Achtzehnte Woche

Ach, ja. Offenbar werde ich verrückt. Oder ich bin es schon. Das hat mir Pats Mutter heute gesagt. Ich war schon immer ein fieses Miststück, aber jetzt bin ich auch noch ein irres Miststück. Ein fieses, irres Miststück. Und eine Hure übrigens auch. Pat hat also geplaudert. Er hat ganz schön lang durchgehalten. Sechs Wochen ist es her, dass ich ihm von dem Baby erzählt habe. Agnes sagte: Irgendein dahergelaufener Typ aus dem Internet, das muss man sich mal vorstellen.

Ich hätte fast gesagt, Das war gelogen, Agnes. Das habe ich Pat nur gesagt, damit er sich nicht umbringt. Es war der kleine Traveller, dem ich das Lesen beigebracht habe, und ich konnte nicht anders. Ich war hilf‌los wie ein Kind, das mit dem Rücken zum Wasser am Strand steht und von einer heranrollenden Welle mitgerissen wird. Du weißt doch selbst, wie das ist. Also, hau ab, Agnes, hau bloß ab, ich habe genug von dir und deiner Brut. Hau ab und lass mich in Ruhe, verdammte Scheiße.

Aber ich ließ sie weiterzetern, weil ich dachte: Wenigstens das bin ich ihr schuldig, bei all dem Kummer, den ich verursacht habe. Sie hatte sich selbst aufgeschlossen. Ich glaube, ich habe vor Schreck geschrien, als sie plötzlich im Flur stand. Ich hatte mich wieder übergeben, die letzten Ausläufer des Sturms, und die Toilettenspülung lief noch. Sie sah mich zweimal von oben bis unten an. Sie leckte sich die Lippen, schmeckte die Luft, prüf‌te sie. Sie kräuselte ihre Hakennase. Sie wandte sich an meinen Bauch und sprach so leise, dass es fast ein Flüstern war.

Nach eurer Hochzeit hab ich jahrelang nichts gesagt, obwohl ich wusste, dass er bei dir ein Hundeleben führt. Wie konnten wir überhaupt zulassen, dass er dich heiratet? Ich hatte Pat ausdrücklich gewarnt, dass du ihm nichts als Ärger bringen würdest, Madam. Er hat mit dir wirklich herabgeheiratet. Ich hab ihm gesagt, dass du unter seiner Würde bist, mehrfach hab ich ihm das während eurer Verlobungszeit gesagt. Ich hab getan, was ich konnte, damit er zur Vernunft kommt. Aber du hast deine Vorzüge ja vom ersten Tag an großzügig gezeigt, hast nichts anbrennen lassen mit meinem armen Hornochsen, da hab ich keinen Zweifel. Zum Glück kennen wir ja jetzt endlich alle die Wahrheit über dich. Gott im Himmel, wenn ich nur dran denke! Schwanger von irgendeinem dahergelaufenen Typen aus dem Internet! Und von meinem Pat kein Kind heil austragen können. Aber weißt du was? Gott sei Dank. Wirklich! Gott sei Dank ist kein Kind beteiligt, nur dieses Etwas, das du da in deinem Bauch trägst, und mit Gottes Hilfe auch das nicht mehr lange, wenn es so was wie Gerechtigkeit gibt. Wag es nicht, mich so anzugucken, Madam. Und denk gar nicht erst dran, über mich zu urteilen. Herr Jesus, was für eine Gottschande, dass mein Pat nach all den Jahren, in denen ich ihn großgezogen und mich für ihn aufgeopfert habe, so einen Dreck geheiratet hat.

Und sie sah mich an und zog dabei die hauchdünnen Augenbrauen hoch, als würde sie Zustimmung erwarten, bevor sie noch einmal wiederholte, was ich war:

Dreck.

 

Mary Crothery erzählte: Buzzy hat ganz viele Untersuchungen und Tests bezahlt, um rauszufinden, was nich richtig war, warum ich nich schwanger geworden bin. Wir ham’s Tag und Nacht getrieben, von der ersten Minute in den Flitterwochen bis zu dem Tag, an dem ich ihm weggelaufen bin. Ich hab ihn geliebt, Miss. Es hat mir gar nix ausgemacht, es die ganze Zeit zu treiben. Ein- oder zweimal war ich ganz schön wund da unten, aber ich hab nix gesagt, damit er nich sauer wird. Er hatte ’ne komische Art, das zu zeigen, wenn er sauer war, dann hat er immer eine Kippe nach der andern geraucht und brettsteif und mit durchgedrücktem Rücken im Wagen gesessen und Fernsehn geguckt, und dann wusste jeder, komm gar nich ers’ näher und mach den Mund auf, hat eh kein’ Zweck. Aber nich mal ein Mal hat er mich geschlagen oder angeschrien. Ich hab Mädchen gesehn, die wurden an den Haaren übern Platz geschleift und wegen Kleinkram windelweich geprügelt, wegen falsch gekochtem Essen oder irgendeiner Beleidigung, die nur der Mann sehen konnte und sons’ keiner. Buzzy war außen hart wie Stahl, aber zu mir war er ganz weich und lieb.

Also, es gab einen Deal, bevor wir geheiratet ham. Ich bin nich verkauft worden oder so, aber Geld war im Spiel, und die ham irgendeinen Deal gemacht für Auf‌träge, die wir sons’ nich gekriegt hätten. Das war ein Vorteil für Daddy und die Jungs, und Mommy hat ganz viele Sachen gekriegt, die sie schon ewig haben wollte. Das is jetz’ alles hin wegen mir. Einmal, auf der Hochzeit von einer Cousine von mir oben im Norden, hat mich ein Typ angesprochen, das war bevor ich irgendwas mit Buzzy zu tun hatte, und der Typ hat mir den Arm um die Schulter gelegt und gesagt, wie hübsch ich bin, und hat versucht, mein Handy zu klauen, weil er sich damit anrufen wollte, damit er meine Nummer hat, und aus dem Nichts is Buzzy da gewesen und hat zu dem Typen gesagt, ich wär seine Verlobte, und da hat der Kerl mich nur angeguckt und sich sofort entschuldigt und gesagt, er hätte sich nur mit mir unterhalten, und dann hat er gesagt, Stimmt doch, oder?, und ich hab gesagt, Stimmt, und Buzzy hat ausgesehn, als würd ihm gleich Dampf aus den Ohren rauskomm’, und der Kerl is mit vollen Hosen abgezogen, und das war das erste Mal, dass ich gehört hab, dass ich heiraten soll, und ich war noch nich mal sechzehn, und am Ende von dem Jahr hab ich mit Buzzy in ’nem Wohnwagen gewohnt, in Kent, das is drüben in England. Der Garten von England, nennen die das da. Aber auf dem Platz gab’s nich grad viele Blumen.

*

Agnes sagte: Eigentlich ist er ja mit einem von den Walsh-Mädels gegangen, einen Hof hätte die mit in die Ehe gebracht, und die Eltern sind gute, respektable Geschäftsleute, und sie selbst hatte die Stelle in der Praxis von ihrem Onkel in der Stadt schon sicher, und das alles. Lieber Gott, wenn ich nur dran denke … Was hätten die beiden für eine entzückende kleine Familie abgegeben. Ach, mein Herz hat geblutet, als ich gesehen hab, wie er mit diesem dümmlichen Grinsen im Gesicht und dir am Arm den Weg hochspaziert kam, meine süße Barbara Walsh einfach weggeworfen wie … wie … Müll! Jahrelang konnte ich in der Messe nur zu Boden gucken, aus Angst, sonst dem Blick ihrer Mutter zu begegnen. Ich hatte ihn gewarnt, dass du ein Flittchen bist. Paddy hab ich auch gewarnt. Ich hab gesagt, die Hunde auf der Straße würden nicht mal im Scherz an dir schnüffeln. Ich hab’s ihm gesagt, o ja, dass wir uns vor den Nachbarn zum Gespött machen, wenn wir uns mit Volk wie dir einlassen. Das hab ich meinem Pat gesagt. Die ist unter deiner Würde, hab ich gesagt. Aber du hast deinen Willen ja gekriegt. Und jetzt hast du ihn ausgesaugt und allegemacht. Hast ihm alles genommen. Meinem Pat, meinem armen kleinen Idioten, hast ihm Herz und Seele in Stücke gerissen und das Leben ruiniert, er kann ja kaum noch den Kopf hochheben. Herr Jesus, wenn ich nur dran denke … Ach, lieber Gott.

Und sie schluchzte und hielt kurz inne, um Atem zu holen und sich die Augen trockenzutupfen und die große, schmale Nase zu putzen, und ich machte den Mund auf, um ihr mal die Wahrheit über ihren armen Idioten, ihren süßen kleinen Jungen, meinen Goldmann, meinen perfekten, blauäugigen Liebsten zu erzählen: dass er stundenlang Pornos auf seinem Laptop guckte, die ihn auf die wildesten Ideen brachten, dass er in die Stadt fuhr, um dort mal so richtig loszulegen, mal einer zu zeigen, wo der Hammer hängt, sie sich ordentlich zur Brust zu nehmen, bis zu den Eiern in ihr zu versinken und hinterher verschwitzt und rotgesichtig und keuchend die Hose wieder anzuziehen und auf ein Küsschen zu warten oder wenigstens ein Lächeln, irgendeine Milderung durch die dunkelhaarige Frau, die sich erschöpft auf dem niedrigen Bett räkelte und sich bereitmachte für den Nächsten, der kam.

 

Mary Crothery sagte: Sie könn’ komm’, wann Sie wolln. Immer wenn Sie einsam sind. Ich bin auch ziemlich oft einsam. Da muss man sich gar nich für schäm’. Ich bin immer alleine. Meine Mommy will nix mehr mit mir zu tun haben, außer wenn sie mir Einkaufstüten reingibt und sagt, dass ich zu nix zu gebrauchen bin. Ich pass für Sie auf das Buch auf, und wenn Pappy oder Mommy fragt, dann kann ich sagen, dass Sie mir Lesen lernen. Ich hab’s da oben in den Schrank gelegt. Ich sag, Sie sind von der Gemeindeverwaltung. Und dass Sie komm’, weil ich von der Schule musste und da nich ein Wort und eine Zahl gelernt hab. Als ich Sie zum ersten Mal gesehn hab, wusst ich, dass Sie’n guter Mensch sind. Deswegen hab ich Ihnen auch das mit Buzzy erzählt und so. Aber nich weitersagen. Wann komm’ Sie mich denn wieder besuchen?

Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, Mary.

Klar schaffen Sie das. Sie sind so schön, Miss. Wie heißen Sie noch mal?

Danke, Mary, du aber auch. Melody Shee.

Das is echt ’n schöner Name, ehrlich. Und als ich ging, wurde sie rot und hielt sich den geflochtenen Zopf vors Gesicht und sagte: Wissen Sie was, wir sind uns ganz schön ähnlich, wir beide.

 

Agnes sagte: Denkst du denn gar nicht an deinen armen verwitweten Vater? Du bringst ihn noch ins Grab, den armen Unglücksraben.

Ich weiß nicht genau, was ich darauf erwidert habe, aber es war irgendwas in dieser Richtung: Agnes, du weißt aber schon, dass Pat dich hasst, oder? Und Paddy hasst dich genauso. Wegen dir hat Fidelma versucht, sich umzubringen. Du bist ein ekelhaftes Scheusal, Agnes. Du hast ihnen allen das Leben versaut, lange bevor es mich gab. Und die Walshes hätten ihre kleine Barbara nicht in einer Million Jahren einen aus deiner Familie heiraten lassen. Leute wie die würden dich nicht mal anpissen, wenn du brennst, Agnes. Die lachen über dich mit deiner ewigen Katzbuckelei und deinem Gekrieche. Und was machst du dir überhaupt Gedanken um meinen Vater? Wenn ich Dreck bin, dann stamme ich doch sicher auch von Dreck ab, oder nicht? Er freut sich jedenfalls, dass ich von einem richtigen Mann schwanger bin und nicht von einem Freak wie deinem kleinen Pat. Guck dir mal seinen Browserverlauf an, den vergisst er nämlich immer zu löschen. Als ich mit ihm zusammenkam, hat er noch ins Bett gemacht. Nur wegen mir ist er jetzt trocken. Und bis heute weint er im Schlaf, wacht schweißgebadet auf und ruft, Geh weg, Mammy! Geh weg, Mammy! Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, und Gott sei Dank geht es mich auch nichts mehr an. Also hau ab, und heul in deine Rührschüssel, und bring zu Ende, was du angefangen hast, nämlich den armen Paddy zu Tode zu foltern. Lass dich hier ja nie wieder blicken. Wenn ich dein Gesicht noch ein einziges Mal sehe, dann schlag ich zu.

Da füllten sich ihre Augen mit Tränen, und auf einmal wirkte sie steinalt und müde. Das Glühen der Wut wich aus ihrem Gesicht, und ihre Haut verwandelte sich vor meinen Augen in Krepp, durchzogen von Falten und winzigen blauroten Äderchen. Sie wandte sich zum Gehen, der Gürtel ihres Mantels hing nur noch in einer Schlaufe und schleif‌te verloren auf dem Boden hinter ihr her. Sie war schon auf halbem Weg zu ihrem kackbraunen Micra, der die Einfahrt der Nachbarn zuparkte, als ich leise ihren Namen rief und sie stehen blieb.

Ich hätte das nicht sagen sollen, Agnes. Nichts davon. Ich wollte dich nur verletzen.

Und sie gab einen schwachen Ton von sich, wie ein müdes höhnisches Lachen, und sah mich wieder an, wie ich an der Türschwelle stand, die Arme vor der Brust und über meinem Bäuchlein verschränkt, und ihr Blick ruhte kurz dort, und meine rechte Hand rutschte unwillkürlich schützend davor, und sie sagte, Ich weiß, wie es ist, seine Mutter in jungen Jahren zu verlieren.

Sie hielt inne, als würde sie überlegen, ob sie fortfahren sollte oder nicht, sie tat es, mit leiser Stimme, den Blick nicht auf mich, sondern auf einen Punkt hinter meiner Schulter gerichtet. Ich hab das bei dir immer gespürt, diese Verlorenheit, die Last des Kummers, und ich hab mit dir gefühlt. Wir hätten Freundinnen sein können, weißt du? Wenn du nur nicht so ein Irrwisch gewesen wärst, nicht dauernd so einen Wirbel gemacht und Pat getriezt hättest, er wusste ja nie, womit du als Nächstes um die Ecke kommen würdest. Jederzeit hättest du in meiner Küche sitzen und Tee trinken und dich mir anvertrauen können, da hätte ich mich gefreut. Aber das ist jetzt auch egal, wir können es nicht ungeschehen machen. Es ist, wie es ist, und wir sind uns einig, dass wir uns uneinig sind, und ich nehme dir jetzt das Versprechen ab, dass du Pat in Ruhe lässt und ihn da weitermachen lässt, wo er ist, damit er sein Leben leben kann, und wir sagen kein Wort mehr außer Auf Wiedersehen.

Also sagte ich, Auf Wiedersehen, Agnes, und sie nickte, und ich schaute ihr nach, wie sie eine Katze von der Motorhaube verscheuchte und mit flatterndem Mantelgurt in der Tür davonfuhr.

 

Das ist mehr, als ich seit langem geschafft habe. Agnes und ich sind ein für alle Mal miteinander fertig. Viel gab es da auch nicht zu beenden. Sie hat mich immer bloß geduldet, und andersherum war es genauso. Mary Crothery hat mir eine Geschichte erzählt, und ich habe das Gefühl, ihr dafür eine Geschichte schuldig zu sein, aber was gibt es über mich schon zu erzählen? Ich habe den ersten Jungen geheiratet, den ich je geküsst habe. Ich habe vier Jahre lang studiert, ohne einen anderen zu küssen oder die Hand eines anderen zu halten oder spätnachts schweißgebadet vor Lust mit einem anderen zu flüstern. Gegen Ende des zweiten Studienjahrs fing ich an, auf ihm herumzuhacken, ich ließ ihn zwar in meinem winzigen Bett im Studentenwohnheim übernachten, aber manchmal drehte ich ihm dabei den Rücken zu oder schüttelte seine Hand ab oder erwiderte seine Küsse nicht, und dann fragte er, Was ist denn, Melody? Was ist los? Was hab ich gemacht? Und ich gab ihm nie eine Antwort, die er verstehen konnte oder die ich selbst verstanden hätte. Bei Anbruch der Dämmerung musste er dann erschöpft und mit schweren Lidern raus und zu seiner Ausbildung, und an manchen Tagen habe ich mich nicht einmal verabschiedet. Trotzdem blieb er bei mir, und auch ich hatte panische Angst, ihn zu verlieren, und wir bestanden darauf, einander zu heiraten und uns auf furchtbarem, angenehm vertrautem Schmerz zu betten.

Es war nicht alles schlecht. An mir ist nicht alles schlecht. Ich bin nicht böse oder unrettbar verloren. Ich habe mir das hier alles noch mal durchgelesen, und ich erkenne mich nicht wieder, aber ich weiß genau, dass ich immer die Wahrheit geschrieben habe. Dass diese Worte, in einem Ordner auf meinem Laptop-Bildschirm versteckt, noch da sind, hat etwas zu bedeuten. Bist du das, Baby? Führst du meine Hand von deinem Dunkel aus, vom einzigen Ort der Wärme in mir? Flüsterst du mir zu, dass ich dir eine Geschichte erzählen soll?