Vierzehnte Woche

Ich verliebte mich in Pat an dem Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal Hurling spielen sah. An jenem Tag erhielt er einen Platzverweis, und als er vom Feld ging, sah er zu mir herüber und zeigte auf mich, wie um zu sagen, Das war für dich, und der Kerl, den er gerade niedergeschlagen hatte, lag noch immer am Boden, und es gab Rangeleien um den Schiedsrichter und den gefallenen Spieler herum, einen Typ, mit dem ich Monate zuvor in einer Jugenddisco eng getanzt hatte, der mich jedoch hinterher ignoriert und im Bus auf dem Nachhauseweg mit irgendeiner anderen geknutscht und am Montag darauf in der Schule irgendetwas Fieses über mich in Umlauf gebracht hatte, ich weiß bis heute nicht, was, und Pat nahm seinen Helm in einer einzigen gekonnten Bewegung ab, und seine Haare waren schweißnass nach hinten gestrichen, und die Sonne schien ihm ins Gesicht, und seine blauen Augen funkelten wie verrückt und hielten meinen Blick, und während er durch die kühle Abendluft zur Seitenlinie schritt, zeigte er auf sein Herz, und meine Knie waren auf einmal so weich, dass ich glaubte, gleich umfallen zu müssen, und Breedie Flynn zerrte an meinem Arm und rief, O Gott, Melody, der zeigt ja auf dich!, und ich war so, so sehr verliebt.

Pat war der erste Junge, den ich je geküsst habe, mit dem ich je Händchen gehalten habe, und bis vor dreizehn Wochen und ein paar Tagen war er auch der einzige Junge, den ich je geküsst hatte. Ich hatte nie die Hand eines anderen Mannes auf meiner Wange gespürt oder dieses durchdringende Verlangen in anderen als in Pats Augen aufflackern sehen. Mit der Zeit verschmolzen wir zu einem einzigen Menschen, glaube ich, und zu sich selbst grausam zu sein, ist einfach. Ich empfinde mich erst als Individuum, seit wir räumlich getrennt sind. Selbst während der Jahre, in denen wir uns hassten, waren wir einander immer nah.

Als wir uns das erste Mal küssten, glaubte ich, alles falsch zu machen. Breedie Flynn und ich hatten es geübt, aber immer ohne Zunge, weil wir meinten, sonst lesbisch zu werden, und wir lachten sowieso viel zu viel, um wirklich etwas zu lernen. Einmal löste Breedie ihre Lippen von meinen und legte ihre Hand an meine Wange, und ich legte meine Hand an ihre, und wir sahen einander in die Augen, und die Zeit floss zäh auf eine Weggabelung zu, und dann lachte ich und sie auch, genau da, wo sich der Weg gabelte. Das Universum erschafft sich in jedem Augenblick selbst, und in jedem Augenblick erschafft es sich neu. Manchmal spüre ich diese anderen Leben um mich herum ablaufen.

Pat schien ein ziemlich guter Küsser zu sein. Er biss mir nie in die Lippen, wie ich es von anderen Mädchen und ihren Freunden gehört hatte, er kniff mir nie in die Brustwarzen oder versuchte allzu grob, mir die Hand unter den Rock oder in die Hose zu schieben. Zuerst war mir das Küssen unangenehm, weil ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte, aber schon bald wurde es das Normalste auf der Welt, ich tat es einfach, wie ich beim Gehen im Kopf vor mich hin sang oder die Blautöne des Himmels betrachtete oder nachts dem flüsternden Wind lauschte und die Stimme meiner Mutter darin hörte.

 

Meine Mutter und mein Vater passten nicht zueinander. Sie war etwa drei Zentimeter größer als er und hatte lange, schmale Hände. Seine waren grob mit Stummelfingern. Sie war Ästhetin und Altphilologin; er wusste nicht, was das war. Sie wollte immer als Akademikerin arbeiten und tat es nie. Er war Vorarbeiter für die Gemeindeverwaltung, meist im Straßenbau. Meine Mutter duftete nach französischem Parfüm und teurem Leder; mein Vater roch nach Schweiß und irgendetwas Stechendem, Schwerem, vielleicht nach Teer oder was für schwarze, klebrige Substanzen seine Tage auch immer ausfüllten. Er schien meine Mutter weder zu interessieren noch zu stimulieren. Er rieb sie nicht auf, wie es ein anderer Mann vielleicht getan hätte, einer, der ihr Schweigen hätte lesen, ihre Algorithmen entziffern können. Ich glaube, das war ihr Problem.

Du solltest längst Projektleiter sein, hörte ich sie eines Morgens zu ihm sagen.

Ich bin nicht gemacht für so einen Job, sagte er.

Ich hörte sie schniefen, und ich hörte ein langes Schweigen, und ich hörte, wie ein Stuhl vom Tisch weggeschoben wurde, und dann sagte die sanfte Stimme meines Vaters, Gut, also dann, und ich hörte, wie er seinen Schlüsselbund nahm, und dann hörte ich sie sagen, Wofür bist du denn gemacht? Wofür, hm? Was kannst du eigentlich? Bist du überhaupt zu irgendwas gut, Michael?

Keine Ahnung, sagte mein Vater. Ich muss dann auch mal los, bis später. Und er ging zur Hintertür hinaus und schlug sie nicht einmal zu, und aus der Küche kam keine Regung, aber ich roch Zigarettenrauch, und die Luft im Flur, wo ich stand und lauschte, fühlte sich kalt an.

Mein Vater schien mir verändert, als er an jenem Abend nach Hause kam. Ich war gerade zehn, und ich hatte ihn immer nur voller Liebe angesehen. Doch jetzt war diese kindliche Trübung meines Blicks verschwunden; das Licht, das immer von ihm ausgegangen war, flackerte und war kurz davor zu verlöschen. Ich taxierte ihn kühl. Was konnte er eigentlich?

Wenn ich heute daran denke, wie ich die Dinge damals sah und die Wut meiner Mutter in mich aufnahm, habe ich das dringende Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wiedergutzumachen, was ich ihm an Schmerz zugefügt haben muss, als ich mich von ihm zurückzog, als ich zuließ, dass meine unschuldige Liebe für ihn befleckt, ausgehöhlt, zersetzt wurde von der Kälte einer Frau, die ich nicht einmal wirklich mochte. Und doch wünschte ich mir nichts sehnlicher, als so zu sein wie sie.

An jenem Abend stürmte ich ihm nicht wie sonst entgegen, er wusste also, dass etwas anders war; ich kam zur Tür, und auf einmal gab es zwischen uns eine Steifheit und Verlegenheit, er muss gespürt haben, dass ich plötzlich kein Kind mehr war, sondern eine weitere Frau in seinem Haus, eine Verlängerung der Frau, die bereits da war und die ihn zu brauchen und zu verachten und manchmal, oft, zu hassen schien.

Er war tief betroffen von meiner Veränderung, aber er ließ es sich nicht anmerken. Ich erkannte es nur an der Art, wie er mich mit zusammengezogenen Augenbrauen ansah, während er mich eine Armeslänge von sich entfernt bei den Schultern hielt und jenes harte Leuchten entdeckte, das er jeden Tag im Blick meiner Mutter sah, und er lachte, als könne er es nicht fassen und als hätte er doch eigentlich die ganze Zeit wissen müssen, dass es irgendwann einmal so weit sein würde. Ich glaube, an jenem Tag, in jenem Moment der Entfremdung, tat er den ersten Schritt auf seinem Weg zum alten Trottel, zu einem alten Mann wie jedem anderen, zu einem in sich gekehrten, langweiligen Menschen, der nur noch vor sich hin lebte und aus einer Art Pflichtbewusstsein weitermachte, weil er das Gefühl hatte, das Ganze jetzt eben durchziehen zu müssen, das Kind aufziehen, die Frau versorgen, Zahlungen leisten, doch für all das würde er am Ende nichts in der Hand halten, auf ihn wartete kein weiches Kissen der Dankbarkeit, auf dem er sich ausruhen konnte, keine Erleichterung darüber, dass seine Arbeit nun getan war und dass er sie gut gemacht hatte, ebenso wenig wie Anerkennung, Liebe und Achtung jener, für die er gearbeitet hatte.

Und dennoch liebte er mich, trotzig und unerschütterlich, und auf die gleiche Weise liebte er sie, denn was blieb ihm auch anderes übrig?

 

Ich war vierzehn, als ich zum ersten Mal die Beherrschung verlor. Es waren die Finger meiner Mutter, die mich explodieren ließen. Ein Rosenkranz war kunstvoll und unnatürlich in sie hineingeflochten. Irgendwie hatte ich ihn vorher übersehen, oder ich hatte ihn gesehen, aber es war nicht zu mir durchgedrungen. Unser Hausarzt hatte mir am Abend zuvor eine Spritze gegeben, damit ich schlafen konnte, dem Schmerz entfliehen. Wir standen auf unserem Posten bei der Beerdigung, Daddy und ich, wie Merkur und Venus vor unserer erloschenen Sonne, Mommys Brüder und Schwestern zu unseren Seiten wie die weiter entfernten Planeten, ein Asteroidengürtel aus Cousins und Cousinen verteilte sich nahe der Türen, aufgereiht entlang der Vorhalle.

Ich sagte, Daddy, was macht der beschissene Rosenkranz da? Sie hat in ihrem ganzen Leben nicht einen einzigen Rosenkranz gebetet! Daddy sah mich nicht an. Er schluckte schwer; in seiner Kehle knackte etwas. Ich erinnere mich an sein bleiches Gesicht, die zusammengebissenen Zähne, das kaum merkliche Zittern seines Kopfes, das nur ich sehen konnte, die zornglühend neben ihm stand.

Ist schon in Ordnung, Liebling, flüsterte er. Das wird immer so gemacht; die haben wohl angenommen, es wäre in ihrem Sinne.

In ihrem Sinne? Ich schrie beinahe, und dann sah ich durch die Rundbogentür am anderen Ende des Aufbahrungssaals einen Cousin, kaum mehr als ein Kleinkind, der in der Vorhalle kicherte. Ich kämpf‌te mich durch den Anstrom der Beileidsbekunder ans Tageslicht. Verwandte, Freunde, Bekannte, alle Trauergäste starrten mich an, ihre Blicke folgten mir auf dem Weg hinaus; plötzlich gab es etwas zu sehen, ein unerwarteter Lichtblick an diesem schwarzen Tag. Ich stürmte auf meinen Cousin zu; er sah mich nicht kommen, oder vielleicht sah er mich, aber ahnte nicht, dass ich es auf ihn abgesehen hatte, und mit der flachen Hand haute ich dem kichernden Jungen eine runter. Meine Hand machte auf seiner Wange ein Geräusch wie ein Peitschenknall. Er kann höchstens acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Dann wirbelte ich herum und packte Frank Doorleys fleischigen Arm. Er hatte am Eingang auf seinem Posten gestanden und die Hospiz-Spendendose bewacht. Los, rein da, nehmen Sie meiner Mutter den Rosenkranz ab. Er regte sich nicht. Machen Sie. Gefälligst. Dass Sie da reinkommen. JETZT!

Auf einen kraftlosen Wink meines Vaters hin tat er wie geheißen. Und die Tür musste für ein paar Minuten geschlossen werden, das Gesicht meines kleinen Cousins, der meine Mutter kaum gekannt hatte, war zu einem jaulenden, atemlosen Schrei verzerrt, und ältere Kinder drückten ihn und versuchten, ihn zu trösten, dann wurde er weggebracht, und die verkürzte Schlange aus Nachbarn und Freunden und Arbeitskollegen meines Vaters und halbvergessenen Verwandten schüttelte die hingehaltenen Hände und entfernte sich dann in stummer Prozession von dieser Peinlichkeit, und Daddy stand still und bleich da und sah Frank Doorley dabei zu, wie er an dem anstößigen Rosenkranz zerrte und zog und ihn Mammy schließlich aus den durchscheinenden Händen schnitt.

 

Nimmst du, Melody, diesen Mann, ihm treu zu sein, ihn zu lieben, zu achten und zu ehren, auf dem Weg zum Hotel mit ihm über die rostige Schrottlaube zu streiten, die sein Cousin als Hochzeitsauto besorgt hat, obwohl er einen fast neuen Mercedes versprochen hatte, ihn während der Fotoaufnahmen unter der Weide am See so fest durch den Hemdsärmel zu kneifen, dass ihm die Tränen in die Augen schießen, dich nicht einmal von diesen Tränen erweichen zu lassen, den ganzen Tag kein einziges gutes Wort für ihn übrig zu haben, dem ganzen Brauttisch vorzuführen, wie stinksauer du auf ihn bist, die vertraute Sorge und den Kummer und die klägliche Resignation im Blick deines Vaters zu sehen, dich nach ein paar Gläsern Prosecco wieder einzukriegen, nur um erneut in Rage zu geraten, weil er dich fast eine halbe Stunde lang allein gelassen hat, um mit seinen dämlichen Kumpels am Hintereingang zu rauchen, in der Eingangshalle, wo dich niemand sehen kann, dein Kleid zu heben, um ihm so fest vors Schienbein zu treten, dass alle Farbe aus seinem Gesicht weicht, ihm während des Hochzeitswalzers mitzuteilen, du hättest die ganze Zeit gewusst, dass er den Tag ruinieren würde, ihm in der Hochzeitsnacht den Rücken zuzudrehen, jeden Tag der zwei Flitterwochen auf den Kanaren mit ihm zu streiten, eines Tages aus einem Bett im Regional Hospital zu ihm aufzuschauen und zu sagen, ihm wäre das ja alles egal, das wissest du genau, er hätte schließlich nie ein Kind gewollt, wahrscheinlich freue er sich sogar, es hätte ihm ja ohnehin nicht in den Kram gepasst, mit der Verantwortung hätte er sowieso nicht umgehen können, wenigstens könne er jetzt weiterhin so viel Zeit, wie er wolle, mit den Jungs verbringen, um dann eine Woche später den Kofferraum seines Autos aufzumachen und eine Tragetasche mit Babykleidung und einem winzigen Liverpool-Trikot mit der Aufschrift SHEE auf dem Rücken zu finden, in guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod euch scheidet?

 

Der Himmel ist seit Tagen tiefgrau. Ich liege schon eine ganze Weile hier. Die Luft ist warm und feucht, bitter auf der Zunge. Meine Gedanken kommen und gehen, bevor ich einen greifen und mich auf ihn konzentrieren kann, als wären sie auf einer Schnur aufgefädelt, die durch mein Bewusstsein gezogen wird. Mein Kopf ist schwer. Das Couchpolster ist der Rand eines Abgrunds: Wenn ich mich hinunterrollen würde, würde ich sehr tief fallen. Vor einer Stunde, vielleicht auch vor einem Tag, hat es an der Tür geklingelt. Mein Handy hat auf dem Couchtisch vibriert, aber ich komme nicht ran. Ich glaube, irgendwann krepiere ich an dieser Übelkeit. Hoffentlich passiert es wirklich, dann sterbe ich einfach hier auf dieser Couch. Ich schaffe es nicht, die Hand gegen mich selbst zu erheben; ich schaffe es kaum, überhaupt die Hand zu heben. Bin ich denn wirklich so ein Feigling? Wenn ich einfach mein Leben aushauchen könnte, ich würde es tun. Es würde eine Autopsie geben und eine amtliche Untersuchung, aber es wäre alles nur Routine, reine Pflichterfüllung. Sie ist eines natürlichen Todes gestorben, das kommt vor, die Wege des Schicksals sind unergründlich. Tragischerweise war sie schwanger, als es zu der tödlichen Arrhythmie kam. Und nur Pat würde die Wahrheit kennen.

Wenn es geht, stehe ich morgen auf und hole mir ein Glas Milch aus der Küche, und eine Packung Kekse. Und dann öffne ich das Fenster kurz, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen. Und dann dusche ich und ziehe mich an und steige ins Auto und fahre dorthin, wo Martin Toppy lebt, und gebe ihm die abgewetzte, eselsohrige Ausgabe des einzigen Buches mit mehr Text als Bildern, das wir je zusammen gelesen haben, weil es mir irgendwie wichtig erscheint, und ich werde mich bei ihm entschuldigen, wenn ich kann, und dann fahre ich zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und setze mich an den Tisch meines Vaters und bin lieb zu ihm und lasse ihn lieb zu mir sein, und irgendwie werde ich ihm klarmachen, dass ihn keine Schuld trifft. Und dann nehme ich all meinen Mut zusammen und lasse die Sorgen hinter mir. Mit Wodka und Valium, glaube ich.

 

Ich habe das Haus heute auf wackligen Beinen verlassen und bin einmal um den Block spaziert, um meinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Dann bin ich bis an die Zufahrt zur Siedlung gefahren und habe dort angehalten und überlegt, ob ich umkehren soll, bis ein Auto hinter mir hielt und ich gezwungen war weiterzufahren, also fuhr ich über den Long Hill und runter zum Ende der Ashdown Road und bog links ab durch einen Durchbruch in einer hohen Mauer, hinein in eine chaotische Ansammlung von Transportern und Wohnwagen und winzigen Bungalows, alle durch eine von der Gemeinde vorgeschriebene künstlich angelegte Bodensenke und einen Betonsichtschutz vor den Blicken sesshafter Augen verborgen. Ich fragte einen dicken Mann mit brauner Hose und einem Netzunterhemd, das seinen gewaltigen Bauch nur halb bedeckte, wo die Toppys wohnten. Er schien eine Art Wachtposten zu sein. Er sah mich ausdruckslos von seiner schmuddeligen Stellung aus an, ehe er sich langsam auf mich zubewegte, sich vorbeugte, um besser in mein offenes Fenster sprechen zu können, und keuchend sagte, Haranuna, nuna, wa? Er legte einen feisten Arm auf das Dach meines Autos und wartete geduldig auf eine Antwort auf das, was offenbar eine Gegenfrage gewesen war.

Von rechts hörte ich eine Frauenstimme sagen, Den brauchnse gar nich fragen, Miss.

Der Wachtposten gab ein mürrisches Grunzen von sich und löste sich von meinem Fenster, um den Blick auf eine kleine, hübsche junge Frau mit geflochtenem rotblonden Zopf und hautengen Stonewashed-Jeans freizugeben. Sie stand in der Tür eines Wohnwagens, der an ein großes Mobilheim angehängt war. Wäre der Frühling schon weiter vorangeschritten gewesen, hätten Blüten in dem Rankgitter um sie herum geblüht. Sie sagte, Die Toppys sind alle weg. Soll ich was ausrichten? Dann stieg sie die Stufen hinab und überquerte den matschigen Untergrund mit beinahe hypnotischem Hüftschwung.

Ich war unerwartet traurig und unerwartet erleichtert. Was hätte ich auch sagen sollen? Wie hätte ich ihm in die Augen sehen können? Was wollte ich hier eigentlich? Ich reichte ihr Martin Toppys Buch durchs Autofenster. Die kommen irgendwann im Sommer zurück, sagte sie, vielleicht Herbst. Die sind zum Asphaltieren weg, sagte sie. Nein, eigentlich sagte sie Asfertiern. Sie sah das Buch an, und ich sah sie an, wie sie da neben meinem Auto stand, und der Wachtposten sah uns beide an. Sie hatte eine Unerschrockenheit an sich, eine kindliche Hast, und irgendetwas war da noch, ich kann den Finger nicht darauf‌legen, was es war, das mich seitdem immer wieder an sie denken lässt.

Welchem Toppy gehört’s denn?

Martin, sagte ich.

Und sie sagte, Es gibt tausendundein’ Toppy hier. Big Martin, Small Martin oder Old Martin? Und ich sagte, ich wisse es nicht, und sie sagte, Sie wüssten’s, wenn Sie Big Martin mal gesehn hätten, so dick is der, und Old Martin wird’s wohl kaum gehörn, also wird’s Small Martin seins sein. Worum geht’s denn?, fragte sie.

Es heißt Danny oder Die Fasanenjagd, sagte ich.

Ich seh doch, wie das heißt, sagte sie. Ich hab gefragt, worum’s geht. Sie sah mich nicht an, betrachtete nur den Umschlag des Buchs.

Ich war überrascht und ein bisschen pikiert, und als ich sie ansah, spürte ich eine ferne Sehnsucht, so jung zu sein wie sie, so schön, so selbstbeherrscht und frei. Ich erklärte ihr, es gehe um einen Jungen, der mit seinem Vater in einem Zigeunerwagen wohnt. Sie erleben tolle Abenteuer zusammen, sagte ich. Es ist eine Geschichte über die Kindheit und das Staunen und die Liebe zwischen Vater und Sohn.

Na, das kann ich mir bei Martin Toppy richtig vorstellen, sagte das Mädchen. Der is völlig verrückt nach seinem Vater. Mick Toppy, das is sein Vater. Der Einzige von denen, der nich Martin heißt. Ihr Martin is sein einziger Junge. Er wär ein Büchsenmacher gewesen, hätt er ihn nich gekriegt. Wissen Sie, was das is? Ein Mann, der schlechten Samen hat, der nur zum Mädchenzeugen gut is. Wie kommt’s, dass die Leute in dem Buch in ’nem Zigeunerwagen wohnen? Is das so’n Wagen wie meiner oder so’n alter, von Pferden gezogener? Sind die echte Zigeuner? Denen kann man nich übern Weg traun. Die klaun einem die Zähne aus’m Maul. Und warum ham Sie überhaupt ’n Buch, das den Toppys gehört?

Ich erklärte, ich hätte Martin bei den Hausaufgaben geholfen. Und sie fragte, Was is passiert, dass Sie so traurig sind? Mir verschlug es die Sprache vor Schreck, und sie schwieg ebenfalls und blickte mich mit Augen an, die ich schon einmal gesehen hatte, und ich bedankte mich dafür, dass sie das Buch weitergab, und sie versprach, es bis zur Rückkehr der Toppys aufzubewahren, und während ich versuchte, meinen Fiesta mit Hilfe der wilden Gesten und Kauderwelsch-Kommandos des Wachtpostens in drei Zügen auf dem matschigen Weg zu wenden, stieg sie die Stufen hinauf zur Tür ihres Wagens, drehte sich mit Martin Toppys Buch im Arm noch einmal um und schaute zu mir herüber, und ich sah, wie der freche, verspielte Ausdruck auf ihrem hübschen, sommersprossigen Gesicht einem wachsamen, verschlossenen, trotzigen wich. Und ich schaute noch einmal in den Rückspiegel, als ich darauf wartete, abbiegen zu können, und da stand sie immer noch da und sah mich ebenfalls an, und die Sonnenstrahlen tanzten im Fensterglas und in ihrem Haar, und mein Herz wurde leichter, und ich spürte, wie das Baby sich zum Schlafen niederließ.