Fünfunddreißigste Woche

Was bin ich auf einmal dick geworden, ganz prall und stramm und kugelrund. Daddy macht mir morgens Würstchen und Speck und Spiegelei und dick mit Butter bestrichenen Toast und Kaffee mit Zucker und Sahne, und abends gibt es Kotelett oder Steak oder mit Speckscheiben belegtes Brathähnchen, die Haut ganz knusprig, und dazu Kartoffeln und Bratensoße und zu cremigem Püree gestampf‌tes Gemüse, und zwischendurch macht er mir mundgerecht geschnittene und mit gefährlich leckeren Dingen belegte Sandwiches und dick gebuttertes Früchtebrot. Mary Crothery schaut mir beim Essen zu, isst selbst wie ein Spatz und sagt, Ach du lieber Gott, Miss. Sie passen ja bald nich mehr durch die Tür. Sie ham bestimmt ganz Irland die Haare vom Kopf gefressen, wenn das Beeby da rauskommt.

Und mein Vater lacht über jeden ihrer Kommentare und sagt jedes Mal, Du bist mir eine, Mary.

 

Heute lehnte ich in der Küche an der Spüle und schaute aus dem Fenster. Daddy stand an der Hecke im Garten, wo die Ahornbäume und der Holunder sich treffen, er gestikulierte und formte Bilder mit den Händen. Es sah aus, als würde er Selbstgespräche führen oder mit jemandem im Gebüsch reden, aber dann entdeckte ich Mary, die verkehrt herum auf der Bank saß, halb verdeckt vom letzten Baum der Apfelbaumreihe, die den Garten in zwei Hälften teilt. Sie schaute ihn an, während er erzählte, hatte ein Bein unter das andere geschlagen, die Arme auf der Lehne gekreuzt und das Kinn darauf abgelegt. Hin und wieder schien sie zu lachen oder voller Staunen den Kopf zu schütteln. Und mir war klar, dass Daddy ihr etwas über die Tierwelt der Hecke oder über die Blumen und Blüten erklärte, und ich stellte mir vor, ich säße an Marys Stelle dort, gelangweilt und ungeduldig hätte ich mir nur gewünscht, dass er bald aufhörte. Ein Schmerz durchzuckte mich, ein kurzer Moment brennender Reue. Und dann schwiegen sie, und Mary hob das Kinn von den Armen, gemeinsam beobachteten sie etwas neben dem Stamm des Ahorns und hielten ganz still, und nach einer Weile drehte mein Vater sich langsam zu ihr um und lächelte, und Mary hatte die Augen weit aufgerissen und eine Hand vor den Mund geschlagen.

Schließlich kamen sie den sanften Anstieg zum Haus herauf und schienen sich miteinander so wohl zu fühlen, dass ich beinahe erwartete, sie würde sich bei ihm unterhaken, dabei wusste ich, dass sie das nie getan hätte: Das ist einfach nichts, was sie tut. Das weiß ich sicher, dabei kann ich gar nicht sagen, warum und woher. Sie betraten die Küche und trugen an den Schuhen abgemähtes Gras herein, und als ich schimpf‌‌te, spielte Daddy den Genervten und verdrehte die Augen und seufzte und schüttelte den Kopf, und Mary lachte über sein kleines Schauspiel, streif‌te sich die Turnschuhe ab und stand barfuß mit ihren rotlackierten Fußnägeln, den Stonewashed-Jeans und dem rosa Kapuzenpulli da, und Daddy stand hinter ihr und sagte, Junge, Junge, diese Bienen sind schon ein Völkchen, was, Mary? Und Marys Augen strahlten vor Begeisterung über etwas, das sie mir erzählen musste, etwas, das sie gerade erfahren hatte und von dem sie nun wissen wollte, ob ich es schon wusste. Und der Himmel und die Erde und das gemähte Gras und das Vogelgezwitscher und das leise Brummen der Insekten und der schräge Lichtstrahl auf dem zufriedenen Gesicht meines Vaters und das staunende Leuchten in Mary Crotherys Augen und der Geruch der Morgenluft und das Gewicht des Lebens in mir, all das schien im Gleichgewicht und einfach und schwerelos und vollkommen und richtig zu sein, und nichts schien in diesem Augenblick zu fehlen.

 

Die Bienen tanzen, sagte Mary Crothery. Beim lieben Gott, ich hab’s mit meinen eignen Augen gesehn, sonst hätt ich’s nich geglaubt. Ihr Vater hat mir gezeigt, wie die in der Luft tanzen und den andern damit erklärn, wo’s zum Pollenholen langgeht. Die kreisen mit den Beinchen wie beim Irish Dance oder beim Ballett oder so, und die schunkeln und wedeln, und die andern sind alle in der Luft drum rum, wie hieß das noch mal, ach ja genau, im Schwebeflug, und die beobachten das, und so zeigt die tanzende Biene den andern den Weg, und der Pollen kann Kilometer weit weg sein, aber die Tänzerin sagt denen auf den Zentimeter genau, wo die Blumen sind und wie viel Pollen die ham und was das für Blumen auf dem Feld sind und alles, und wenn der Tanz vorbei is, fliegen die andern los, und die Tänzerin ruht sich ein bisschen aus und fliegt dann weiter und guckt nach, wo noch mehr Pollen sein könnte.

Mary setzte sich, schenkte Daddy einen Schluck Tee ein und fragte, ob er ihm so stark genug sei, und er sagte ja, und sie füllte seine Tasse. Dann schenkte sie mir und sich selbst ein, schüttelte wieder den Kopf, senkte die Stimme und fragte mich, ob mein Vater sie auch wirklich nicht auf die Schippe nehme. Konnte das wirklich stimmen? Und ich sagte, Doch, doch, das hätte ich auch schon mal gehört, und Daddy lachte und sagte, Herrje, wenn ich wirklich so gut darin wär, mir Sachen auszudenken, dann wär ich ein reicher Mann.

Und was is mit den Hummeln?, fragte Mary, worauf Daddy den Beleidigten spielte. Er habe ihr doch erzählt, sagte sie, dass niemand wisse, warum Hummeln fliegen können; keiner weiß, wie die ihren dicken Pummelkörper in die Luft kriegen; die Flügel von denen sind ganz klein und könn’ das ganze Gewicht gar nich tragen; dass die fliegen könn’ is, wie heißt das noch mal?

Wissenschaftlich unmöglich, sagte Daddy.

Ach ja genau. Das muss man sich mal vorstellen. Wissenschaftlich unmöglich. Is das nich der beste Beweis? Und wir schauten Mary Crothery fragend an, die durch einen Schleier aus Teedampf lächelte, so gelassen, so glücklich und zufrieden mit ihrer Ausbeute an Mysterien, dem Tanz der Arbeitsbienen und dem Hummelflug, und sie sagte: Is das nich der beste Beweis für die Macht von Gott?

Und Daddy sagte, Das ist es, ganz sicher, und ich schmunzelte und sagte, Ihr zwei habt euch gefunden, was?, und Mary Crothery lachte, und die dunkle Narbe in ihrem Gesicht wirkte in der Morgensonne schon gar nicht mehr so rot.

 

Marys Eltern und ihre Geschwister und die anderen Verwandten vom Wohnwagenplatz an der Ashdown Road waren heute bei Daddy, sie hielten auf dem Grünstreifen vor der Gartenmauer, ein VW Transit mit Mobilheim im Schlepptau, dahinter ein Auto mit Anhänger, dahinter ein weiteres Auto mit Wohnwagen, und die ganze Straße runter standen Transporter und Autos und Wohnwagen, vor den Häusern und Höfen der Comerfords und der Brien Cutters und der Gleesons, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Nachbarn bei dieser Nomadenapokalypse vor ihren Toren in Panik gerieten.

Mary Crotherys Mutter trat allein durch das Tor in die geschotterte Einfahrt meines Vaters, und er und ich und Mary gingen ihr entgegen. An einem gelben Rosenbusch blieb sie stehen und wir auch, und Marys verwundeter Vater saß zusammengesunken, mit düsterem Blick und hängendem Kopf in seinem Transporter und schaute durch das geschlossene Beifahrerfenster zu, wie Mommy lange schweigend eine Armlänge von uns entfernt stand und uns ausdruckslos ansah, die sonnenverbrannten nackten Arme hingen massig an ihren Seiten, das gelbblonde Haar war auf dem Kopf zu einem festen Knoten zusammengebunden.

Wollnse das nich ma asfertiern lassen, Sir? Sie zeigte auf den Boden zu ihren Füßen, und mein Vater sagte, Nein, er würde sich immer wieder für Kies entscheiden. Der schmelze in der Sonne wenigstens nicht. Und Mommy sagte, Kies sei keinen Pfifferling wert, ihr Mann und sein Trupp würden solche Asphaltschichten legen, und sie streckte Daumen und Zeigefinger auseinander, so weit es ging, um zu zeigen, wie dick der Asphalt ihrer Familie war. Wenn Gott will, asfertiern wir Ihn’ das hier irgendwann mal zum Dank. Aber deswegen komm ich ja gar nich, sagte sie und schaute Mary an, die schweigend neben mir stand, Komma her zu mir, Tochter, und Mary ging auf sie zu, und Mommy nahm sie in den Arm und drückte sie an ihre ausladende Brust, und Mary legte die Arme um die breite Taille ihrer Mutter, und so standen sie eine Weile Wange an Wange da.

Wir standen daneben und schauten zu, ebenso wie der ganze Clan mit Kind und Kegel aus den wartenden Gefährten auf der Straße zuschaute, deren Motoren im Leerlauf liefen und deren Auspuffe blaue Schwaden in die saubere Landluft pusteten, und nach einer langen Weile schob Mommy ihre Tochter von sich weg, hielt sie an den Oberarmen und sagte, Wir müssen dich hierlassen und nach Norden gehn, damit wir Schutz von den’ kriegen, die uns welchen bieten könn’. Und dein Vater und deine Onkels komm’ zurück, wenn alles organisiert is, und dann gibts ’n fairen Kampf zwischen zwei Männern und nur zwischen zwei Männern, und mit der Hilfe von Gott sind die ganzen Feuer dann hoffentlich mal gelöscht. Es tut mir leid, was dir passiert is, Tochter, und ich hoff, du kanns’ mir verzeihn, dass ich so hart zu dir war, und wenn wir uns’s nächste Mal sehn, is der ganze Ärger gegessen.

Und Mary Crotherys Mutter zupf‌te aus ihren vielen Ketten eine dünne goldene mit Kreuzanhänger heraus und legte sie ihrer Tochter um, und das Kreuz lag in der Mulde an Marys Hals, und sie betastete es ehrfürchtig und sagte, O Mommy. Da gibt’s nix zu verzeihn. Nich zwischen mir und dir, niemals. Mary Crothery stand mit gebeugtem Kopf, einer Hand auf dem Herzen und einer vor den Augen da, und ihre Mutter ging auf Daddy und mich zu, und sie dankte meinem Vater, dass er ihrer Tochter Zuflucht und Schutz gewährte, und sie schüttelte ihm die Hand und schüttelte mir die Hand, ohne mir dabei jedoch in die Augen zu sehen, und als sie ging, drückte sie Mary einen Umschlag in die Hand und sagte, Kind, das gibs’ du dem Mann. Das is für dasser dich versorgt.

Und ehe mein Vater protestieren konnte, hatte sie sich schon wieder auf den Fahrersitz neben ihren lädierten Gatten geschwungen, und damit war Marys finale Bestrafung vollzogen, sie wurde zurückgelassen. Langsam setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung, doch sie war noch keine zehn Sekunden gefahren, als sie schon wieder hielt und zwei Gestalten vom Rücksitz eines Autos kletterten, eine klein, die zweite nicht viel größer, und sie kamen über den Seitenstreifen und durch unser Tor gerannt, und es waren Margaret und Bridget, die Sandalen trugen und bauchfreie Tops in grellem Weiß, die nackten Beine steckten in knapp abgeschnittenen Jeans, sie waren mit Armreifen und Ringen behangen und schlangen nun die Arme um ihre große Schwester, und alle drei heulten wie die Schlosshunde. Dann ertönte eine Hupe, und sie rannten zurück, und in einem Dunst aus Staub und Dieselabgasen polterte Mary Crotherys Familie davon.