Romy Hausmann
Julischnee
H ochsommer, eine Million Grad. Das Asphaltflirren macht meine Augen verrückt, die Autobahn schießt Verkehrsschilder gegen die Frontscheibe. Mir ist übel von der Hitze und der letzten Nacht, die viel zu kurz war. Julie und ich hatten Streit. Zudem habe ich in den wenigen Stunden, die ich dann doch noch schlafen konnte, schlecht geträumt. In meinem Traum war es ebenfalls Sommer, und trotzdem hat es geschneit. Ich weiß nicht, was genau mich daran so verängstigt hat – ich weiß nur, dass es so war und dass ich total gerädert aufgewacht bin. Dabei hatte Anton gestern beim Abendessen mehrmals betont, wie wichtig es sei, uns gut auszuruhen, denn heute werde es ein langer Tag. Wir haben uns früh auf den Weg gemacht, 600 Kilometer vor uns, einmal komplett durchs Land von Süd nach Nord. Anton hat ausgerechnet, dass wir unser Ziel am Nachmittag erreichen müssten, wenn wir nicht allzu viele Pausen einlegten und uns der Ferienverkehr nicht in die Quere käme.
Er sitzt am Steuer, ich neben ihm. Julie hockt wie ein bockiges Kind mit verschränkten Armen auf der Rückbank und glotzt demonstrativ aus dem Fenster. Im Radio singen die Beatles »Ob-La-Di, Ob-La-Da«, Anton summt dazu und trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. Ich will nicht denken, dass die Beatles angeblich die Lieblingsband von Charles Manson waren, sondern dass wahrscheinlich jeder – einfach jeder verdammte Mensch auf der Welt –, dem nicht gerade schlecht ist wie mir oder der missgelaunt ist wie Julie, dazu summen und mit den Fingern trommeln würde. Doch es gelingt mir nur schwerlich; offenbar hat Julie mein Gehirn schon völlig irre gemacht mit ihrem Argwohn. Manson, der nie selbst einen Mord begangen hat. Manson, der einfach so lange auf seine Herde eingeredet hat, bis sie die Drecksarbeit für ihn erledigte. Instinktiv schüttele ich den Kopf. Nein, nein, nein, du liegst falsch, Julie.
»Alles in Ordnung, Ben?« Anton. Ich erinnere mich, wie seine Stimme mich vom Moment unseres Kennenlernens an beeindruckt hat. Sie klingt tief und auf eine faszinierende Weise immer ein wenig monoton. »Ausgeglichen, beruhigend«, finde ich, »unheimlich und maschinenhaft«, würde Julie dagegensetzen. Anton schreit nicht, niemals, er hat seine Stimme im Griff wie sich selbst. Er ist keiner, der unkontrolliert ausrastet. »Ein Fels«, meiner Meinung nach. »Ein typischer Seelenfänger«, wenn es nach Julie geht.
Bis vor Kurzem sah sie das noch ganz anders. Da war sie mit jeder Faser ihres Seins dankbar, dass wir auf Antons Selbstversorgerhof ziehen konnten, wo die Alternative schlichtweg Gefängnis gelautet hätte. Julie und Ben, die weichgespülte Version von Bonnie und Clyde. Wir haben Autos geknackt, um damit kreuz und quer durchs Land zu fahren, ab und zu mal was aus einem Supermarkt mitgehen lassen, wenn wir Hunger oder Durst hatten oder uns die Kippen ausgegangen waren, und, ja, ein paar kleinere Einbrüche waren auch dabei gewesen. Doch dann, knapp einen Monat ist das jetzt her, gerieten wir zufällig in eine Polizeikontrolle. Ich hatte keinen Führerschein – woher auch? Immerhin hatte ich nie einen gemacht –, dafür hatten die Beamten unsere Fingerabdrücke und kriegten uns damit dran für den ganzen kleinen Mist, der in der Summe eben leider doch einen Riesenhaufen ergab. Glücklicherweise war der urteilende Richter ein guter Freund von Anton, und die Sache wurde fallen gelassen, nachdem wir zugestimmt hatten, Anton auf seinem Hof zu unterstützen, wo wir nun Kartoffeln und Kürbisse anbauen und sogar unseren eigenen Honig herstellen. Inzwischen glaubt Julie natürlich, dass der Richter mit Anton unter einer Decke steckt. Sie spricht von einem Sektengefüge, mit Anton auf dem Thron und einflussreichen Leuten wie dem Richter, die ihm zu Füßen liegen wie ein ausgerollter Teppich. Schwachsinn.
»Nur die Hitze«, erkläre ich Anton und zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht.
»Bei der nächsten Gelegenheit fahren wir mal raus«, beschließt er. »Wir müssen sowieso tanken. Dann besorge ich dir eine Cola.«
Ich nicke und bedanke mich. Ich liebe Cola. Mein Vater hat mir immer verboten, welche zu trinken. Nicht nur als Kind, selbst später, als ich dreizehn, vierzehn, fünfzehn war und andere in meinem Alter von der Cola schon langsam zu Bier übergingen. Ben trinkt Apfelschorle, sonst bekommt er Ärger. Ben tut überhaupt, was Papa sagt – alles andere würde er bloß bereuen.
»Schleimer«, murmelt Julie von der Rückbank. Keine Ahnung, ob sie damit Anton meint, der über die Sache mit der Cola genauso Bescheid weiß wie über andere Dinge aus meiner Kindheit, oder mich, weil ich mich gerade bei ihm bedankt habe. Ich hoffe nur, Anton hat sie nicht gehört. Ich will nicht, dass er uns für undankbar hält, nach allem, was er für uns getan hat. Er soll auch kein schlechtes Bild von Julie allein bekommen. Sie als Störenfried enttarnen und mich schlimmstenfalls vor die Wahl stellen: er oder sie. Schließlich fühle ich mich wohl auf seinem Hof und möchte unbedingt bleiben. Ich mag die Gemeinschaft. Wir sind ein gutes Dutzend Leute dort, alles Systemaussteiger; ich mag die Arbeit auf dem Feld, ich mag die Gespräche und wie wir abends draußen beim Lagerfeuer zusammensitzen. Zum ersten Mal habe ich ein Gefühl von Zuhause.
Dem gegenüber steht Julie, die ich unendlich liebe. Julie und Ben, Bonnie und Clyde, für immer und gegen den Rest der Welt. Bis in alle Ewigkeit, haben wir einander geschworen.
»Da, schau!« Anton nimmt die Hand vom Lenkrad, um mit dem Zeigefinger auf ein vorbeirauschendes Schild zu deuten, das die nächste Tankstelle in fünf Kilometern ankündigt. Ich sage: »Ah, gut«, lehne den Kopf gegen die Seitenscheibe und schließe die Augen für einen jener Momente, in denen man sich über sein Leben bewusst wird. Meins stelle ich mir wie die Schachtel eines Tausend-Teile-Puzzles vor. Da ist das Puzzleteil mit meinem Vater, dem erfolgreichen Unternehmer, in seinem schicken Anzug und mit erhobener Hand. Da ist das Teil, das mich am Esstisch sitzend zeigt, wie ich gerade einen Schlag in den Nacken bekomme, weil ich das Besteck falsch gehalten habe. Da bin ich in meinem Zimmer, wie ich lerne, während die anderen Kinder in meinem Alter draußen auf der Straße toben. Da ist mein Vater, den ich in seinem Arbeitszimmer über eine fremde Frau gebeugt erwische, die wiederum bäuchlings über seinem Schreibtisch lehnt; ihre Unterhose hängt zwischen ihren Fußknöcheln. Währenddessen steht meine Mutter in der Küche und schält Kartoffeln mit diesem entrückten Ausdruck im Gesicht, so als gehe sie das alles nichts an, solange sie nur genügend Gin intus hat.
Und wenn ich die ganzen Teile nun zusammensetze, dann ergibt das Gesamtbild schon einen Sinn, nur entspricht es nicht im Geringsten dem Motiv, das auf der Schachtel abgedruckt war. Es ist eine verfluchte Mogelpackung. Ich muss mich echt zusammenreißen, um nicht erneut wütend auf Julie zu werden, die alles über mein bisheriges Leben weiß und mich dennoch mit ihren Zweifeln quält.
»So, da sind wir.« Anton biegt zur Tankstelle ein. Nicht viel los hier, nur eine einzige weitere Zapfsäule ist besetzt. Er dreht die Zündung aus und verspricht, sich zu beeilen.
Kaum ist er ausgestiegen und hat seine Tür zugeschlagen, rutscht Julie auf der Rückbank nach vorne. »Lass uns abhauen!« Als ich nicht reagiere, beginnt sie, an meiner Kopfstütze zu ruckeln. »Bitte, Ben, du weißt, dass hier was nicht stimmt.«
»Hör auf, verdammt!« Hektisch blicke ich mich um. Anton schiebt gerade die Zapfpistole in die Tanköffnung. »Er will sie nur zurückholen«, zitiere ich sein Vorhaben für den heutigen Tag. Sie: Das sind drei weitere Mitglieder der Gemeinschaft, die, kurz bevor Julie und ich auf den Hof zogen, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von dort abgehauen waren. »Weil er weiß, dass sie alleine nicht klarkommen werden.«
»Selbst wenn«, schnarrt Julie zurück. »Fragst du dich gar nicht, warum sie lieber ohne ihn klarkommen wollen? Wa­rum sie überhaupt einen Grund gehabt haben sollten, abzuhauen, wenn doch angeblich alles so toll ist auf seinem Hof?« Sie schüttelt den Kopf. »Das ist ganz typisch für einen Sektenführer, das hört man doch immer wieder. Leute, die aussteigen, werden gejagt und …«
»Sektenführer, Mann, Julie! Wie oft denn noch? Anton hat selbst keine Familie, also hat er sich eine Gemeinschaft aufgebaut, die …«
»Er bestimmt, wann wir aufstehen. Er bestimmt, wann und was wir frühstücken. Wann wir zu arbeiten haben und sogar, wann wir ins Bett müssen. Wir dürfen nicht mal rauchen!« Demonstrativ fummelt sie eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Rocktasche ihres Kleides.
»Spinnst du? Steck das sofort wieder ein!« Erneut sehe ich mich nach Anton um, der zu meiner Erleichterung gerade in die Ferne blickt. Julie mault, aber gehorcht. Gut sein lässt sie es trotzdem nicht.
»Ben, diese Regeln sind Teil einer abartigen Kontrollsucht. Er formt uns! Wer weiß, für welchen Zweck …« Ein Geräusch unterbricht sie – das Ploppen der Zapfpistole, der Tank ist voll.
»Jetzt oder nie«, höre ich Julie, nachdem Anton zum Bezahlen in den Kiosk verschwunden ist. Ich versuche noch, nach ihr zu greifen, doch ich fasse ins Leere – sie ist bereits aus dem Auto gesprungen.
»Scheiße!« Ich lasse meinen Gurt schnappen, reiße am Türöffner und setze ihr nach. Sie läuft in Richtung der Toilettenräume, die dem Kiosk rechterseits angeschlossen sind. Im Vorbeirennen erhasche ich durch die Glasscheibe einen Blick auf Antons Rücken. Er steht an einem der Kühlregale, bestimmt auf der Suche nach meiner Cola.
»Julie!«, zische ich – sinnlos, bei dem Lärm, der von der Autobahn herüberdrängt. Ich beschleunige meine Schritte. Julie trägt ein Sommerkleid mit einem langen Rock und ist barfuß, nachdem sie ihre Sandaletten schon zu Beginn der Fahrt ausgezogen hatte. Dementsprechend ist sie langsamer als ich, und es gelingt mir, sie einzufangen, bevor sie die Waschräume erreicht. Ich packe sie am Arm.
»Lass mich!« Sie schüttelt sich wild, was meinen Griff jedoch bloß verstärkt. »Du tust mir weh!«
»Und du tust Anton unrecht!«
»Ach ja? Du hast genauso viel Angst wie ich, Ben! Das spüre ich! Du weißt genau wie ich, dass hier etwas Schlimmes vor sich geht. Dass dieser Plan « – sie spuckt das Wort förmlich aus –, »diese Leute zurückzuholen, in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine Tötungsmission!«
Erschrocken lasse ich sie los. Nicht, weil sie sagt, was sie sagt – diesen Quatsch höre ich ja seit Tagen von ihr –, nein, es ist der Ausdruck in ihren Augen, der mich erschreckt, diese Enttäuschung, die sich als unsichtbare Hand um mein Herz legt und es zusammenquetscht wie einen alten Schwamm. Wir zwei, für immer und gegen den Rest der Welt. Darum geht es, ich sehe es ihr an. Sie kann nicht fassen, wie unser Schwur mit einem Mal bröckelt und Anton auf seine eigene Art innerhalb kürzester Zeit zu einem Teil unserer Beziehung geworden ist. Ich will ihr sagen, dass sie sich irrt. Dass niemand jemals wichtiger für mich sein wird als sie. Dass Anton bloß eine andere Lücke in meinem Leben füllt. Er ist ein Freund, mit dem ich reden kann, und vielleicht sogar der Vater, den ich mir immer gewünscht hätte.
Doch dazu komme ich nicht, denn plötzlich ist da die Stimme in meinem Rücken: »Alles okay?« Anton.
Julie reißt die Augen auf, ich fahre herum. Er steht ungefähr zehn Meter von uns entfernt, zwei Flaschen Cola und eine Flasche Wasser zwischen Arm und Brust geklemmt. Selbst aus dieser Entfernung erkenne ich, wie er prüfend – misstrauisch? – die Augen verengt. Ich sehe zurück zu Julie, wir tauschen verzweifelte Blicke; jeder fleht den anderen an, zur Besinnung zu kommen, und jeder für sich beißt nur wieder auf Granit.
»Alles okay«, antworten wir schließlich wie aus einem Mund und trotten zurück zum Auto. Anton folgt uns, wartet aber, bis wir beide die Türen hinter uns zugeschlagen haben, bevor er ebenfalls einsteigt. Er reicht mir meine Cola und wendet sich daraufhin nach hinten zu Julie, die ihre bockige Pose mit den verschränkten Armen wieder einge­nommen hat und keine Anstalten macht, ihm ihre Flasche abzunehmen. Also legt er sie neben sie auf die Rückbank. Dann setzen wir unsere Fahrt fort.
»Alle, die zu mir kommen, sind in ihrem Leben an einen Punkt gelangt, wo es einfach nicht mehr weitergeht«, beginnt er nach einer Weile. »Manche sind durch kleinere Delikte aufgefallen.« Er sieht zu mir herüber und lächelt vielsagend. »Und dann gibt es die, die noch ein ganz anderes Potenzial in sich tragen, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht so wirken. Fakt ist: Diese drei Leute, um die es geht, haben große Probleme.«
Ich merke, wie Julie von hinten auffordernd gegen meinen Sitz tritt. Also gut …
»Du hast gesagt, du weißt, wo sie sich verstecken.«
»Richtig. Es ist ein altes Haus, oben im Norden. Einmal habe ich mitbekommen, wie sie sich darüber unterhielten, daher bin ich mir relativ sicher, dass wir sie dort antreffen werden.«
»Und was genau hast du dann vor?«
»Ich werde versuchen, sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, wenn sie mit uns zurückkommen.«
»Und falls sie das nicht wollen?«
Anton antwortet mir nicht.
»Und falls sie das nicht wollen?«, wiederholt Julie meine Frage drängender. Doch auch sie erhält keine Antwort.
Wir erreichen das Ziel am späten Nachmittag, nachdem wir den Rest der Fahrt schweigend verbracht haben. Anton parkt den Wagen an einem Feldweg. Er sagt, das Haus liege nur einen kurzen Fußmarsch von zwei bis drei Minuten entfernt. Er öffnet seine Tür, ich tue automatisch dasselbe, stocke jedoch, als Julie sich nicht rührt.
»Was ist?«, fragt Anton.
»Ich komm nicht mit«, sagt Julie. »Was auch immer das werden soll, ich will kein Teil davon sein.«
»Ben?«
Ich versetze meiner Tür einen extra kräftigen Stoß; es knallt, und das halbe Auto scheint zu wackeln, als sie in den Rahmen fällt. Julie schüttelt bloß den Kopf.
Anton tritt derweil um das Auto herum und öffnet den Kofferraum, um eine Umhängetasche herauszuholen. Mit einem mulmigen Gefühl beobachte ich, wie er sich den Riemen über die Schulter legt, und würde ihn am liebsten fragen, was er in der Tasche transportiert. Doch ich verkneife es mir; es ist lächerlich, eine Waffe darin zu vermuten.
Wir setzen uns in Bewegung, den Feldweg entlang, in Richtung einer Anhöhe, wo das Haus, laut Anton, frei oberhalb einer Wohnsiedlung steht.
»Was genau meintest du vorhin damit, dass diese drei Leute große Probleme haben?«, frage ich nun, da wir allein sind und Julie nicht mehr jeden seiner Sätze für ihre Theorien zweckentfremden kann.
»Es sind Verbrecher, Ben. Sie haben sich grausamer Taten schuldig gemacht.«
Oh, würde Julie jetzt sicherlich unken, was waren das denn für grausame Taten? Haben sie eine deiner Regeln nicht befolgt? Sind sie zu spät aufgestanden und waren nicht pünktlich genug auf dem Feld?
Ich will gerade nachhaken, als er seine Hand ausstreckt, um auf das Gebäude zu deuten, das sich in nur noch wenigen Metern Entfernung vor uns erhebt. »Da!«
Im Gegenlicht der untergehenden Sonne sehe ich es nicht gleich. Doch dann … »Mein Gott.« Das ehemals zweistöckige Haus ist mit großen blauen Plastikplanen verkleidet. Wo sie sich gelöst haben, geben sie den Blick auf eine Brand­ruine frei, verkohlte Wände, Löcher, wo einst Fenster eingesetzt gewesen sein müssen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass wir hier jemanden finden werden.
»Bist du sicher, dass …«
Anton legt mir die Hand auf die Schulter.
»Wir kennen uns jetzt seit einigen Wochen, Ben. Ich habe dich vor dem Gefängnis bewahrt und dir ein Zuhause gegeben.« Ich nicke beklommen, fürchte zu ahnen, worauf er hinauswill: dass ich ihm etwas schuldig bin. »Heute ist der Tag, an dem du mir dein Vertrauen und deine Loyalität beweisen kannst.«
Er nimmt die Hand von meiner Schulter und greift in seine Tasche hinein. Eine Waffe kommt zum Vorschein, eine Pistole; ich starre nur, ich starre hin und her zwischen der Waffe und Antons Gesicht, auf dem sich ein aufforderndes Lächeln breitgemacht hat. Er drückt mir die Waffe in die Hand und schließt meine Finger darum. Scheiße, Julie hatte recht.
»Ich … kann niemanden töten. Ich könnte niemals …«
»Du wirst tun, was richtig ist, mein Junge. Es sind böse Menschen.«
Zwischen den Schulterblättern spüre ich wieder seine Hand. Er schiebt mich dem Eingang entgegen, der in seinem verkohlten Zustand und ohne Haustür nur mehr wirkt wie ein schwarzer Schlund. Ich will mein ganzes Gewicht gegen den Schub in meinem Rücken aufbringen – weglaufen, rennen, zurück zum Auto, Julie holen, und dann nichts wie fort –, und doch setze ich einen Fuß vor den anderen, hinein in den Schlund, durch einen schmalen Gang, der wohl früher der Flur gewesen ist. An den Wänden hängen teils noch Bilder, aber das Glas ist zerborsten, und die Fotografien dahinter sind vom Ruß unkenntlich. Ein beißender Geruch in meiner Nase, so stark, dass ich mich am liebsten übergeben will. Obwohl der Brand schon länger her sein muss, scheinen die Wände, die Böden, das Gebälk immer noch vollgesogen zu sein von Benzin. Nicht auszudenken, was der Funke eines Streichholzes hier wahrscheinlich immer noch anrichten könnte.
»Anton …«, flüstere ich schwach, als ich gedämpfte Stimmen vernehme. Es stimmt also: Sie sind wirklich hier, und einer von ihnen lacht. Es ist eine hohe Stimme, die einer Frau.
»Keine Angst«, sagt Anton nur und führt mich weiter bis zum ehemaligen Esszimmer des Hauses. Dort finden wir sie. Sie sitzen am Tisch, der im Gegensatz zum Rest des Raums vom Feuer offenbar verschont geblieben ist. Sogar eine ordentlich gebügelte Tischdecke liegt darauf, Teller, Besteck und Kerzen sind gedeckt, aus einer Schüssel dampfen Kartoffeln, aus einer weiteren grüne Bohnen, und auf einer Fleischplatte liegt etwas, das ich als Hackbraten ausmache. Die Frau hat sich gerade vom Tisch erhoben, um den Braten mit Hilfe einer Fleischgabel und eines Messers zu schneiden.
Als sie Anton und mich im Türrahmen stehend entdeckt, lässt sie beides keuchend fallen. Auch die Blicke der anderen haben uns nun erfasst. Ein Mann und ein Junge im Teenageralter. Sie stehen ebenfalls auf, ihre Gesichter wie erstarrt vor Fassungslosigkeit und Furcht.
»Siehst du sie?«, fragt Anton in meinem Nacken.
Ich nicke. In meiner Hand zittert die Pistole. Das können keine bösen Menschen sein, sie sehen aus wie eine ganz normale Familie.
»Lass dich nicht täuschen«, sagt Anton, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Nehmen wir Mike.«
Der Mann zuckt merklich zusammen. Er ist groß und recht beleibt, trägt einen herausgewachsenen Haarschnitt und einen Vollbart, was ihn eher wie einen riesigen Teddybären wirken lässt als wie einen angeblichen Schwerverbrecher.
»Mike hat über ein Dutzend Frauen vergewaltigt, und das sind nur die Fälle, die man ihm nachweisen konnte. Und Colin …«
Der Junge gibt einen kieksenden Laut von sich, der nicht ganz zu seiner hochgeschossenen, schlaksigen Figur passen will, wohl aber auf den Stimmbruch zurückzuführen ist.
»Colin hat schon als kleiner Junge Tiere gequält. Erst waren es nur Insekten, die er mit Hilfe einer Lupe in Brand gesetzt hat, später hat er sich größere Tiere geschnappt. Katzen, Hunde, Schafe von der Weide eines ortsansässigen Bauern …«
»Sag ihm, er soll aufhören«, fleht die Frau mich an. Sie ist schätzungsweise in den Vierzigern, eine typische Hausfrau mit praktischem Haarschnitt und einem freundlichen Gesicht, das unter den angstverzerrten Zügen hervorblitzt. Es trifft mich wie ein Schlag: Ihr Name ist …
»Liz«, stoße ich hervor.
»Ja«, stimmt Anton mir zu. »Die gute Liz, die für den Brand dieses Hauses verantwortlich ist. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben.« Er muss nicht weiterreden.
»Meine Eltern.«
»Ganz genau, Ben. Dies hier ist dein Elternhaus, oder besser das, was davon übriggeblieben ist. Erinnerst du dich?« Er packt mich bei den Schultern und dreht mich so, dass ich ihm in die Augen sehen muss. »Mike, Colin und Liz sind allesamt Teile deiner Persönlichkeit, Ben. Und im Zuge deiner bisher erfolgreichen Therapie wirst du sie jetzt loswerden.«
Ich bin sprachlos, mein ganzer Körper vibriert. Anton kneift die Lider zu Schlitzen, als wolle er direkt in mein Inneres blicken. »Mein Name ist Doktor Anton, das weißt du doch noch, oder? Der Richter hat dir eine Chance gegeben, als er dich nach deiner Verhaftung in meine Institution schickte, anstatt ins Gefängnis, weil ich ihn davon überzeugen konnte, dass nicht du für all diese schlimmen Taten verantwortlich bist, nicht wirklich.«
»Aber ich habe niemals …«
»Doch, Ben. Objektiv betrachtet hast du all das getan. Du hast schon als Kind Tiere gequält, später hast du dieses Haus in Brand gesteckt und dadurch deine Eltern getötet, und du hast mindestens ein Dutzend Frauen missbraucht. Das ist eindeutig und zweifellos nachgewiesen durch DNA-Spuren, Fingerabdrücke und Zeugenaussagen. Und doch ist es manchmal eben nicht so leicht mit der Objektivität – nicht bei einer gespaltenen Persönlichkeit. Deine besteht neben dir aus drei weiteren Menschen.« Er deutet ins Esszimmer hinein, seine Stimme wird hypnotisch. »Du musst sie loswerden, Ben, damit wir deine Therapie fortsetzen können.«
Ich kann immer noch nichts sagen, zittere nur, genau wie die Waffe in meiner Hand.
»Enttäusch mich nicht«, setzt Anton nach. »Mein Therapieprojekt ist neuartig und möglicherweise bahnbrechend. Wir sind keine sterile Klinik, in der wir die Patienten mit Medikamenten vollpumpen. Wir sind ein Selbstversorgerhof, auf dem Menschen wie du Verantwortung lernen und eine Umgebung haben sollen, die es euch einfacher macht, euch zu öffnen. Und es gefällt dir doch bei uns, oder?«
Ich glaube, ich nicke. Zum ersten Mal habe ich ein Gefühl von Zuhause …
»Tu es, Ben. Ich weiß, dass du es kannst.«
Die Waffe in meiner Hand. Langsam, ganz langsam richtet sie sich ins Zimmerinnere hinein. Und dann – Schüsse, Gerumpel, Schreie. Liz versucht noch, unter den Tisch zu kriechen; vergeblich. Im Kerzenlicht wirkt das spritzende Blut wie ein schwarzer Sprühregen. Ich weiß nicht, wie lange das Ganze dauert, die Zeit hat ein Loch, und wir fallen hinein, wir fallen tief und tiefer, bis wir endlich aufschlagen inmitten einer allumfassenden Stille. Es ist vorbei.
»Gut gemacht, mein Junge.« Behutsam fasst Anton nach der Waffe in meiner Hand. Die sich plötzlich leicht anfühlt, viel zu leicht. Und die auch sonst nicht mehr ihrer ursprünglichen Form entspricht. Ich muss erst hinsehen, um zu begreifen, dass ich etwas ganz anderes in der Hand gehalten habe. Einen Pappordner. Eine Krankenakte, auf der mein Name steht. Erschrocken wende ich den Blick zurück ins Esszimmer. Dort steht kein gedeckter Tisch, flackern keine Kerzen, weder Leichen noch Blut, es ist bloß ein leerer Raum, völlig verkohlt wie der Rest des Hauses. Ich schaue zurück zu Anton – für eine Sekunde lächelt er, dann verzerrt sich sein Gesicht. Der Ordner fällt zu Boden, Aktenblätter verteilen sich raschelnd, und auf Antons Hemd knospt eine rote Blüte, die in Sekundenschnelle größer wird, bis fast nichts mehr von dem ehemals hellen Stoff übrig ist.
»Ben«, krächzt er ungläubig, als er zusammenbricht.
Ich klappe den Mund auf, genauso ungläubig. Denn plötzlich ist Julie da. Julie, die sich wohl Sorgen gemacht hat und uns gefolgt ist. Die sich hinter dem Türrahmen versteckt gehalten und auf den richtigen Moment gewartet hat.
»Tja, Doktor, offenbar hast du dich geirrt«, sagt sie und lacht, als sie sich über Anton aufbaut, wobei sie das kleine, aber gefährlich scharfe Klappmesser schwenkt, das sie unbemerkt nach der Kartoffelernte auf dem Hof eingesteckt hatte. »Wir waren schon immer zu fünft.«
Anton gurgelt Blut, er klingt wie ein verstopfter Abfluss. Mir wird schlecht, ich wende mich ab. Julie ist sofort zur Stelle und reibt liebevoll meinen Rücken. »Komm, Ben. Er kann alleine sterben.«
Ich lasse sie meine Hand nehmen und mich aus dem Haus führen. Wir werden zurück zum Feldweg gehen, uns Antons Auto holen und einfach verschwinden. Als wir draußen sind, sagt sie: »Sekunde noch«, und lässt ihr Feuerzeug klicken, um sich endlich eine Zigarette anzustecken. Sie nimmt einen tiefen Zug, dann reicht sie sie an mich weiter. Ich inhaliere tief, entspanne mich. Hinter uns brennt erneut das Haus und erhellt die Dämmerung, die Plastikplanen schmelzen, Ascheflocken segeln durch die Luft.
»Es schneit!«, ruft Julie und vollzieht kichernd ein paar Drehungen. Ich sehe ihr zu, ihr Übermut und ihre Schönheit machen mein Herz weit. Schließlich wirft sie sich in meine Arme, und ich ergebe mich in ihren Kuss. Ach, Julie, meine Julie … Wir zwei im Julischnee. Wir zwei wie Bonnie und Clyde, für immer und gegen den Rest der Welt. Du bist mein Zuhause. Ein anderes brauche ich nicht.