sie setzten mich an ihren Küchentisch und boten Kaffee oder Tee oder Saft oder Wasser an, und ich sagte, Wasser, bitte, und sie setzten sich mir gegenüber, und Breedies Mutter fragte: Was ist in dieser Schule mit unserer Tochter passiert? Aber es klang nicht wie eine Frage: Es klang wie eine Überschrift, eine Schlagzeile aus einer dieser Zeitungen, die meine Mutter immer Schmierblätter nannte, wenn sie sie im Transporter meines Vaters oder im Schuppen fand, in dem er oft saß und rauchte und manchmal auch las. Und ich sagte nichts, schaute nur von ihrem Gesicht zu seinem, und als ich dort nichts als Wut sah, keinen Funken Mitleid mit mir – warum hätten sie auch welches haben sollen? –, geriet ich in Panik und fing an zu plärren wie ein Kleinkind. Herrgott noch mal, rief Breedie Flynns Vater, schaute seine Frau an und machte ihr mit einer Handbewegung klar, dass es keinen Zweck hatte.

 

Breedie erzählte mir, sie hätte ihren Vater nicht nur lieb, sie liebe ihn. Und sie hasse ihre Mutter, weil sie zwischen ihnen stehe. Sie erzählte, sie lege im Auto manchmal die Hand auf sein Bein, und er lege seine Hand auf ihre, und so führen sie schweigend dahin, und um die Zeit zu zweit zu verlängern, nehme ihr Vater absichtlich Umwege und seine Hand nur zum Schalten von ihrer. Kein Wort sei zwischen ihnen nötig, weil ihre Gedanken sich ganz von allein fänden, erzählte sie, und dann sehe sie ihn einfach an, seinen markanten Kiefer, das Grün seiner Augen, den Stoppelbart, den er sich nur für sie stehenließ, weil sie gesagt hatte, dass er ihr gefiel, und sie wisse genau, dass ihre Mutter ihn hasse, weil sie ihm dauernd damit in den Ohren liege, er solle sich doch rasieren, und dann betrachte sie seine dunkelbraunen Locken und beobachte, wie sich das wechselnde Licht auf seinem Gesicht und Haar niederließ und weiterflog und sein Aussehen dabei verändere und ihn manchmal sogar noch attraktiver mache, als wäre das überhaupt noch möglich.

Breedie erzählte mir, ihre Mutter betrinke sich manchmal und schmachte ihn dann an und versuche, ihn vor ihren Augen auf den Mund zu küssen, und dabei werde ihr, Breedie, immer ganz übel, und er tue ihr so leid, weil sie wisse, wie er das hasse, und manchmal höre sie die beiden im Schlafzimmer, wenn ihre Mutter weine und frage, Liebst du mich denn nicht mehr? Hast du mich überhaupt jemals geliebt? Und dann liege sie im Bett und starre durch die angelehnte Tür ins Dunkel des Flurs und warte auf einen Schemen, einen Schatten, der jedoch nie kam.

Es müsse eine Verwechslung gegeben haben, sagte Breedie, oder vielleicht hätten sie in einer anderen Zeit ein Verbrechen begangen, und dies sei nun ihre Strafe: Zeitlich versetzt seien sie in dieses Leben geworfen worden, um so lange Qualen zu leiden, bis sie sich von jedweder Sünde reingewaschen hätten.

All dem lauschte ich andächtig und schwor, niemals ein Wort darüber zu verlieren, und ich weinte mit ihr, und ich teilte all ihr Leid, ob ausgedacht oder echt, und glaubte nichts davon und glaubte alles davon, und ich glaubte, dass Breedie daran glaubte, und das war Grund genug, es zu glauben. Und manchmal schaute ich ihren gutaussehenden Vater an und meinte, einen Abgrund in seinen Augen zu erkennen und einen seltsam gierigen Kummer.

Und es kam der Tag, an dem ich andere ihr vorzog und sie aufgab und ohne sie in die Welt zog und über ihre Geheimnisse und über ihre rote, narbenübersäte Haut lachte und nichts sagte, als die Jungs BREEDIE FLYNN BUMST IHREN ALTEN in Neongrün auf die Rückwand des Gaelic-Handball-Courts sprühten und es mit Tipp-Ex auf die schwarzen Bretter in jedem Raum der Schule pinselten.

 

Das konnte ich ihren Eltern doch nicht sagen. Nach ein paar Tagen übersprühte jemand das Graf‌‌f‌iti im Handball-Court, es war ohnehin auf der Innenseite gewesen, wo wir nur zum Knutschen und Rauchen hingingen, Gaelic Handball wurde dort nicht mehr gespielt, weil es mittlerweile eine Indoor-Anlage im Dorf gab, und Breedie ging in jeder Pause mit einer Rasierklinge von Raum zu Raum und kratzte die schwarzen Bretter sauber. Vielleicht war es die gleiche Klinge, mit der sie sich die Arme ritzte, einmal baute sie sich in Physik vor mir auf, krempelte den Ärmel hoch und legte den Unterarm auf den Labortisch, damit ich es sah, und dabei sagte sie kein Wort, beobachtete nur Sekunde um Sekunde mein Gesicht, während ich die tadellos diagonalen Linien betrachtete, die dünne schwarze Krusten trugen und an den Rändern rosa verblassten, die sie auf der Innenseite des Arms vom Handgelenk bis fast hin zum Ellbogen in die Haut gezwungen hatte, und dann krempelte sie den Ärmel wieder herunter und ging zurück an Miss Greenes Pult, weil sie wie immer keinen Partner hatte. Und trotzdem sagte ich den anderen nicht, dass sie aufhören und sie in Ruhe lassen sollten, nicht mal an dem Tag, an dem sie in unserem Klassenraum stand und ihr die Tränen übers Gesicht liefen und sie mich anflehte, Bitte, Melody, bitte, und es muss schrecklich gebrannt haben auf ihrer entzündeten Haut.

 

Und es kam der Tag, an dem Breedie Flynns Mutter aus einem Fenster im Obergeschoss schaute und ihre Tochter vollkommen reglos im Schneidersitz auf dem graslosen Flecken Erde unter ihrer alten Schaukel sitzen sah, in hellgelbe Flammen gehüllt. Sie hatte einen Benzinkanister und ein Sturmfeuerzeug in den Garten ihrer Eltern mitgenommen, sich übergossen und angezündet und war verbrannt.