Livia Fröhlich
Das Geschenk
S
cheiße, Henry, was soll das?« In wütendem Triumph hielt Evelyn ihrem Ehemann den roségoldenen Gegenstand unter die Nase. Im oberen Flur polterten Bobby-Car-Reifen über die polierten Holzdielen. »Ins Bett, sagte ich!«, rief Evelyn die Treppe hinauf. »Ich lese sonst nicht mehr vor!«
»Eve, bitte! Hör auf.«
»Was? Willst du sie ins Bett bringen?«, blaffte Evelyn.
»Nein, das meine ich nicht.« Henry deutete mit einem stummen Nicken auf das Handy in ihrer Hand.
»Ich
soll aufhören?«, fauchte Evelyn. »Ich?! Komisch, ich kann mich entfernt daran erinnern, dass wir uns darauf geeinigt hatten, dass du
aufhörst!«
»Und das habe ich!« Henrys Stimme ließ jede Empörung missen. Im Gegenteil. Er klang erschöpft.
»Dann erklär’s mir! Nenn mir nur einen einzigen einigermaßen plausiblen Grund, wie in einer Abteilung, in der ausschließlich Männer arbeiten, ein rosa Handy mit Strassherz in deine Aktentasche kommt.«
»Ich weiß es nicht. Okay?«
Evelyn lachte auf. »Wie schaffst du es nur mit deiner Eloquenz, so viele Frauen abzuschleppen? Überspringst du den Teil mit dem Reden einfach und legst sie gleich flach?«
»Eve«, warnte Henry sie müde, »lass es.«
Evelyns Augen füllten sich mit Tränen. So kam es immer, wenn die anfängliche Fassungslosigkeit und Wut der ernüchternden Erkenntnis wichen, dass er es wieder getan hatte. Er hatte sie wieder betrogen; ihre Ehe, ihre Familie, das Leben, das sie ihm aufgebaut hatte, mit Füßen getreten. Denn eines stand fest: Ohne sie hätte er nichts von alldem gehabt. Es war das Vermögen ihres Vaters, das ihnen das Reihenhaus im noblen Innenstadtviertel ermöglichte. Es waren ihre Kontakte aus dem Medizinstudium, die Henry aus dem versifften Kellerbüro seines Kumpels in die Führungsetage eines zukunftsträchtigen Pharmaunternehmens katapultiert hatten. Sie hatte ihm zwei wundervolle Kinder geboren, einen Jungen und ein Mädchen, wie es im Lehrbuch stand, die sie mit all ihrer Liebe und Hingabe überschüttete. Sie besuchte Elternabende, backte bergeweise Kuchen für Schulfeste und organisierte Kindergeburtstage. Sie schickte seiner Mutter Blumen und traf sich mit seiner Schwester zum Lunch. Und mit nichts, absolut nichts davon, behelligte sie ihn. Denn alles was sie wollte, war, Henry glücklich zu machen. Zu wissen, dass er niemals in seinem Leben die Entscheidung bereute, sie geheiratet zu haben.
»Ich gehe jetzt hoch, die Kinder ins Bett bringen«, sagte Evelyn bemüht nüchtern und wandte sich ab, ehe Henry ihre Tränen sehen konnte. »Kümmerst du dich bitte um das Käsesoufflé? Es muss in einer Viertelstunde in den Ofen.« Den Fuß auf der untersten Stufe, hielt sie inne. Als könne sie sich emotional daran aufrichten, hatte sie nach dem Treppengeländer gegriffen und dabei bemerkt, dass sie noch immer das fremde Telefon in ihrer Hand hielt. Sie betrachtete die schimmernde Hülle mit dem billigen Herzen neben der Kameralinse, dann legte sie es auf den zierlichen Konsolentisch im Jugendstil, den ihnen eine Großtante zur Hochzeit geschenkt hatte. Ohne Henry anzusehen, murmelte Evelyn resigniert: »Mach damit, was du willst.« Sie interessierte sich nicht für die Verzweiflung, die ihm ins Gesicht
geschrieben stand, nicht für die Hilflosigkeit, mit der er sich durch das von ersten grauen Strähnen durchzogene Haar fuhr. Beides hatte sie schon oft genug gesehen. Auf beides war sie oft genug hereingefallen.
»Winston! Kommt rein. Meredith, schön dass wir uns heute gleich zweimal sehen.«
»Mummy, sie sind da.« Natalies Kopf schlüpfte unter ihrer Einhorndecke hervor. »Dürfen wir Hallo sagen? Nur ganz kurz?«
»Oh Mum, bitte!«, stimmte Ethan vom Bett neben ihr ein.
»Nein, ihr zwei! Schluss jetzt. Ihr solltet längst schlafen.«
»Aber Winston ist voll cool, Mum. Er kann Zaubertricks.«
»Falls er uns einen vorführt, nehme ich ihn für dich mit dem Handy auf. Einverstanden?« Evelyn arbeitet sich von Natalies Seite hoch, küsste ihre Tochter auf die Stirn und ging dann zu Ethan hinüber, der trotz ihres Vorschlags schmollte. »Schlaf gut, mein Großer. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Mum«, gab er murrend zurück.
Evelyn strich ihm den Pony aus dem sommersprossigen Gesicht. Er hatte Henrys haselnussbraune Haare. Seine dichten, strubbeligen Locken, die sie von ihrer ersten Begegnung an fasziniert hatten. Sie waren beide gerade mit der Schule fertig gewesen. Auf einem neapolitanischen Flughafen hatten sie nebeneinander vor der Anzeigetafel gewartet und im selben Atemzug aufgestöhnt, als ihr Heimflug gestrichen worden war. Kurz darauf hatten sie mit Sandwiches aus dem Automaten auf ihren improvisierten Nachtlagern im Terminal gehockt und lachend über das Schicksal philosophiert. In diesem Augenblick hatte Evelyn beschlossen, nie wieder einen Tag ohne Henry zu verbringen.
»Schatz? Kommst du?«, hörte sie ihn durch das Haus rufen. »Meredith und Winston sind da.«
Evelyn verkniff sich das genervte Schnauben und begnügte sich mit
einem Augenrollen, das die Kinder in der Dunkelheit nicht sehen konnten. »Gute Nacht, ihr zwei«, flüsterte sie, dann zog sie mit einem leisen Klicken die Tür hinter sich zu.
»Und? Schlafen die beiden?«, erkundigte sich Henry, der am Fuß der Treppe auf seine Frau gewartet hatte.
»Nein«, zischte Evelyn ihn an und schlüpfte in ihre schwarzen High Heels, die neben der Haustür standen. »Und selbst wenn, wären sie dank deiner blendenden Idee, durchs Haus zu brüllen, jetzt wieder wach.«
»Entschuldige«, lenkte Henry mit schuldbewusster Geste ein.
Evelyn sah ihn zornfunkelnd an.
»Wirklich! Ich hab nicht drüber nachgedacht, okay? Können wir diesen Abend bitte nicht so verbringen? Mit Streiten und bösen Blicken, meine ich. Du hattest dich so darauf gefreut.« Zögernd streckte er die Hand nach ihr aus.
Evelyn widerstand dem Drang ihren Arm zurückzuziehen. Er hatte recht. Das hatte sie tatsächlich. Sie mochte Winston und seine Frau. Nicht, dass sie viel miteinander zu tun hatten. Sie waren keine Freunde, mehr gute Bekannte. Winston und Henry arbeiteten zusammen, Meredith war bei der Kriminalpolizei. Die beiden hatten keine Kinder, weshalb sie sich bei denen anderer Leute überschlugen, wie das große purpurfarbene Geschenk auf dem Couchtisch mit weinroter Satinschleife bezeugte.
»Gut, meinetwegen.« Evelyn atmete tief durch. »Du hast recht. Ich muss mein Misstrauen hinter mir lassen, um mich den positiven Dingen, die die Zukunft für uns bereithält, zu öffnen.«
Henry lächelte dankbar. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich bin froh, dass wir diese Therapie gemacht haben.«
»Du warst nur zweimal mit«, erinnerte Evelyn ihn.
»Ja, aber das waren zwei lebensverändernde Male«, wandte Henry mit verschmitztem Grinsen ein.
Evelyn konnte seinen jungenhaften strahlenden Augen nicht widerstehen. Milde erwiderte sie sein Lächeln. »Hoffen wir’s.«
Sie ließ sich von ihm in den Arm ziehen.
»Eve, ich liebe dich.«
»Ich dich auch, Darling.«
Während Henry sie küsste, lugte Evelyn an ihm vorbei zu dem Telefontischchen. Das Handy war fort.
»Das war wirklich köstlich!« Zufrieden schnaufend legte Winston die Stoffserviette vor sich auf die weiße Damasttischdecke und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Henry, für eine Frau, die so kochen kann, würde ich töten.«
»Tatsächlich?« Lachend schlug Meredith ihrem Mann mit dem Handrücken gegen den Oberarm. »In diesem Fall müsste ich dich leider festnehmen, mein Schatz.«
Winston nahm die Hand seiner Frau und führte sie an seine Lippen. »Von niemandem würde ich mich lieber in Handschellen legen lassen.«
»Oh, hattest du schon so viel Wein?« Meredith sah ihn mit gespieltem Tadel an, bevor sie sich an ihre Gastgeberin wandte. »Aber im Ernst, Evelyn, Liebes: Das Soufflé war ein Traum! Ich bezweifle, dass ich je ein besseres gegessen habe.«
»Hört, hört! Und das von einer Frau, die die Hälfte ihres Lebens in Frankreich gelebt hat.«
»Studiert, mein Liebling, studiert. Und ich wünschte, ich wäre in einem Alter, in dem das die Hälfte meines Lebens ausmacht.«
»In Frankreich?«, hakte Henry interessiert nach und nahm einen Schluck Wein. »Wo in Frankreich?«
»Lyon.«
»Ich habe quasi eine Französin geheiratet«, erklärte Winston voller Stolz.
Meredith stieß ein fröhliches Lachen aus. »Ich wünschte, es wäre so. Dafür fehlen mir leider Figur und Grazie. Dennoch liebe ich Frankreich über alles!«
»Und was hat dich dann dazu bewogen zurückzukehren?«, erkundigte sich Evelyn.
Meredith’ glockenklares Lachen erstarb. Sie griff nach ihrem Weinglas. »Ein Verlust in der Familie«, entgegnete sie knapp und nahm einen großen Schluck.
Evelyn und Henry tauschten betretene Blicke.
»Das Huhn. Ich denke, ich werde dann mal das Huhn holen«, verkündete Evelyn verlegen.
Henry sprang auf. »Warte, ich helfe dir beim Abräumen.«
Doch Evelyn lud den Stapel aus vier kleinen Auflaufformen nebst Vorspeisentellern bereits auf ihren Arm. »Schon gut. Leiste du unseren Gästen Gesellschaft und kümmere dich um die Getränke.« Sie beugte sich zu Henry hinab, um ihn zu küssen. Einen Kuss, den er mit spürbarer Erleichterung erwiderte.
Mit dem Ellbogen drückte Evelyn die Küchentür auf. Innen fiel etwas zu Boden. Den Tellerstapel vorsichtig durch den Spalt balancierend, erkannte sie, dass es Henrys Arbeitsjackett gewesen war. Er musste es vor dem Essen über die Klinke gehängt haben. Der rosé glänzende Gegenstand war herausgefallen. Evelyn verlor das Gleichgewicht. In letzter Sekunde fing sie die Teller auf. »Scheiße«, murmelte sie. Was hatte sie denn erwartet, was mit dem verdammten Ding geschehen war? Es konnte sich ja schwer in Luft aufgelöst haben. Vermutlich hatte Henry es in die Jackentasche gesteckt, um am nächsten Tag im Büro den Besitzer ausfindig zu machen. Evelyn stellte das Geschirr auf den weiß lasierten Küchentisch und hob das Jackett auf. Als sie nach dem Handy griff, bemerkte sie, dass es die groben Terrakottafliesen bläulich anstrahlte.
Sie drehte es um. Der Kalender erinnerte den Besitzer an einen Termin: Essengehen mit Henry. Note: Er wünscht sich das Rote.
Binnen eines Herzschlags fluteten Tränen Evelyns Augen. Sie schlug mit der flachen Hand gegen die Anrichte, so hart, dass sie vor Schmerz fluchte.
»Alles gut bei dir, Eve?«, hörte sie Henrys Stimme besorgt aus dem Esszimmer.
Evelyn blinzelte die Tränen fort. »Ja-ha!«, rief sie so fröhlich zurück, wie es die Wut, die ihr die Kehle zuschnürte, zuließ. »Nichts passiert. Hab mich nur gestoßen. Alles gut.«
Mit zitternden Händen zog sie die Ofenhandschuhe über und holte die Platte mit dem Huhn, den glasierten Möhren und provenzalischen Kartoffeln aus dem Ofen. Sie würde das schaffen. Sie würde dieses Abendessen über die Bühne bringen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Sie würde ihre Verzweiflung und Enttäuschung verbergen, wie sie es schon so oft getan hatte. Und dann, dann, wenn der Abend vorbei war, wenn Winston und Meredith nach Hause …
»Liebes, ist wirklich alles in Ordnung? Kann ich dir helfen?«
Evelyn wirbelte herum.
Meredith hatte den Kopf zur Tür hereingestreckt. Überrascht sah sie in Evelyns wutverzerrtes Gesicht. »Herrje, ist alles okay?«
»Es geht mir bestens«, brachte Evelyn verkrampft hervor.
Meredith schob sich durch den Spalt in die Küche und schloss die Tür hinter sich. »Ich wäre eine verdammt schlechte Ermittlerin, wenn ich dir das glauben würde.« Sie griff sich ein Geschirrtuch und nahm Evelyn das Hühnchen ab, um es auf den Tisch zu stellen. Dann zog sie ihr die Ofenhandschuhe aus. Beim Anblick von Evelyns flammend roter Handfläche, die darunter zum Vorschein kam, hob Meredith kritisch eine Augenbraue. »Hast du vorher versucht, das Hühnchen ohne Handschuh aus dem Ofen zu holen?«
Evelyn antwortete nicht. Meredith hatte sie erwischt, verletzt und
sprachlos. Zum ersten Mal in ihrem Leben fehlte Evelyn die Kraft, Henry zu verteidigen, ihre Ehe zu schützen. Ihr Blick wanderte zu dem Handy, das sie auf den Tisch hatte fallen lassen.
Meredith verstand. Fast zumindest. »Was ist das?«
»Ein Handy«, antwortete Evelyn schwach.
»Das sehe ich. Aber was ist damit?«
»Es ist nicht meins«, gab Evelyn tonlos zurück. »Es ist nur in meinem Haus.«
»O… okay.« Meredith trat näher heran. »Darf ich?«
»Bitte, tu dir keinen Zwang an.«
Meredith hob das Handy auf. Sie betrachtete die roséfarbene Hülle, die glitzernden Strasssteinchen. »Weißt du, wem es gehört?«
»Nein.« Evelyn zögerte einen Moment, ehe sie gestand: »Ich hab es in Henrys Aktentasche gefunden, als ich seine Thermoskanne rausholen wollte. Er hatte Halsschmerzen und ich hab ihm Salbeitee mit zur Arbeit gegeben, aber er vergisst ihn dann immer auszuräumen«, fuhr sie fort, als würde irgendetwas davon eine Rolle spielen.
»Kenne ich von Winston«, nickte Meredith mit einem milden Lächeln, ehe sie ernst hinzufügte: »Und dabei bist du auf das Handy gestoßen?«
»Ja.«
»Hat Henry dir gesagt, woher er es hat?«
»Nein, hat er nicht. Ich meine«, verbesserte sich Evelyn, »er hatte keine Erklärung dafür.«
»Vielleicht ist es jemandem versehentlich in seine Tasche gefallen?!«
Evelyn schnaubte.
»Lass mich raten: Das hat er auch behauptet?« Meredith sah Evelyn an, die nickte. Einen Moment lang schien Meredith zu überlegen. Ihre Hände schlossen sich nervös nestelnd um das Telefon. »Hör mal,
Evelyn, ich will wirklich nicht indiskret sein. Es ist nur, dass Winston und Henry ab und an ein Bier zusammen trinken und da eventuell auch mal eine Bemerkung über eure … Situation … gefallen ist. Dass es nicht immer so läuft bei euch. Seit ein paar Jahren …«
Evelyns Gesicht flammte auf. Ja, sie hatten Probleme – in der Vergangenheit und, wie es schien, auch heute noch –, aber es waren ihre
Probleme. Sie hatten sich geschworen, außerhalb der Therapie nie mit jemandem darüber zu sprechen. Schon wegen der Kinder. Doch offenbar hatte nur sie sich an dieses Versprechen gehalten. Wie so oft.
Entschlossen griff Evelyn nach dem Handtuch und packte die Platte mit dem Hühnchen. »Ich denke, wir sollten jetzt wieder reingehen. Die Männer warten sicher schon auf uns.«
»Henry ist bei den Kindern. Ethan hatte gerufen. Und Winston hat sich heimlich nach draußen gestohlen, um eine zu rauchen … Mein Gott, ich wünschte, er würde damit endlich aufhören.« Meredith verdrehte die Augen.
Für einen Moment blieb Evelyn ehrlich überrascht stehen. »Winston raucht?«
»Ja, schon seit Jahren. Er ist gut darin, es zu verheimlichen. Ich werde es ihm vermutlich auch nie austreiben können. Aber na ja«, sie zuckte mit den Schultern, »ich denke, jeder von uns hat ein schmutziges, kleines Geheimnis, das er nicht gerne mit der Welt teilt.«
»Mag sein, aber das deines Mannes ist deutlich leichter zu ertragen als ein Ehemann, der Affären sammelt wie andere Briefmarken.«
»Vermutlich«, stimmte Meredith ihr mitfühlend zu. »Allerdings kann ich aus Berufserfahrung sagen, dass du damit nicht allein bist. Und falls es dich in Anbetracht dieses guten Stückes«, sie wog das Handy in ihrer Hand, »irgendwie beruhigt: Du bist auch nicht die Einzige, deren Mann sich nicht besonders clever dabei anstellt, sein kleines Geheimnis zu verbergen.«
»Und dafür landet man bei der Kriminalpolizei?«
»Nicht Mann.
Frau. Verbrechen aus Leidenschaft, verschmähte Liebe … Rache?« Meredith gab ein stumpfes, kehliges Grunzen von sich. »Ja, kommt vor. Und Handys«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, »spielen den Herren dabei nicht gerade in die Karten. Zu viele verräterische Nachrichten, zu viele Fotos … quasi ein All-you-can-eat-Buffet für jeden Ermittler.«
Noch während Meredith sprach, kam Evelyn eine Idee. »Und wie kommt ihr an diese Daten ran?«
»Mit einem IT-Spezialisten. Aber ehrlich gesagt sind die wenigsten Leute besonders einfallsreich, was ihren Sperrcode angeht. Probier die Geburtsdaten ihrer Kinder, Ehepartner, Eltern oder Geschwister und schon bist du drin. Meistens.«
Evelyn sah zu dem Handy in ihren Händen. »Und wenn ich nicht weiß, wer dem Besitzer nahesteht?«, fragte sie gedehnt.
Meredith folgte ihrem Blick. Beide Frauen betrachteten das schwarze Display, in dem sich der warme Schein der Buntglaslampe, die über dem Küchentisch hing, spiegelte.
»Na ja, wenn du mit deiner Vermutung recht hast, kennst du zumindest das Geburtsdatum einer
nahestehenden Person. Hast du es schon damit versucht?«, setzte Meredith vorsichtig nach.
Evelyn stellte das Hühnchen zurück auf den Küchentisch. Nervös ballte sie die Fäuste, zitternd ein- und ausatmend.
»Willst du?«, fragte Meredith und streckte ihr das Handy entgegen.
Evelyn schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Nein! Nein, das will ich nicht. Das … das kann ich nicht.«
»Hey, das ist vollkommen in Ordnung«, sagte Meredith beruhigend und zog die Hand zurück. »Ich finde, es zeigt Größe, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Nur weil er dich betrogen hat, ist das noch lange kein Grund, sein Vertrauen zu missbrauchen. Nur weil er deine Gefühle verletzt hat, dich hintergeht, musst du dich nicht auf sein …«
»1812«, unterbrach Evelyn sie fahrig. »Los, gib es ein.« Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Das Atmen fiel ihr schwer, sie fühlte sich erdrückt von der Last des Verrats.
Meredith gab Evelyn eine Sekunde, ihre Entscheidung zu überdenken, dann drückte sie den Homebutton und ließ die Finger über die schwarze Oberfläche gleiten.
Evelyn hielt die Luft an. Sie konnte nicht hinsehen, vielmehr starrte sie an dem Display vorbei auf das unpassend fröhliche Tiermuster auf Merediths Bluse. Grinsende Affen. Affen, die sie für ihre Gutgläubigkeit auslachten, für die Vehemenz mit der sie ihre Ehe verteidigt hatte, mit der sie immer wieder um Henrys Liebe kämpfte.
»Oh shit«, riss Meredith sie aus ihren Gedanken.
Der Sperrbildschirm hatte sich verändert. Eine junge Frau war darauf zu sehen. Sie hatte ähnlich blonde Haare wie Meredith und vergrub das Gesicht im Fell einer flauschig weißen Katze. Die Qualität der Aufnahme war schlecht: körnig und verschwommen.
Meredith starrte das Bild an. Sie wirkte erschüttert. »Der Pin stimmt«, stellte sie unnötigerweise fest und holte tief Luft. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Ich schon«, gab Evelyn dünn zurück. »Sind da Nachrichten? Nachrichten von Henry?«
Merediths Zeigefinger wischte erneut über das Display. Ihre Augen huschten über den Bildschirm. Sie zögerte, sah zu Evelyn auf, die die Arme um sich geschlungen hielt, als wären sie das Letzte, was sie daran hinderte, auseinanderzubrechen.
»Ja«, flüsterte Meredith beklommen. »Ein paar«, sie stockte, »ehrlich gesagt, ziemlich viele.«
Evelyns Kinn bebte, als sie weitersprach: »Und Fotos?«
»Evelyn, bitte!« Meredith fühlte sich sichtlich unwohl. »Muss das wirklich sein? Willst du dir das wirklich antun?«
»Ich habe mir das nicht angetan. Er hat mir das angetan. Ich lasse
mich nur nicht mehr länger von ihm für dumm verkaufen.«
Meredith seufzte und tippte zweimal auf den Bildschirm. Evelyn beobachtete ihren Gesichtsausdruck. Das Gequälte wich Überraschung, gefolgt von Ungläubigkeit, ehe Meredith ihr das Handy reichte. »Ich glaube, das siehst du dir besser selbst an.«
»Ich … nein, ich glaube nicht«, Evelyn streckte ablehnend die Hand von sich, doch ihr Blick war bereits auf eines der Fotos gefallen. Es war nicht Henry. Auch nicht die junge Frau mit der Katze. Was sie sah, war sie selbst. In Jeans und Bluse beim Einkaufen, im Sportdress während ihrer morgendlichen Joggingrunde auf dem Feld, zu Weihnachten in der Kirche – mit den Kindern. Viele Fotos von ihr und den Kindern. Auf dem Spielplatz, beim Radfahren, vor der Schule. Sogar zu Hause im Garten. Es war ihr Leben – Momentaufnahmen ihres Glücks – aus der Ferne beobachtet. Von jemand Fremdem.
»Was … was hat das zu bedeuten?«, stammelte Evelyn und sah Meredith mit erschrockenen Augen an.
»Ich fürchte, meine Liebe, das bedeutet, dass du gestalkt wirst. Du und die Kinder.«
»Nein«, keuchte Evelyn und tastete nach dem Stuhl hinter sich. »Warum? Wer … wer sollte so was machen?«
»Ganz ehrlich? Aus meiner beruflichen Erfahrung? Jemand, der krankhafte Besitzansprüche auf deinen Mann hegt.«
»Darling?«
Evelyn sprang auf. Hinter ihr krachte der Stuhl zu Boden, gleich darauf drückte jemand die Türklinke herunter. Henry.
»Darling, es tut mir leid. Ethan hatte einen Albtraum, ich musste bei ihm bleiben. Ich hoffe, ihr habt schon … gegessen.« Er stockte, als sein Blick auf das Hühnchen fiel.
»Du Scheißkerl«, flüsterte Evelyn. »Du verdammter Scheißkerl.« Nur langsam hob sie den Blick, bis sie ihrem Mann direkt in die Augen sah. »Ich habe dich geliebt. So sehr. Ich habe um dich gekämpft von
unserer ersten Begegnung an. Und du? Du hast mich wieder und wieder betrogen. Mit all diesen Frauen. Und ich war blöd genug, all die Jahre blöd genug, dir zu verzeihen. Klar, ich habe gesagt: Noch einmal lasse ich dir das nicht durchgehen, aber ich hätte es wieder getan, wieder und wieder. Aber das hier«, sie riss Meredith das Handy aus der Hand und schleuderte es Henry gegen die Brust. »Das geht zu weit. Hier geht es nicht mehr um dich oder mich. Es geht um unsere Kinder. Wenn dieses Flittchen, wer immer sie ist, meine Kinder im Visier hat, ist für mich Schluss. Dann kann sie dich haben. Schlag du dich mit der Verrückten herum.«
Sprachlos starrte Henry auf das Telefon hinab. Sein Gesicht war kalkweiß. Das Bild der jungen Frau mit der Katze war erneut zu sehen. »Anne«, keuchte er.
»Na wie schön, dass ich jetzt weiß, wie die Verrückte heißt«, fuhr Evelyn ihn an, doch Henry beachtete sie nicht.
»Nein«, murmelte er, das Handy zitternd in den schweißnassen Händen. »Sie ist tot.«
»Wie bitte?« Evelyn riss spöttisch die Augen auf. Diesmal gingen seinen Lügen wirklich zu weit. »Du hast sie ja nicht mehr alle«, zischte sie.
»Nein«, beteuerte Henry, »Eve, hör mir zu. Das ist Anne. Anne. Erinnerst du dich? Vor zwanzig Jahren, als wir uns kennenlernten …«
Aber Evelyn hörte ihm kaum zu. »Schön zu wissen, dass du wenigstens deinen Geliebten über die Jahre treu bleibst.«
»Nein, Eve«, Henrys Stimme wurde leise, er sah betroffen auf das Bild in seinen Händen hinab. »Du warst die Geliebte. Damals.«
Für einen Wimpernschlag hielt Evelyn inne, dann stieß sie voller Wut hervor: »Oh nein, mein Lieber! Nein, du kommst mir jetzt nicht so! Du wirst nicht irgendwelche alten Geschichten ausgraben, um mich zum Sündenbock zu machen. Du
bist der, der schon immer fremdgegangen ist. Nicht ich.«
»Ja, deinetwegen!
Weil mich alles an dir fasziniert hat. Du warst so anders als Anne, so unabhängig und unkonventionell …«
»Ich habe dich nicht gebeten, sie für mich zu verlassen!«, fiel ihm Evelyn schrill ins Wort, ihre Stimme überschlug sich. »Ich kannte sie ja nicht einmal. Für mich war sie irgendeine Person. Weit weg. Daheim.«
»Nein, du hast mich nicht gebeten«, erwiderte Henry bitter. »Du hast mich nicht einmal gefragt. Du hast Anne geschrieben. In meinem Namen. Hast ihr gesagt, ich würde sie verlassen, weil ich glücklicher mit dir sei, als sie mich je machen könnte. Herrgott, Eve, du hast ihr sogar Bilder von uns geschickt! Du hast mich wie ein totales Arschloch dastehen lassen …«
»Damit es ihr leichter fällt, sich von dir zu lösen!«
»Sie hat sich umgebracht, Eve! Zwei Tage nachdem sie deine Nachricht erhalten hat. Mary, ihre ältere Schwester, hat mich angerufen. Aus Frankreich. Nicht etwa, weil sie fand, ich sollte es wissen, sondern weil sie mir – uns – Rache schwören wollte für den Tod ihrer Schwester. Eine vollkommen fremde Frau hat mich bedroht! Ich war noch nicht mal zwanzig. Und das alles habe ich in Kauf genommen. Für dich! Weil ich dich so abgöttisch geliebt habe.«
»Oh, bitte! Davon wüsste ich ja wohl!«
»Ich habe es dir nicht gesagt, um dich zu beschützen, Eve. Ich wollte nicht, dass du mit dieser Schuld leben musst. Du bist so perfekt, so makellos – sieh dich doch um! Sieh dir unser Leben an: Es gibt darin keinen Platz für Unvollkommenheit. Du bist über jeden Zweifel, jeden Fehler erhaben …«
»Weißt du was? Das ist krank«, stieß Evelyn fassungslos hervor. »Das Ganze hier ist krank! Deine Lügen, diese Fotos … diese makabre Story, die du und deine Geliebte euch da ausgedacht habt. Ihr wollt mir Angst machen? Gratuliere. Das habt ihr geschafft. Deshalb pack deine Sachen und hau ab. Verschwinde aus meinem Leben und dem
unserer Kinder. Ich will dich nie, NIEMALS wiedersehen.«
»Was für ein Abend«, seufzte Winston und ließ die Scheiben des Sportwagens hinunter, um die kühle Nachtluft hereinzulassen.
»Wem sagst du das!« Meredith lehnte sich zurück. »Schatz, wärst du so lieb, einen Umweg über den Friedhof zu fahren?«
»Jetzt? Merri, es ist kurz vor Mitternacht.«
»Ja, ich weiß«, lächelte sie zufrieden. »Gerade noch rechtzeitig.«
»Wofür?«
»Um meiner Schwester von ihrem Geburtstagsgeschenk zu berichten.«