Fünfzehnte Woche

Breedie Flynn in Erdkunde. Am anderen Ende des Raums. Wir sind auseinandergesetzt worden, weil wir gequatscht haben. Sie wirft der feixenden Herde cooler Mädchen finstere Blicke zu. Sie verzieht die Lippen und schnippt mit Spucke getränkte Papierbällchen von ihrem Tisch rüber zu den Jungs. Die quatschen aber auch, Sir, sagt sie plötzlich, und Pornocord Hannigan wendet sich von der Tafel mit seinem Kreidediagramm der Erdschichten ab, und Breedie zeigt auf die coolen Mädchen.

Kümmern Sie sich mal lieber um Ihren eigenen Kram und um die Sechs, die Sie zu Weihnachten von mir bekommen, Miss Flynn.

Sie schenken mir zu Weihnachten eine Sechs? Eine glatte Sex? Sie lässt das S zischen und schürzt die Lippen wie zum Kuss. Die Jungs lachen, und die coolen Mädchen verdrehen die Augen.

Pornocord nimmt seine gewohnte Position ein, der Klasse zugewandt und an sein Pult gelehnt. Wie immer sieht es aus, als hätte er einen Ständer, weil die Cordhosen, die er jeden Tag trägt, sich im Schritt vorwölben. Er verschränkt die Arme und öffnet den Mund, um zu sprechen, aber Breedie kommt ihm zuvor.

Mir gefällt Ihr fetter Ständer, Sir. Und Pornocord Hannigan bekommt große Augen, und er sieht Breedie an, und seine Arme lösen sich aus der Verschränkung, und seine Hände formen scheinbar eigenmächtig einen Schutzschild vor seinem Schritt, und er richtet sich auf und öffnet wieder den Mund, aber es kommt nichts heraus, und Breedie sagt, Na, den an Ihrem neuen Fahrrad. Ist das ’ne Sonderanfertigung?

Und Pornocord sinkt zornrot auf seinen Stuhl, und selbst die coolen Mädchen lachen, und Breedie Flynn zwinkert mir zu, und ich wache gleichzeitig lachend und weinend auf, denn ich bin immer noch hier und sie schon lange nicht mehr.

 

Zu sterben kommt mir genauso unvernünftig vor wie weiterzuleben. Gäbe es doch nur einen Schalter, ein schmerzloses, unmittelbares Herunterfahren, die Gewissheit, dass es zwischen zwei Herzschlägen vorbei ist. Eine Garantie, dass keine Zelle platzen, kein Blutgefäß aus Sauerstoffmangel nachgeben würde, dass wir dem Ende nicht unter sengenden Todesqualen entgegengehen, dass uns kein Boden und keine brechenden Wellen im Fallen entgegenrasen und unsere Körper in Empfang nehmen, zerschmettert, aber noch lebendig, das schwindende Licht noch wahrnehmend. Ich spüre, wie still mein Baby ist, als würde es sich vor meinen Gedanken verstecken. Gefühle dringen auch durch die Plazenta; das habe ich in dem Buch gelesen. Ich bin die Schwerkraft, nach denen sich die Gezeiten meines Babys richten.

 

Ich habe Englisch und Geschichte an der University of Limerick studiert. Ich habe einen Master in Journalismus. Ich habe es immer wieder versucht: Ich habe Artikel über genmanipulierte Lebensmittel geschrieben und über Walfang und die Direct Provision für Asylbewerber; ich habe Bücher und Filme und Theaterstücke rezensiert; ich habe einen spitzzüngigen Artikel über umgekehrten Sexismus als Topos in der Werbung verfasst. Er wurde in der Beilage einer großen Zeitung gedruckt, und als ich mir die Online-Ausgabe ansah, gab es darunter Unmengen an Kommentaren, und mein Magen brannte vor Aufregung, und ich watete hinein und wurde angegriffen und verteidigte meine Position, und ich kostete meine neuerlangte Streitbarkeit aus und schimpf‌te auf diese enggefasste, undifferenzierte, reaktionäre Sparte des Feminismus, ich erklärte mich zu einer Vertreterin der reinsten Form der Gleichberechtigung, ich war so zufrieden mit mir, und dann bekam ich von dieser Zeitung nie wieder einen Auf‌trag.

Ich konnte einfach keine feste Arbeit finden. Ich spürte, wie Pat das genoss. Er wollte mich absichtlich kleinhalten, für mich sorgen, mich von sich abhängig machen. Ich ließ mich als Vertretungslehrerin registrieren, aber ich bekam keine Stelle. Ich machte Aushänge für Nachhilfestunden in Englisch, aber niemand wollte sie – bis auf Martin Toppy, Jahre später, und der wollte sie auch nicht wirklich: Sein Vater hatte meinen Aushang missverstanden. Sie fuhren in einem SUV mit getönten Scheiben vor. Könnse dem Jung’ Lesen beibring’?, fragte Mick Toppy. Auß’er Schule hatter nix als Läuse mitgebracht. Gott dank’s Ihn’. Sein Gesicht war braun, kampfgezeichnet, die Nase platt. Er war Bare-Knuckle-Boxer gewesen und hatte sich ungeschlagen zur Ruhe gesetzt. Man munkelte, er habe mit Drogen, Schutzgelderpressung und gewaschenem Diesel zu tun. Er hielt einen verblichenen, mit Filzstift geschriebenen Zettel in der Hand, auf dem meine Handynummer und Adresse standen. Ich hatte ihn Jahre zuvor selbst an das schwarze Brett in der Kirche gepinnt.

Er reichte mir einen mit Scheinen gefüllten Umschlag und fuhr davon, den Sohn, der auf seine Zehenspitzen sah, ließ er vor meiner Haustür stehen, schweigend und dunkelhaarig und traurig.

 

Ich war noch nicht bei meinem Vater. Es kommt mir weniger dringend vor, seit ich das Traveller-Mädchen kennengelernt habe, und ich kann nicht die geringste Verbindung zwischen diesen beiden Dingen erkennen. Morgen vielleicht. Mein Vater wird seine Tage damit zubringen, am Wohnzimmerfenster zu stehen und Ausschau nach mir zu halten. Er wird Schokokekse im Küchenschrank haben, weil er weiß, dass ich die mag. Er wird richtigen Kaffee dahaben, und er wird die Kekse und den Kaffee um die Stempelkanne herum drapieren, die er extra gekauft hat, obwohl er keine Ahnung hat, wie sie funktioniert. Er hat sie nur für mich gekauft, weil er weiß, dass ich solchen komplizierten Kaffee mag. Ich stelle mir vor, wie er im Laden steht, eine Stempelkanne nach der anderen in die Hand nimmt, sie eingehend betrachtet und wieder hinstellt und versucht, die Unterschiede zu erkennen; wie er fürchtet, die falsche zu kaufen, und die Kassiererin fragt, ob er die richtige Sorte Kaffee dafür ausgesucht hat.

Über meinen Vater nachzudenken, macht mich ganz wirr im Kopf. Ich lasse es einfach. Ich denke nicht an ihn. Aber morgen besuche ich ihn ganz bestimmt. Ich werde ihm sagen, dass es mir gutgeht und dass Pat völlig ausgebucht ist und dass ich ein paar kleinere Sachen für Zeitschriften geschrieben habe und dass ich ihm die Zeitschriften mitbringe, wenn sie erscheinen, und er wird sagen, Ach ja, bitte mach das. Die würde ich wirklich gern lesen. Einmal hat er einen Artikel von mir über Abtreibung gelesen, der in einer Sonntagszeitung erschienen war, und ich sah, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg und er immer wieder die Brille abnahm und sie putzte und wieder aufsetzte, als täte ihm das Lesen meines Artikels in den Augen weh und er müsse deswegen immer wieder Pausen einlegen, und ich hörte, wie er beim Lesen Hmm machte, und als er fertig war, legte er die Zeitung zusammen und faltete sie doppelt, und er sah mich an und sagte, Gute Arbeit, Herzchen, sehr gut, und dann ging er eine Stunde früher zur Andacht als sonst.

Ich hatte heute das Gefühl, mich stärken zu müssen. Also bin ich in die Stadt gefahren und habe Folsäure- und Eisentabletten gekauft. Ich fragte die Kassiererin, was man bedenkenlos in der Schwangerschaft nehmen dürfe. Sie hatte eine sanfte, beruhigende Stimme, aber ich hörte kaum zu: Mein Blick und meine Gedanken waren abgelenkt von den Leuten an den anderen Kassen, Menschen mit Kindern an der Hand, gehetzt und glücklich, getränkt in Normalität.

Die Döschen stehen auf dem Küchentisch vor meinem Laptop. Während ich schreibe, wackelt der Tisch auf seinen ungleich langen Beinen. Die Döschen hüpfen fast ein bisschen, wie kleine Kinder, die rufen, Ich, ich, guck, was ich kann! Ich habe Pat tausendmal gebeten, diesen Tisch zu reparieren. Ich spüre einen Funken Ärger, der ganz schnell ausgewachsenen Zorn entzünden kann. Kaum vorstellbar, und das nach allem, was passiert ist. Ich muss versuchen, mich aufs Ein- und Ausatmen zu konzentrieren, ganz langsam, meine innere Mitte finden. Es beruhigt mich, die Tasten zu drücken und zu sehen, wie die Worte zu Sätzen werden. Ich darf nicht vergessen, das alles hinterher wieder zu löschen.

Martin Toppy hat in seinen Stunden bei mir immer auf diesem Platz gesessen, und ich saß ihm mit dem Rücken zum Fenster gegenüber, dem Licht abgewandt. Pat machte sich vom Acker, wenn er kam, und ging zum Training oder ins Klubhaus oder zu irgendeinem Gemeinde- oder Hurling-Ding oder sonst was, woran ich schon seit Jahren kein Interesse mehr hatte, sie nickten sich nur kaum merklich zu, wenn sie einander in der Küche oder im Flur begegneten. Martin Toppy sprach immer im Flüsterton. Seine Haut war dunkel und sein Haar so dick und schwarz, dass seine Augen noch heller wirkten, sanft und blau wie die eines Babys. Seine Augen schienen vor Kummer immer feucht zu sein; es wirkte jedes Mal, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Seine erste Stunde bei mir hatte er vor einem Jahr, etwas früher. Er sprach kaum. Mit einer Tasse Tee und einem unangetasteten Teller Schokoladenkekse saß er an meinem Küchentisch. Er hielt den Blick gesenkt, seine Wangen waren dunkelrot, trotz der sonnengebräunten Haut. Die Hände, verängstigt wie zum Gebet gefaltet, lagen in seinem Schoß. Ich fragte ihn, ob er das Alphabet könne. Er schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. Für absolute Anfänger hatte ich keine Materialien. Ich hatte nicht damit gerechnet, Lesen und Schreiben unterrichten zu müssen. Ich konnte über die Shakespeare-Stücke sprechen, die in den höheren Klassen durchgenommen wurden, über John B. Keane und Sean O’Casey und Kavanagh und Yeats, den modernen Roman und das Verfassen von Essays. Aber die Scheine fühlten sich durch den ölverschmierten Umschlag hindurch steif und neu an, und ich dachte, So schwer kann das doch nicht sein. Ich schrieb das Alphabet in Groß- und Kleinbuchstaben mit dickem schwarzen Filzstift auf einen großen Bogen Papier. Sein Blick folgte meiner Hand. Ich las es ihm ganz langsam vor. Er nickte leicht bei jedem neuen Buchstaben. Ich schrieb seinen Namen auf. Erkennst du das?

Er schüttelte den Kopf. Die Tränen standen ihm jetzt sichtlich in den Augen. Er verdeckte sie mit einer großen Hand. Ich bin dumm, flüsterte er. Ich bin dumm, Miss.

*

Dieses Baby bleibt. Schon komisch, dass ich das so genau weiß. Wenn ich nicht esse, holt es sich, was es braucht, aus meinem Blut und meinem weicher werdenden Fleisch. Ich wusste es schon vor dem Einsetzen der Übelkeit, vor dem ersten Tag, an dem die Krämpfe ausblieben, von dem Moment an, in dem ich all das geschehen ließ, es war ein Gefühl, als würde sich etwas erfüllen, eine unmissverständliche Schicksalsahnung. Die erste und zweite Fehlgeburt passierten nachts; beide Male wurde ich von einem sengenden, stechenden Schmerz aus Träumen von meiner Mutter gerissen und fand mich in dickflüssigem, dunklem Nass wieder. Die Erinnerung an die Träume kam erst Tage später zurück, und auch nur in einzelnen Bildern: meine Mutter, die mich anlächelt, wie sie es zu Lebzeiten fast nie getan hat, mir ihre kalte Hand zärtlich an die Wange legt und sagt, Mach dir keine Sorgen, mein Liebes, mach dir keine Sorgen.

Pat hat mich gestern spätabends auf dem Handy angerufen. Was kann er mir wohl zu sagen haben? Ich ließ es klingeln, und er sprach weder auf die Mailbox, noch versuchte er es ein zweites Mal.