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Ich sitze auf der Bank neben dem Eingang zum Queen’s Theatre, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Es ist spät, fast schon Mitternacht.
Der Einzelunterricht ist längst vorbei. Die Studenten sind im Bett, und ich sollte zu Hause sein.
Warum bin ich hier?
Auf diese Frage gibt es eine sehr einfache Antwort.
Ich möchte mich ihr nahe fühlen.
Sophia.
Hier kann ich sie spüren. Sie sehen. Mich daran erinnern, wie sie heute Morgen in dieses Theater gekommen ist.
Ich runzle die Stirn.
Sie war etwas aufgeregt, sich ihrer Sache nicht ganz sicher. Und trotzdem ist sie auf der Bühne in ihrer Rolle völlig aufgegangen.
Wie kann ein Mädchen einen Mann so berühren?
So etwas darf mir nicht passieren.
Doch ich schaffe es nicht, Sophia aus meinen Gedanken zu vertreiben. Ich denke täglich an sie, jede Nacht, wie sehr ich mich auch bemühe, es nicht zu tun.
Ich dachte, ich könnte damit umgehen. Aber das stimmt nicht.
Sophia ist wie ein Lichtstrahl. Ich schwöre, das Theater war heller, als sie sich darin aufhielt.
Selbstverständlich habe ich nichts von meinen Gefühlen gezeigt. Ich war der strenge Lehrer. Hart, aber gerecht, manchmal auch freundlich. Ich habe sie nicht geschont.
Als sie wieder sagte: »Jeder Mensch trägt auch Helligkeit in sich«, konnte ich mich fast nicht mehr beherrschen.
»Nicht jeder«, widersprach ich.
Aber ich habe mich geirrt. Auch in mir ist Licht. Sophia hat etwas an sich, was mich heller macht. In ihrer Anwesenheit bin ich offener. Verletzlich.
Ich hasse es, wenn mir die Kontrolle entgleitet. Aber ich mag es, mich menschlich zu fühlen. Das habe ich sehr lange nicht mehr getan.
Für Sophias Einzelunterricht suchte ich das Stück Call of the Night aus, es ist frivol und handelt von einer verführerischen Ballerina.
Man könnte auch sagen, ich habe versucht, mich selbst zu quälen. Oder zu testen. Vielleicht auch beides. Aber ich bin ein erfahrener Lehrer und wusste, dass es eine gute Rolle für Sophia war. Eine, an der sie wachsen konnte. Die sie auf die nächste Stufe bringen würde.
»Das schaffe ich nicht«, sagte sie zunächst. Sie war sich sicher, dass die Rolle zu schwer für sie sei.
Aber das fand ich nicht. Es gelang mir, sie zu überreden, auf die Bühne zu gehen.
Dann bot ich ihr an, Jonathan zu spielen, einen älteren Mann, den Jennifer verführen will.
Es war die reine Folter, aber ich musste es tun, sonst wäre es nicht fair gewesen. Ich konnte sie nicht anders behandeln als die anderen Studenten. Es ist meine Aufgabe, sie bestmöglich zu unterrichten.
Anfangs spielte Sophia Jennifer sehr gut, sie begann sogar zu improvisieren. Und sie war sexy – wie es die Rolle von ihr verlangte. Aber dann verlor sie den Faden.
Und ich war schuld daran. In dem Moment wusste ich, dass sie auch etwas für mich empfand. Es war ihrer Miene anzusehen.
Ich musste den Unterricht sofort beenden. Mir war klar, dass ich mich nicht mehr länger beherrschen könnte. Ich wollte sie packen, sie küssen, sie mit Leib und Seele in Besitz nehmen. Sie unterwerfen und sie fühlen lassen, was sie noch nie gefühlt hatte. Dinge, von denen sie nicht wusste, dass sie ihr gefallen würden.
O mein Gott.
Nähe. Daran bin ich nicht gewöhnt.
Ich muss darüber hinwegkommen. Ich muss die Kontrolle zurückerlangen.