Ursula Poznanski
Durchleuchtet
G ero wusste es schon, bevor er die Augen aufschlug. Das hier war kein Krankenzimmer. Falsche Temperatur. Falscher Geruch.
Er atmete einmal tief ein und wieder aus. Ah. Die Schmerzen waren da, wo sie hingehörten. Linke Bauchseite. Dann war die Milz also draußen, das verdammte Teil, das sich nicht wieder hatte erholen wollen.
Die Reste der Narkose machten das Denken noch schwer, aber das war schon okay so. Alles war okay, dieser Schwebezustand war geil. Wie auf wirklich guten Drogen. Wie nach wirklich gutem Sex. Die Schmerzen waren spürbar, aber auf eine Weise, die ihn nicht störte. Im Gegenteil, sie bestätigten ihm, dass er noch lebte, winkten ihm gewissermaßen aus der Ferne zu.
Als er das nächste Mal erwachte, waren sie näher gerückt, viel näher, und sie waren in Begleitung gekommen. Hatten höllischen Durst mitgebracht. Gero versuchte zu schlucken, doch sein Mund war staubtrocken, seine Kehle kratzig.
Nach der Schwester klingeln, dachte er, und flüchtig schob sich das Bild einer jungen, dunkelhäutigen Frau in hellem Kittel vor sein inneres Auge. Hübsch war die gewesen, aber das war ihm gerade erstaunlich egal, er würde auch eine alte, fette nehmen – Hauptsache, sie brachte ihm Wasser.
Die Augen immer noch geschlossen, hob er die Hand, tastete nach der Klingel über ihm. Fand sie nicht. Nur mit Mühe schaffte er es, die Lider zu heben, sie fühlten sich schwer an, wie verklebt.
Sein allererster Eindruck bestätigte sich, das hier war kein Krankenzimmer. Es war ein kahler, kalter Raum mit betongrauen Wänden. Er drehte langsam den Kopf. An der Wand: zwei Rolltragen aus stumpf gewordenem Aluminium. Links davon: etwas wie ein ausgemusterter OP-Tisch. Gegenüber: eine Tür, von der der Lack absplitterte, daneben ein Regal.
Was war das hier? Eine zu groß geratene Abstellkammer? Keine Klingel, kein Nachttisch, kein Telefon. Und keine Heizung offenbar, ihm war scheißkalt in seinem dünnen OP-Hemd unter der ebenso dünnen Decke.
»Hallo?« Seine Stimme hörte sich erbärmlich an, war kaum mehr als ein schwaches Krächzen. Er räusperte sich, versuchte es noch einmal. »Hallo!« Besser jetzt. Trotzdem blieb die Reaktion aus. Es fehlten, wie ihm langsam bewusst wurde, alle typischen Krankenhausgeräusche. Keine Schritte, kein Gepiepse, keine Stimmen. Er hörte nur seinen eigenen Atem und das Sirren der Neonleuchten.
Etwas musste schiefgelaufen sein, etwas Organisatorisches. Wahrscheinlich war das Bett in seinem Zimmer noch nicht fertig gewesen, deshalb hatte man ihn hier zwischengeparkt. Und dann wohl vergessen, was war das eigentlich für ein Scheißverein? Der einen frisch operierten Patienten ohne Betreuung abstellte, ohne Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen!
Und ohne etwas zu trinken in Griffweite. Das Bedürfnis nach Flüssigkeit drängte alle anderen Gedanken in den Hintergrund. Er fühlte sich ausgedörrt. Die Kälte würde er vielleicht noch ein wenig länger ertragen, den Durst nicht. Und da, nur ein paar Schritte entfernt, hing ein Waschbecken an der Wand.
Vorsichtig stützte Gero sich auf die Ellbogen, die Opera­tionswunde brannte und stach, aber es war auszuhalten. Besser, als weiter nach innen zu bluten. Er drückte eine Hand auf die Stelle, fühlte den dicken Verband.
Kapselriss der Milz. Hatten Sie einen Unfall?
Ja. Kletterunfall. Vor vier Tagen.
Aha. Stammen daher auch die Hämatome im Gesicht?
Ja. Ich hatte auch eine Gehirnerschütterung. War mein Fehler. Habe mich überschätzt.
Hm.
Stimmt etwas nicht?
Es ist nur … mir ist bisher noch nie ein Kletterunfall ohne Schürfwunden untergekommen.
Ärztinnen waren so misstrauisch. Schon im ersten Krankenhaus, als die Verletzungen noch frisch gewesen waren, hatte eine von ihnen bei seiner Geschichte ständig den Kopf geschüttelt, während sie sein lädiertes Jochbein abgetastet hatte. Die von heute Morgen hätte wahrscheinlich endlos weitergefragt, wenn sie nicht fortgerufen worden wäre. Totaler Stress in der Notaufnahme, das war sein Glück gewesen, und dann hatte gleich die Chirurgie übernommen. Er richtete sich ein weiteres Stück auf, wimmernd. Diesmal würde er nicht so einfach abhauen können wie beim ersten Mal, er schaffte es ja kaum, aufzustehen. Außerdem kannten sie in diesem Krankenhaus seinen echten Namen.
Neun Schritte bis zum Waschbecken. Nach dem dritten wurde ihm schwarz vor Augen, er torkelte zur Seite, stützte sich an der Wand ab. Bloß nicht umkippen jetzt. Tief atmen. Weiter.
Nach vorne gekrümmt, die Arme um den Bauch geschlungen, setzte er einen Fuß vor den anderen. Gleich hatte er es geschafft, und er würde etwas trinken können. Es stand sogar ein hellgrüner Plastikbecher am Waschbeckenrand. Dass daneben noch etwas lag, bemerkte Gero nur am Rande, sein Durst füllte die ganze Welt aus.
Er drehte am Hahn. Es gurgelte, gluckste, dann erst schoss Wasser ins Becken. Den ersten Becher leerte Gero in einem Zug, beim zweiten verschluckte er sich, musste husten, heulte auf vor Schmerz, vor Angst. Was, wenn die Operationsnaht aufriss?
Er trank jetzt langsamer, eine Hand gegen den Verband unter dem Nachthemd gepresst. Sein Blick wanderte zu dem Gegenstand, der am Waschbeckenrand lag. Ein Smartphone.
Nicht sein eigenes, leider, sondern ganz offensichtlich das einer Frau. Golden schimmernder Kunststoff umrahmte das schwarze Glas des Displays. Gero füllte den Becher ein drittes Mal, trank ihn leer und griff dann nach dem Handy. Wahrscheinlich gehörte es einer der Pflegekräfte, die ihn hier abgestellt hatten. Wenn der Akku noch halbwegs voll war und nicht bald jemand kam, konnte er damit einen Notruf absetzen.
Kurzes Tippen auf die Oberfläche, der Sperrbildschirm leuchtete auf. Das erste, was Gero ins Auge sprang, war die Uhrzeit: 23:48.
Das konnte auf keinen Fall stimmen. 14 Uhr oder vielleicht 15 Uhr, das wäre denkbar gewesen. Aber kurz vor Mitternacht? Quatsch. Er war ja schon am späten Vormittag operiert worden.
Wahrscheinlich gehörte das Gerät doch keiner Schwester, sondern einer Ärztin, denn das Foto, das den Sperrbildschirm ausfüllte, zeigte ein Röntgenbild. Einen Schädel, frontal aufgenommen, fahlgrün auf schwarz und …
Er sog scharf die Luft ein, wankte, hielt sich am Rand des Waschbeckens fest. Das Röntgenbild seines Schädels, das sie vor vier Tagen gemacht hatten, um eine Fraktur auszuschließen. Der Patientenname stand nicht dabei, aber die unteren Schneidezähne waren deutlich erkennbar. Heller als der Knochen, wie scharf begrenzter Nebel, und unverwechselbar: Die beiden mittleren Zähne standen überkreuz, ein schiefes X, dem er nun mit der Zunge nachfühlte. Es gab wenige Unregelmäßigkeiten an Geros Körper, aber das war eine davon.
Wem gehörte das Handy? Woher hatte der Besitzer seine Röntgenbilder? Die stammten schließlich aus einem anderen Krankenhaus, und dort hatte er vorsichtshalber einen falschen Namen genannt. Martin Korinek – ein früherer Kollege, den er nie hatte leiden können.
Wir brauchen einen Ausweis. Und Ihre Versicherungskarte.
In meinem Portemonnaie.
Wo haben Sie das?
Ist es nicht … in meiner Tasche? Oh nein, dann muss ich es bei meinem Sturz verloren haben. Ich … fahre zurück zum Klettersteig. Ich suche es.
Kommt nicht infrage. Sie sind schwer verletzt.
Es war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als ihm die Geschichte abzukaufen, und genau damit hatte er gerechnet. Kletterunfall, von wegen. Aber er hatte ihnen ja schlecht erzählen können, dass die Schlampe ihn fast erschlagen hätte, bevor sie entkommen war.
Wieder schwankte er, das Stehen kostete zu viel Kraft. Mit kleinen, schlurfenden Altmännerschritten kehrte er zu seinem Bett zurück. Setzte sich schwer atmend hin und tippte auf das Display, das sich verdunkelt hatte.
Da war er wieder, sein Kopf. Ohne Fleisch, ohne Haut. Er starrte in die leeren Augenhöhlen. Betastete mit der linken Hand die Schwellung am Jochbein, da, wo sie ihn mit dem Golfschläger getroffen hatte. Nicht mit voller Wucht, aber so fest, dass er zu Boden gegangen war. Und dann …
Er senkte die Hand, legte sie auf seinen Bauch, strich vorsichtig über den Verband, als könnte er so das Stechen da­runter besänftigen. Noch nie hatte eine seiner Bekanntschaften sich derartig gewehrt. Hätte er geahnt, wie viel Kraft sie besaß, er hätte sie nicht angesprochen und schon gar nicht mitgenommen. Meine Güte, sie hatte doch gewusst, worauf es hinauslaufen würde. »Ich bringe dich gern nach Hause« – die meisten sahen es als charmante Überraschung, wenn sie begriffen, dass er damit zu mir nach Hause meinte. Gingen mehr oder weniger bereitwillig auf seine Annäherungen ein, er hatte nie allzu grob werden müssen. Gutes Aussehen half eben, umso beschissener war diese Sache mit dem Golfschläger.
Unfair. Aber in ein paar Wochen würde alles wieder beim Alten sein.
Der Anblick seines eigenen Totenkopfs machte ihn nervös. Er wischte auf dem Display nach oben, ohne große Hoffnung, die meisten Handys waren mit einem Code gesichert. Aber – dieses nicht. Es ließ sich mühelos entsperren.
Nun war das Hintergrundbild ein anderes; kein Foto, sondern ein Schriftzug. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, stand da in geschwungenen Lettern. Der Spruch durchlief in seinem halb betäubten Gehirn drei Stadien. Ein gutes Motto für chronisch überfordertes und unterbezahltes Krankenhauspersonal, war das Erste, was er dachte. Dann: Das wird doch wohl keine Botschaft an mich sein? Erst ganz zum Schluss dämmerte ihm, dass er letztens etwas Ähnliches gesagt hatte. Als die dumme Kuh um Hilfe geschrien hatte. Obwohl, derart abgedroschene Phrasen verwendete er normalerweise nicht. Hatte er trotzdem? Er glaubte sich zu erinnern, war sich aber nicht sicher, er hatte ja nicht einmal mehr den Namen der Frau im Kopf. Irgendetwas mit R – Renata, Ricarda, Rebecca? Hm. Alles möglich, aber eigentlich unwichtig.
Ruth?
Wie aus dem Nichts flammte der bisher erträgliche Wundschmerz plötzlich auf; Gero stöhnte. Es war, als hätte jemand Strom durch seine Operationswunde geleitet. Genauso schnell, wie es gekommen war, ebbte das Gefühl wieder ab, aber jetzt war er gewarnt. Er musste besser aufpassen, er hätte nicht so schnell trinken sollen. Nicht so viel. Das Wasser dehnte seinen Magen aus, setzte die frische Naht unter Spannung. Unverantwortlich, ihn hier ohne ärztliche Versorgung zu lassen.
Er würde dem Rat des Smartphonebesitzers folgen und sich selbst helfen. Einen Notruf absetzen.
Die Apps auf dem Handy waren mehr als nur spärlich. Nachrichten, Fotos, Kamera, Notizen, Wetter, Einstellungen. Und die Telefonfunktion, natürlich.
Er tippte sie an, das Handy zitterte zwischen seinen Fingern. Nicht aus Schwäche, sagte er sich, nur wegen dieser Dreckskälte. Was sich öffnete, war nicht der Ziffernblock, sondern die Liste der Kontakte. Wobei es im Grunde keine Liste war, denn nur ein einziger Kontakt war eingespeichert.
Schwein.
Gero biss die Zähne zusammen. Er hatte eine diffuse Befürchtung, wie die dazugehörige Nummer aussehen würde. Trotzdem stieß er einen erschrockenen Laut aus, als seine Vermutung sich bestätigte. Seine Handynummer. Sein Röntgenbild.
Er musste hier weg. Musste Hilfe rufen, einen Krankentransport, der ihn fortbrachte. Hastig holte er sich den Ziffernblock aufs Display und gab die Nummer des Notrufs ein, tippte auf die grüne Verbindungsfläche.
Keine SIM-Karte eingelegt.
Mit leerem Blick starrte er auf die Fehlermeldung. Hörte seinen rauen Atem, die sirrenden Neonröhren; begriff nicht, warum er das Fehlen der Provideranzeige nicht früher bemerkt hatte. Mussten die Nachwirkungen der Narkose sein, die machten ihn weich in der Birne.
Hilf dir selbst.
Da vorne war die Tür. Er holte tief Luft, wimmerte, versuchte, sich hochzustemmen. Kämpfte gegen den aufkommenden Schwindel an, doch binnen Sekunden verdichteten sich die schwarzen Punkte vor seinen Augen zu einer dunklen Wand. Er stürzte zurück aufs Bett, in der OP-Wunde, in seinem ganzen Bauchraum explodierte der Schmerz. Füllte sein gesamtes Bewusstsein aus; er konnte nichts mehr tun außer liegen, atmen und darauf warten, dass es besser wurde.
Als vorsichtige Bewegungen sich wieder erträglich anfühlten, hob er langsam das Smartphone vors Gesicht. Der Bildschirm hatte sich verdunkelt. Gero berührte ihn, und wie vorhin starrte ihn sein eigener hohläugiger Schädel mit den schiefen Zähnen an.
Es war lächerlich, das als böses Omen zu nehmen. Gero entsperrte das Handy; solange er nicht aufstehen konnte, würde er nach Anhaltspunkten für den Besitzer suchen. Obwohl er am liebsten einfach noch ein paar Stunden geschlafen hätte. Kraft getankt. Aber wenn er das tat, würde er anschließend unterkühlt sein, oder gar erfroren. Er öffnete den Fotoordner.
Das erste Bild. Wieder er selbst, diesmal besser zu erkennen. Sein entstelltes Gesicht, die hühnereigroße, blaurote Schwellung unter dem Auge.
Wischen.
Der Bereich der untersten Rippen, links. Blutergüsse.
Wischen.
Drei CT-Aufnahmen des Bauchraums, Felder in Grautönen, am unteren Rand als einzig weißer Fleck die Wirbelsäule. Irgendwo auf den Bildern musste sich die verdammte eingerissene Milz befinden, aber er hatte keine Ahnung, wie die aussah.
Wischen.
Ah, jetzt wusste er es. Wie ein blutiger Klumpen auf grünem OP-Abdecktuch. Shit. Das Telefon in seiner Hand zitterte nun so stark, dass er es beinahe fallen ließ. Er hustete, es stach höllisch in seiner Seite, er ließ das Smartphone sinken. Kämpfte gegen die Schwäche an, die sich weiter in ihm auszubreiten drohte und gegen die Tränen, die der Schmerz ihm in die Augen trieb.
Wie war das möglich? Er war doch extra in zwei verschiedene Krankenhäuser gefahren. Hatte beim ersten Mal, vor vier Tagen, gelogen, was das Zeug hielt, und tapfer gegen das Misstrauen der dunkelhaarigen Ärztin angelächelt.
Sie sind selbst hergefahren? Nachdem Sie von der Felswand gestürzt sind?
Ja.
Wie viele Kilometer waren das? Ich kenne keine Klettersteige in der Nähe.
So ungefähr … hundert.
Das war unverantwortlich.
Ich dachte erst nicht, dass es so schlimm sein würde.
Die Ärztin war unfassbar lästig gewesen. Hatte nach Kontaktpersonen, Versicherungsnummern und ähnlichen Dingen gefragt, die er weder nennen konnte noch wollte. Eine – falsche – Adresse hatte er notgedrungen angegeben, aber ihm war klar gewesen, dass er so schnell wie möglich abhauen musste. Was er getan hatte, sobald man ihm gesagt hatte, dass nichts gebrochen war und man die Milz wohl auch konservativ behandeln konnte.
Aber irgendwie, irgendwie musste jemand in diesem zweiten Krankenhaus von einem flüchtigen Patienten mit Milzriss und fragwürdiger Kletterunfall-Story gehört haben. Deshalb fand er nun gewissermaßen seine ganze Krankengeschichte auf einem fremden Handy wieder, inklusive des Fotos der entfernten Milz, das nur hier, nach der OP, geschossen worden sein konnte. Jemand hatte die richtigen Schlüsse gezogen.
Schwein.
Wenn sie wussten, wer er war, wie exakt wussten sie dann auch, was er getan hatte? Isolierten sie ihn in diesem eiskalten Keller, bis die Polizei kam?
Sein eigenes Versagen, das alles. Er hätte einfach nicht einschlafen dürfen. Aber sie war geradezu anschmiegsam gewesen, danach. Hatte sich nicht gewehrt, als er ihren Kopf an seine Schulter gezogen hatte, hatte auch nicht mehr geweint. Und er war so vertrauensselig gewesen, neben ihr einzunicken. Was für ein dummer Fehler.
Ein Zittern durchlief seinen Körper, wurde stärker, ebbte erst nach Minuten ab. Das war die Kälte. Die Schwäche. Wahrscheinlich der Blutverlust.
Der Fotoordner stand noch offen. Gero wischte nach links.
Wieder ein Röntgen- oder ein CT-Bild, jedenfalls eine Aufnahme seines Innenlebens. Nun wohl ohne Milz und vermutlich während des Eingriffs geschossen, denn er konnte die rechtwinklige Kante eines der Werkzeuge erkennen. Weiterwischen. Aha. Ein Scan, massenhaft Text. Er zog das Bild größer. Das war die Akte aus Krankenhaus Nummer eins, ausgestellt für Martin Korinek. Die er dank seiner Flucht noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Von stumpfen Traumata war da die Rede. Von Prellungen, Hämatomen und dem verdammten Milzriss.
Zuunterst eine handschriftliche Anmerkung: »Beschreibung des Unfallhergangs durch den Patienten passt nicht zum Verletzungsmuster. Angaben zur Person waren falsch, Ausweis nicht vorhanden. Interessant?«
Gero schloss die Augen. Scheiße, Scheiße, verfluchte Scheiße. Hatte die dunkelhaarige Ärztin das in alle Kranken­häuser der Umgebung geschickt? Inklusive der Fotos und CT-Aufnahmen? Weil ihr bereits klar war, dass er sich wohl wieder in Behandlung würde begeben müssen?
Der Schauer, der ihn erneut durchlief, kam diesmal zweifellos von der Kälte. Das Zittern erfasste seinen ganzen Körper, seine Finger waren so eisig, dass er kaum bis zum nächsten Bild wischen konnte.
Und da war sie. Rebecca, Ruth, Rosalie … wie auch immer. Sie stand in einem hellroten Sommerkleid vor einer mächtigen Freitreppe, den Arm um eine zweite Frau gelegt. Die war ein wenig kleiner, hatte eine mit rotem Band umwickelte Schriftrolle in der Hand und einen dieser flachen, schwarzen Studentenhüte mit Quaste auf dem Kopf.
Gero blinzelte. Auch die zweite Frau kam ihm bekannt vor, und wenn er sich nicht täuschte, waren seit der Begegnung erst wenige Stunden vergangen. Allerdings hatte sie da kein Make-up getragen, dafür ein grünes Häubchen. Ihr Haar war zurückgebunden gewesen, und sie hatte ihn nur knapp begrüßt.
Je länger er das Foto betrachtete, desto unsicherer wurde er. War das auf dem Bild wirklich seine Chirurgin? Mäßig attraktive Frauen sahen für ihn oft ähnlich aus, er achtete einfach nicht genug auf die Details. Aber wahrscheinlich war sie es. Dann würde die Situation Sinn ergeben. Sie ließ ihn hier erfrieren, als Revanche dafür, dass er mit ihrer Schwester, Freundin oder was-auch-immer Spaß gehabt hatte. Er versuchte, das Bild größer zu ziehen, doch seine Hände zitterten zu stark. Lange würde er die Kälte nicht mehr ertragen, er musste hier raus, das war wichtiger, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er die Alte tatsächlich kannte.
Es dauerte gut zwanzig Minuten, bis er sich wieder in eine sitzende Position gequält hatte. Bloß nichts überstürzen. Laut der Zeitanzeige des Handys war es jetzt kurz nach halb zwei Uhr nachts; um Hilfe rufen würde nichts bringen, nur Energie verschwenden.
Hilf dir selbst.
Er durfte es nicht überstürzt angehen. Den Weg zum Waschbecken vorhin hatte er ganz gut bewältigt. Er würde auch den zur Tür schaffen, wenn er langsam machte. An dem Regal, das daneben stand, würde er sich festhalten können.
Kurz überlegte er, das Smartphone auf dem Bett liegen zu lassen, doch der Gedanke, dass irgendjemand es später finden und sehen würde, was darauf abgespeichert war, erfüllte ihn mit Unbehagen. Dieses Drecksgerät, das sein bester Verbündeter hätte sein können, wenn die verfickte Idiotin nicht die Sim -Karte rausgenommen hätte.
Die aufkeimende Wut half ihm. Er wappnete sich innerlich gegen den Schmerz, dann drückte er sich vom Bett hoch. Stand kurz nur da, gekrümmt, aber er stand. Und jetzt los. Ein schlurfender Schritt nach dem anderen.
Wie sollte er weitermachen, wenn er erst mal draußen war? Er hatte kein Geld bei sich, nicht einmal etwas anzuziehen; er konnte kein Taxi rufen. Zur Polizei gehen? Hm. Das war riskant. Was er brauchte, war ein funktionierendes Telefon, am besten sein eigenes, aber das lag wohl mit seinen anderen Sachen in irgendeinem Schrank. Wenn es nicht schon jemand geklaut hatte. Damit hätte er einen seiner Freunde anrufen können. Mike vielleicht, oder Chris. Die tickten wie er, auf die würde er sich verlassen können.
Fünf Schritte noch. Vier. Was, wenn hinter der Tür eine Treppe lag, die er hinaufsteigen musste? Würde er das schaffen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Wollte es nicht.
Aber alles der Reihe nach. Die Tür lag jetzt direkt vor ihm, mit der Hand erreichte er bereits das Regal und hielt sich fest, das war gut, denn die vertrauten schwarzen Punkte vor seinen Augen wurden sekündlich mehr.
Er atmete. Tief ein, langsam aus. Legte das Smartphone ab und griff nach der Türklinke.
Verschlossen.
Er stieß einen ungläubigen Laut aus. Mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet, obwohl das natürlich naiv gewesen war. Aber er hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass er durch diese Tür würde gehen können, wenn er sie nur erreichte.
Verzweifelt rüttelte er an der Klinke, hämmerte mit der Faust gegen das Metall des Türblatts, schrie nun doch um Hilfe, obwohl jede Anstrengung die Schmerzen vervielfachte. Weinte schließlich. Das hatte er seit Jahren nicht mehr getan.
Er würde hier erfrieren. Die Nacht war noch lang, und er wusste nicht, wie oft jemand diesen Raum betrat. Eher selten, so unbenutzt, wie er aussah. Gero wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
Vielleicht konnte er unter dem Zeug, das im Regal zurückgeblieben war, etwas finden, womit das Schloss sich aufbrechen ließ? Er blinzelte die Tränen weg, begutachtete den Inhalt der Fächer.
Alte OP-Masken in verstaubten Schachteln. Ein zerknüllter weißer Kittel. Eine Urinflasche, ein Skalpell, ein paar Kotzschüsseln aus Pappe. Daneben eine Schere und eine Art Nadel, etwas breiter und vorne gebogen. Die sah vielversprechend aus. Er würde es entweder damit versuchen oder mit dem Skalpell, je nachdem, was sich besser ins Schloss …
Der Schmerz durchfuhr ihn plötzlich und mit einer solchen Heftigkeit, dass er aufbrüllte und beide Arme um seinen Körper schlang. Wie der Stromschlag vorhin, nur beständiger, unbarmherzig fortdauernd. Es war ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte, dem er völlig machtlos gegenüberstand. Er lehnte gekrümmt an der eiskalten Metalltür, keuchte, begriff nicht, was geschah.
Jetzt ließ es nach. Aber nur, um Sekunden später erneut zu beginnen, es fühlte sich an, als würde etwas sich aus seinem Bauch herausarbeiten wollen. Sich herausvibrieren.
Gero keuchte, fühlte die Schwingungen unter den Händen, die er auf den Verband drückte. Und nun hörte er auch etwas, sehr leise, sehr gedämpft. Sehr vertraut, sonst hätte er es kaum erkannt.
Freddy Mercury sang Another one bites the dust. Er sang es aus Geros Torso heraus.
… and another one gone, and another one gone
another one bites the dust
Hey, I’m gonna get you too
Another one bites the dust!
Sein Klingelton, schon seit drei Jahren. Er sank auf die Knie, presste die Hände weiterhin gegen die OP-Narbe, unter der es stetig vibrierte.
Sein Handy.
Die Musik brach ab, der Schmerz ebenfalls. Gero atmete ein, es klang wie ein Schluchzen. Er dachte an die letzte der CT-Aufnahmen. An die rechtwinklige Struktur am Rand. Von wegen Operationsbesteck.
Sein Handy. Noch hatte es Akku.
Mühsam richtete er sich ein Stück auf. Die Vibrationen hatten aufgehört, aber wer wusste schon, für wie lange.
Hilf dir selbst.
Gero griff nach dem Skalpell.