Pia Schmidt
Ich bin Rotkäppchen
E
s war einmal ein kleines Mädchen, das von allen gemocht wurde. Seine Großmutter schenkte ihm ein schönes rotes Käppchen aus Samt. Und weil es ihm sehr gefiel, wollte es das Käppchen gar nicht mehr ausziehen.«
Niedlich.
Rotkäppchen konnte nur schwer erahnen, ob es bloß der beißende Wind war, der die sanften Tropfen in seine wunderschönen tiefbraunen Augen trieb oder ob ihm diese wunderbare Form der Liebe tatsächlich die ein oder andere Träne entlockte.
Die dünne Flüssigkeit schmeckte salzig, wie es feststellte. Es waren unverkennbar Tränen.
Wunderschön.
Gierig reckte sich die zartrosa Zunge nach den langsam kullernden Tröpfchen, die nun nach und nach auf die Geschmacksknospen trafen und eine besondere Form der Ruhe und Zufriedenheit in Rotkäppchen auslösten. Die Rührung. Meine vollkommenen Gefühle.
Es dachte darüber nach, dass es außer ihm niemanden auf der Welt gab, der solch tiefgründige Gefühle besaß. Kleine Kinder weinten mit Sicherheit nie, wenn ihre arme alte Großmutter sie auf den gemütlichen Schoß nahm und ihnen mit ihrer krächzenden Stimme das schönste Märchen der Welt vorlas. Sie erahnten noch nicht einmal
das Privileg, diese Geschichte überhaupt hören zu dürfen. Und sie würden sie vergessen und nicht mehr daran zurückdenken, wenn sie einmal älter geworden waren.
Eine Schande.
Ebenso wie die Tatsache, dass die salzigen Tränen inzwischen allesamt in Rotkäppchens Gaumen verschwunden waren und auch keine neuen mehr nachkamen.
Alles war eine einzige bodenlose Frechheit, und dabei war es der schönste Tag des Monats – welcher auch immer gerade auf dem Kalenderblatt stand.
Die Sonne, die rötlich zwischen den Bäumen hervorblitzte, kitzelte auf der Nase und schien die Augen selbst dann mit ihren Strahlen zu lähmen, wenn sie fest zugedrückt waren. Der Wind trug immer nur kurz eine Böe durch den Wald und störte Rotkäppchen nicht annähernd, sobald es sah, wie alles unter seiner Kraft lebendig wurde. Die frischen Grashalme tanzten, die Äste wogten sanft auf und ab und die Blätter vibrierten unruhig – so unruhig, dass Rotkäppchen am liebsten auf eine der mächtigen Eichen geklettert wäre, um sie zu beruhigen.
Alles schien perfekter, als es sein durfte, hätte nicht das schlimmste aller Dinge die jahrhundertealte Geschichte zerstört.
Doch Rotkäppchen war kein Vorwurf zu machen. Kinder sind nun einmal neugierig und den Erwachsenen weit voraus, wenn es darum geht, nicht weiterzugehen, bevor sie nicht mindestens eine neue Erkenntnis gesammelt haben.
Die populärste aller Märchenfiguren war da nicht anders und dachte noch nicht einmal daran, dass Handys noch gar nicht existieren durften, ehe sie bereits nach dem wunderschön glänzenden Gegenstand gegriffen hatte. Die dicklichen Fingerchen hielten das schwarze Gerät ehrfürchtig, als wäre es eine Trophäe, auf die
Rotkäppchen schon lange gewartet hatte.
Ich sehe mich.
Das rundliche Gesicht spiegelte sich auf dem dunklen Display, wenn auch aus einer sehr ungünstigen Perspektive, aus der bestimmt nie jemand ein Foto von sich geschossen hätte.
Schon gar nicht jemand mit Doppelkinn.
Es war ein seltsames Gefühl, das sich nach und nach in Rotkäppchen ausbreitete und immer stärker wurde, je länger es starr auf dem weichen Waldboden verharrte und den Fundgegenstand begutachtete.
Glatt fühlte er sich an. Perfekt glatt
und angenehm warm.
Kindlich und naiv verhielt sich Rotkäppchen, als wüsste es nicht, wie ein solch neuartiges und komplexes Gerät bedient wurde, geschweige denn, wofür es überhaupt gut war. Wohl war dies auch der Grund, weshalb plötzlich all die Raben, die gerade noch hochmütig durch das dichte Gras spaziert waren, aufschreckten und wild flatternd das Weite suchten.
Denn Rotkäppchen hatte geschrien. Mit aller Kraft, die die kleine Kehle aufbringen konnte, und so lange, bis die Luft nicht nur knapp wurde, sondern zur Gänze verbraucht war.
Er sollte doch erst später kommen.
Die rechte, zittrige Hand überprüfte sogleich das nun viel zu traurige Gesicht auf weitere Tränen, doch kam sie ohne nennenswerte Funde wieder zurück zu dem Gegenstand, in dem sich jetzt nicht mehr Rotkäppchens Gesicht spiegelte. Damit war auch das anfänglich wonnige Lächeln wie von einem gewaltigen Schwall Wasser weggewaschen, denn aus dem Display blickte der Horror.
Immer müssen sie mir alles zerstören.
Augenscheinlich gab es nur noch einen potenziellen Retter, und das war Rotkäppchen selbst. Zwar standen weder der animalische Schrei noch die anfänglichen Tränen in der ursprünglichen Form in der
Geschichte, doch wem konnte man schon die eigenen Emotionen verbieten? Musste nicht früher oder später der Zeitpunkt kommen, an dem Kinder lernten, dass ihre Märchenhelden in Wahrheit gebrochene Persönlichkeiten sind?
Allerdings konnten selbst die tiefsten inneren Narben geschickt überspielt werden, und so flüsterte Rotkäppchen mit bebender, mitleiderregender Stimme: »Wer bist du denn?«
Es sprach die Frage aus, obwohl es die Antwort genau wusste. Viel zu genau, doch wenn nicht alles gänzlich zerstört werden sollte, musste es mitspielen.
Ich bin ein kluges Mädchen. Ganz anders als dieses Vieh.
Die schrecklichen, weit aufgerissenen Augen schienen Rotkäppchen durchdringen zu wollen, sich in ihre Seele zu bohren und diese langsam zu zersetzen.
Sein Blick war gierig, ebenso wie das weit aufgerissene Maul, das nur eines bedeuten konnte:
Er will jemanden fressen.
Und das musste er in Wahrheit auch. Jedoch erst später, nicht hier im idyllischen Wald, wo alles so aussehen sollte, als gäbe es kein Unheil, keinen Tod, keinen Hass.
Rotkäppchen musste schlucken und schmeckte dabei ein leicht metallisches Aroma, das sich in seinem Rachen ausbreitete. Anscheinend hatten die perlengleichen, weißen Zähne aus Nervosität die rosa Zunge etwas zu fest umklammert. Trotz der stärker werdenden Blutung lockerte Rotkäppchen den Biss erst, nachdem der Wolf von selbst verschwunden und der Bildschirm wieder schwarz war.
Noch mal.
Womöglich hätte Rotkäppchen nicht einmal selbst erklären können, weshalb es erneut so lange auf sämtliche Stellen des Handys drückte, bis das Bild zurückkam.
Der Wolf war noch da, und wenn Rotkäppchen nicht alles täuschte, sah er noch schlimmer aus als zuvor.
Da steht ein Datum.
Die Freude war groß, seit Langem wieder einmal zu erfahren, welcher Tag es war und wo die vielen Zeiger der Uhr standen.
05:23.
Vier Zahlen, die Rotkäppchen mehr Sorge bereiteten als das schlimmste aller Tiere, das ihr darunter mit seinen tiefgelben Augen entgegenblickte.
Ob Großmutter nicht noch im Dorf zum Einkaufen ist? Sie muss doch das Mittagessen kochen. Mit viel Gemüse, damit sie noch nicht stirbt.
Mo., 27. April. Damit kann ich nichts anfangen. Was soll denn heute anders sein als gestern und morgen?
Die Erwartung in Rotkäppchens Gesicht verblasste, der Wolf und die weißen Zahlen verschwanden einmal mehr in der Dunkelheit.
Noch mal.
Und wieder erschien das zähnefletschende Tier und Rotkäppchen konnte nicht anders, als es sanft am Kopf zu streicheln, denn es war doch ein netter kleiner Mensch und es wusste aus der Sonntagskirche, dass man Hass mit Liebe begegnen musste. Egal, wie tief und berechtigt er war.
Es sollte seine Entscheidung bereuen. Denn mit einem Mal war der Wolf verschwunden, und die kleinen Finger schienen eine zweite Welt aus diesem mysteriösen schwarzen Gerät hervorzuziehen.
Er sieht gar nicht nett aus.
Das war Rotkäppchens erster Gedanke, als es das mürrische, haarige Gesicht eines fremden Mannes erblickte. Seine wuscheligen, ungekämmten Haare schienen früher einmal dunkelbraun gewesen zu sein, doch inzwischen dominierte das Grau, das sich auch in seinem
Bart abzeichnete. Es war kein Vollbart, doch wenn der Fremde sich nicht bald rasieren würde, würde es einer werden.
Rotkäppchen bekam zunehmend Angst vor den weit aufgerissenen Augen und den buschigen Augenbrauen. Es schluckte, fuhr sich über die eigenen. Und zuckte zusammen.
Der Kopf des wütenden Mannes füllte zwar beinahe den ganzen Bildschirm aus, doch leider nur beinahe.
Denn so konnte es sie
sehen. Sie und das viele Rot, das wohl ebenso metallisch schmeckte wie die Flüssigkeit, die sich nun wieder in Rotkäppchens Mund ausbreitete.
Sie sieht so tot aus.
Hinter dem linken Ohr des Fremden stand ein schönes rosafarbenes Sofa, doch die Schönheit war getrübt, denn es lag jemand darauf, der tot war.
Und als wäre das nicht genug, blutet sie wie verrückt.
Sie, die alte Frau, klein und zart. Und nicht nur sie.
Rotkäppchen warf einen genaueren Blick auf die hohe Stirn des Mannes, der sich allem Anschein nach selbst fotografiert hatte.
Sich und die Leiche.
Es war ein tiefer Schnitt, der sich bestimmt drei Zentimeter lang unter seinem Haaransatz durch die helle Haut zog. Einige zu lange Strähnen überdeckten die Wunde, sodass sie Rotkäppchen zuerst gar nicht aufgefallen war. Doch sie war da.
Sie schien so tief, dass das Blut kaum nach außen dringen konnte, sondern sich darin sammelte. Blut, das sich nun auch in Rotkäppchens Mund sammelte.
Es wollte die Flüssigkeit schlucken, doch dazu fehlte plötzlich die Kraft. Denn Rotkäppchen hatte einen Fehler gemacht.
Unkontrolliert waren die kleinen Fingerchen der linken Hand immer weiter nach oben gewandert. Bis zum Mund, schließlich zur Nase, zur rechten Augenbraue und dann … Rotkäppchen spürte, wie
sich etwas in seinen Kopf bohrte. Tiefer und tiefer, als steuere dieses Etwas direkt auf sein Gehirn zu. Es brannte und klopfte überall, wo es nur möglich war, doch Rotkäppchen konnte nicht einmal »NEIN« schreien, denn dazu war das Gefühl viel zu angenehm.
Und das, obwohl da in Wahrheit nichts war. Nichts, außer einer kleinen Vertiefung in der Stirn. Und die musste Rotkäppchen abtasten. Mit dem Zeigefinger abfahren, während es auf den kleinen, spitzen, glänzenden Gegenstand starrte, den die alte Frau in der Hand hielt.
Es wollte schreien, brüllen, sich wehren, wie ein kleines Kind es eben tun würde, doch stattdessen verließ lediglich ein Flüstern die vollen Lippen.
»Ich bin Rotkäppchen.«
Nichts hätte Rotkäppchen mehr gebraucht als ein bestätigendes »Aber ja, natürlich bist du Rotkäppchen«, doch niemand, der es in diesem Moment gesehen hätte, hätte diesen Satz wohl über die Lippen gebracht.
So sprach Rotkäppchen ununterbrochen zu sich selbst, wiederholte den Satz in Dauerschleife. Denn da war dieses Gefühl, dass sonst etwas Schlimmes passieren würde.
Wie alle kleinen Mädchen liebte das Rotkäppchen Blumen in vielen Farben und Formen, doch besonders schön war jene gelbe Blüte, die den Anblick des Bildschirms etwas erträglicher machte, mit ihrer satten, fröhlichen Farbe.
»Ich bin Rotkäppchen.«
Es wollten keine Tränen mehr kommen, so schön die Blüte auch war und sosehr Rotkäppchen auch berührt war von der Perfektion der Natur.
Was jedoch hinter der Blüte steckte, war von Schönheit und Vollkommenheit weit entfernt. Denn durch die Berührung der gelben Blume erschien wieder dieser Mann. Allerdings nicht ein Mal. Sondern
Hunderte Male.
Er soll verschwinden.
Es war dasselbe Bild, das Rotkäppchen auch zuvor schon gesehen hatte, doch egal wie lange es mit seinem kleinen Finger über die warme, glatte Oberfläche wischte, das Bild wollte nicht verschwinden – oder besser gesagt: Die Bilder;
denn es waren unendlich viele kleine Quadrate, die sich über den Bildschirm ausbreiteten.
Mit jedem einzelnen von ihnen machte sich ein dumpfes Klopfen in Rotkäppchen bemerkbar.
Es wird lauter.
Der dickliche Zeigefinger flog nahezu über die Bilder, berührte dabei kaum noch den Bildschirm.
Flieg, Fingerchen, flieg.
In der Ferne lärmten Krähen, doch Rotkäppchen hörte nur noch das Klopfen. Sah das Bild und seine Tausende Kopien, die seine Augen gefangen genommen hatten und nun nicht mehr losließen. Ein Windstoß traf das verzweifelte Gesicht und verursachte ein leises Jaulen, das das seltsame Klopfen nicht annähernd übertönen konnte.
Es soll aufhören. Es MUSS jetzt aufhören. Sofort.
Und dann war mit einem Mal alles zu Ende.
Der Finger streifte weiterhin über die inzwischen erhitzte Oberfläche, doch da war nichts mehr. Kein schreckliches Bild mehr, das Rotkäppchen verfolgte.
Nur noch der Brunnen.
Ein Zeitungsfoto in seltsamen Brauntönen. Offensichtlich abfotografiert. Aus der Wochenzeitung. Denn wer auch immer dieses Foto gemacht hatte – es war ihm nicht gelungen, nur das Foto zu erwischen.
»Der Junge aus dem Bru…«
Dann kam der süße Schlaf mit offenen Augen.
38 Jahre zuvor
»Seht euch dieses Gesicht an!«
Die krächzende Stimme überschlug sich fast und endete in gequältem Husten.
Die Menge schrie kollektiv auf. Es war das, womit die fünf Männer gerechnet hatten. Schon als sie das Würgen gehört hatten, das durch die steinerne Wand noch schlimmer klang, als es ohnehin schon war.
Als auch noch ein Fauchen dazu kam, deutete alles auf eine streunende Katze hin, die dem Brunnen an der Waldlichtung zum Opfer gefallen war.
Doch dann sahen sie sein Gesicht. Das schwache Licht der Taschenlampe verharmloste vieles und so mussten die beiden Feuerwehrmänner ein Würgen unterdrücken, als sie das Kind zum ersten Mal bei Tageslicht sahen.
Von Gesicht konnte wahrlich kaum die Rede sein, denn man hätte lange hinsehen müssen, um unter all dem Rot und Blau überhaupt Augen oder eine Nase zu erkennen. »Sofern sie noch dran sind«,
kam es einem der Retter schlagartig in den Sinn, während er den Jungen auf eine Decke legte.
Das gesamte Dorf hatte sich versammelt und alle starrten auf das wimmernde Häufchen Elend, als hätten die Feuerwehrmänner die Sensation des Jahrhunderts aus dem Steinbrunnen gezogen. Nur, dass es keine Begeisterung war, die in den Augen der Leute aufblitzte. Sondern reine Ungläubigkeit.
Einige Frauen weinten, alte Männer schüttelten die Köpfe, Kinder bekamen von ihren Eltern die Augen zugehalten. Manche konnten offenbar nicht glauben, was sie sahen, und kamen immer näher, bis die beiden Notärzte sie zur Seite wiesen.
»Lebt er noch?«, rief eine ältere Frau, die sich beinahe ihre hellblauen Augen an dem Kind ausstarrte.
»Er hustet doch!«, entgegneten einige Umstehende kopfschüttelnd, doch niemand schien glauben zu können, dass dieser Anblick in irgendeiner Hinsicht mit dem Wort »Leben« in Verbindung stehen konnte. Selbst die Ärzte nicht, die sich nun vorsichtig über den Jungen beugten.
»Kannst du mich hören?«, fragte einer der beiden und traute sich kaum, das zitternde Bündel anzufassen. Schon gar nicht seinen Kopf,
der mit Abstand das Schlimmste an dem kleinen Körper war. Der Schädel schien offen zu sein, wobei man Genaueres kaum feststellen konnte, denn der Junge war derartig von getrocknetem und auch frischem Blut bedeckt, dass es aussah, als trüge er einen roten Helm.
Dr. Leithner schien es unmöglich, dass dieses verunstaltete Wesen überhaupt noch sprechen konnte.
Doch er sollte sich täuschen.
»W…, wo bin … ich?«, murmelten die von Blut rot gefärbten Lippen.
»Er redet!«, gab Leithner seinem Kollegen aufgeregt bekannt und wandte sich sofort wieder an den Jungen: »Du bist Peter, richtig? Es ist alles gut, mein Junge. Du warst in einem Brunnen, aber du bist jetzt wieder draußen. Wir kümmern uns um dich.«
Die Menge hielt den Atem an. Jeder wartete auf eine Reaktion des Kindes. Des kleinen Jungen, der vor drei Tagen morgens nicht in der Schule erschienen war und seitdem als vermisst gegolten hatte. Bis der Jäger ein Wimmern aus dem ausgetrockneten Brunnen an der Waldlichtung gehört und schließlich den siebenjährigen Peter Brünner entdeckt hatte, der offensichtlich bereits vor drei Tagen dort mehrere Meter in die Tiefe gestürzt war.
Und der nun fast regungslos auf einer alten Wolldecke lag.
»Sie …«, flüsterte das Kind gequält und wälzte sich für einen Augenblick unruhig. »Sie ist schuld …«
Fragend blickten die Ärzte einander an. Der Junge machte keine Anstalten, sich zu erklären. Die Menge raunte unverständlich, viele
reckten die Köpfe.
Dr. Leithner hatte geahnt, dass der Junge nicht ganz bei Sinnen sein würde, nachdem er drei Tage allein in der Dunkelheit gelegen hatte. Doch damit hatte er nicht gerechnet.
»Hat dich jemand in den Brunnen gestoßen?«, erkundigte sein Kollege Krüger sich mit deutlicher und ernster Stimme. Unmöglich wäre das nicht.
Tatsächlich schob der Junge das Kinn Richtung Schlüsselbein und hob den kleinen Kopf mühsam wieder.
»Mann«, flüsterte er mit erstaunlicher Klarheit.
»Welcher Mann?«, hakte Krüger atemlos nach, sodass Leithner ihn beruhigen musste.
»Lassen wir den Jungen erst mal in Ruhe. Befragen können wir ihn später.«
Überraschend schüttelte Dr. Krüger hektisch den Kopf und deutete seinem zwanzig Jahre älteren Kollegen, dem er ansonsten stets Respekt erwies, an, er solle sich zu ihm beugen.
»Du weißt doch, der Kinderschänder! Den sie gestern erst geschnappt haben! Der soll mit einem kleinen Jungen gesehen worden sein. Na und wer sonst stößt hier Kinder in den Brunnen?«
Leithner nickte schwach, während er den armen kleinen Körper begutachtete. Eine grausame und doch höchstwahrscheinliche Vorstellung.
»Aber wieso spricht er dann von SIE?«, zischte er nach kurzer Bedenkzeit zurück und sah misstrauisch in die Menge.
»O-o…«
Leithners Blick schnellte wieder zu dem Jungen. Er wollte etwas sagen. Eindeutig.
»Om…a«
Die Ärzte hatten zwar mit etwas Aufschlussreicherem gerechnet, doch es war verständlich, dass das Kind nach solch einem Erlebnis zu
seiner Bezugsperson wollte.
Vermutlich ein Waise.
Der Gedanke daran, dass der Junge noch nicht einmal Eltern hatte, stach Dr. Leithner mitten ins Herz.
»Du kannst gleich zu deiner O…«, wollte er das Kind beruhigen, doch dieses zuckte sofort zusammen und versuchte gequält, den Kopf zu schütteln.
»Nein«, flehte es plötzlich auffallend gefestigt, »sie ist schuld. Ich will sie nicht mehr.«
Stille.
Bis auf die ältere Frau, die etwas abseits stand und flüsterte: »Kümmert ihr euch doch um das Pack«, und mit einem großen Küchenmesser, das sie bislang unter ihrer Schürze versteckt hatte, unbemerkt im Wald verschwand. »Jetzt sieht er wenigstens wirklich aus wie Rotkäppchen, der Dummkopf.«
38 Jahre später, am selben Ort
Schreiend erwachte Rotkäppchen.
Es hatte nie geschlafen; viel mehr schien es, als hätte es im Kino gesessen und sich vollkommen vertieft einen Film angesehen.
Das Handy war noch da. Der Bildschirm war wieder schwarz. Aber es war da.
ICH bin noch da.
Der Wald war noch da. Die tanzenden Grashalme, die schwingenden Blätter.
Und eine neue Nachricht.
Rotkäppchen vergaß schlagartig all die Abgründe tief in sich und starrte mit großen Augen auf die Worte, die plötzlich in einem blauen Feld erschienen.
Das kann ein Handy also.
Wie ein Kind, das am Heiligabend vor dem Weihnachtsbaum und den brennenden Kerzen steht, glühte nun auch Rotkäppchen vor Erwartung. Und vor Hoffnung, dass die schwachen Lesekenntnisse aus der Schule ausreichen würden.
Doch es war nicht viel, was da stand. Jedes noch so junge Schulkind hätte verstanden, was die vier Worte bedeuteten. Viel schwerer als ihre Bedeutung allerdings war zu verstehen, dass tatsächlich etwas dahintersteckte.
»Du …«, las Rotkäppchen und plötzlich war keine Lieblichkeit mehr in seiner Stimme. Keine Zartheit, keine Unsicherheit.
»… bist nicht …« Bevor das letzte Wort die inzwischen blutig gebissenen Lippen verließ, musste Rotkäppchen den schweren Korb abstellen, der in seiner Armbeuge hing.
Und dann war sie auf einmal wieder da. Die gequälte, zitternde Stimme, getränkt von Angst und Blut. Es war jenes letzte Wort, dem die Ehre erwiesen wurde, mit dieser Stimme ausgesprochen zu werden.
»… Rotkäppchen.«
Es folgte kein Schrei, denn der blieb in der kleinen Kehle stecken.
»Du bist der Wolf«, erschien auf dem Bildschirm eine zweite Nachricht und bevor Rotkäppchen sich fragen konnte, wer ihm solch gemeine Worte schickte, hatte es bereits die Lösung.
Eifrig tippten die plötzlich nicht mehr so dicklichen Finger über die Tastatur und formten die Nachricht, mit der alles einzustürzen schien.
»Hör endlich auf, PETER.«
Und mit diesem Augenblick wurde das Klopfen von vorhin zu einem Knall.
Ein Knall, der kein Ende zu finden schien.
Als wäre es in Zeitlupe versetzt worden, griff Rotkäppchen sich zaghaft an den drahtigen Bart. An die buschigen Augenbrauen. Die Narbe, die sein erstes Opfer ihm zugefügt hatte.
Die Hände wanderten zu seinem Oberkopf, zogen dort die rote Kappe langsam nach unten. Es folgten das rote Kleidchen, die weißen Söckchen – bis bloß noch eine elende, nackte Gestalt übergeblieben war, die das Handy achtlos zu Boden fallen ließ und flüsterte:
»Ich bin Peter Brünner. Meine Großmutter hat mich, als ich ein kleiner Jungen war, als Rotkäppchen in den Wald geschickt, damit ein Kinderschänder mich aus dem Weg schafft. Seitdem bringe ich Großmütter um, damit andere Kinder nicht dasselbe Schicksal erleiden.«
Dann gab es einen erneuten Knall. Doch war er nicht in Rotkäppchens Gedanken. Sondern er kam aus der Pistole, die Peter Brünner aus dem Korb gezogen und sich an den Kopf gehalten hatte.
7 Stunden später
»Ich vermute, wir können froh sein, dass er weg ist.«
Inspektor Steiner musterte das rote Kleid, das wie eine Blutlache auf dem modrigen Waldboden lag.
»Was wissen wir denn überhaupt schon?«, erkundigte sich sein Kollege beiläufig, während er sich die Einweghandschuhe mühsam überstreifte.
»45-jähriger Arbeitsloser. Galt bereits einige Male als vermisst. Hat sich gelegentlich im Dorf blicken lassen.«
»Und der Name war noch mal?«
»Peter Brünner. Derzeit haben wir noch keine Angehörigen ausgemacht. Die Eltern dürften tot sein.« Inspektor Steiner spürte ein seltsames Gefühl im Bauch, während er immer wieder zu der schwarzen Plane blickte. Menschliche Konturen waren kaum zu erkennen, doch er wurde das Bild vor seinen Augen nicht los.
Rotkäppchen.
Die rote Kappe lag etwas abseits von dem roten Kleid mit weißer Schürze. Die Kleidungsstücke sahen unangenehm lebendig aus.
»Und den hältst du für eine Gefahr?« Inspektor Endner lachte knapp auf. »Einen Mann, der sich als Rotkäppchen verkleidet und durch den Wald spaziert?«
»Ja. Ich halte ihn für die größte Gefahr, die man sich vorstellen kann«, erwiderte Steiner todernst.
»Wegen des Selbstmordes?« Endner schüttelte den Kopf. »Er hat nur sich selbst umgebracht, und das wahrscheinlich auch nur deshalb, weil sein Leben ihm nichts mehr gegeben hat. Außerdem ist noch nicht sicher, dass es Selbstmord war.«
Noch während sein Kollege sprach, hatte Steiner abgeklärt den Kopf geschüttelt.
»Davon rede ich nicht.«
Seine Hand glitt über das Absperrband, mit dem beinahe der ganze Wald gesichert worden war.
»Sondern?«
»Es gibt etwas über diesen Mann, was du noch nicht weißt.«
Endner zog überrascht die Augenbrauen hoch und griff nach dem Koffer mit der Kamera und dem Stativ. »Und das wäre?«
»Der Typ ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das Rotkäppchen.«
»Zerstör doch nicht meine Kindheit!«, beschwerte Endner sich affektiert und grinste. »Ich weiß nicht, ob ich verkraften könnte, dass Rotkäppchen Suizid begangen hat.«
Steiner ließ sich von dem Humor seines Kollegen nicht anstecken.
»Du weißt doch von dem Mann, den wir schon lange suchen. Der ausschließlich ältere Frauen umgebracht und es geschafft hat, nie eine Spur zu hinterlassen.«
Endner nickte und hob vorsichtig die neue Kamera aus dem Koffer. Zweimal bereits hatte er eines dieser Geräte fallen gelassen und es sollte nicht zu einem dritten Mal kommen.
»Einmal wurde kurz vor einer solchen Tat jemand vor dem Haus des Opfers gesehen, der als Rotkäppchen verkleidet war. Das passt also schon einmal.« Steiner atmete tief ein und aus, bevor er fortfuhr. »Wenn das hier wirklich Peter Brünner ist, dann kenne ich diesen Mann. Eine Zeit lang habe ich regelmäßig von ihm gehört.«
Als Endner seinen Kollegen fragend anblickte, erklärte er: »Mein Bruder ging mit ihm zusammen in die Schule. Danach haben sie noch eine Weile lang dasselbe Fach studiert, bis Brünner aus guten Gründen verschwand.« Erneut musste Steiner tief durchatmen und warf einen Blick auf die schwarze Plane.
»Er hat zwei Identitäten. Mein Bruder war sein einziger Freund und nur er wusste davon. Und ich sage dir jetzt etwas: Es gibt niemanden, der gefährlicher ist als Peter Brünner.«
Inspektor Endner musste die schwere Kamera sofort ablegen, aus Sorge, sie könne ihm runterfallen. »Was macht ihn so gefährlich?«
Steiner wartete nicht lange mit einer Antwort. Die Worte fielen nahezu aus ihm heraus. »Seine beiden Identitäten hassen einander. Es gibt ihn als Peter Brünner, der alte Frauen ermordet, weil seine Großmutter ihn loswerden wollte. Und es gibt ihn als Rotkäppchen. Vermutlich handelt er wie ein Geistesgestörter, wenn er diese Rolle spielt. Scheinbar vermischen sich seine Persönlichkeiten auch gelegentlich, oder er wechselt sie sehr schnell. Denn bei einem seiner Morde wurde er als Rotkäppchen gesehen.« Steiner hielt das Handy hoch, das am Tatort gefunden wurde.
»Ich habe es gerade identifizieren können. Es gehört Peter Brünner. Er hat Nachrichten an sich selbst verfasst.«
Ungläubig schüttelte Endner den Kopf.
»So verrückt es klingen mag, doch der Kerl war mit sich selbst verfeindet«, erklärte Steiner. »Es scheint hier um tiefgründigen Hass
zu gehen. Er will Peter Brünner sein, er will alte Frauen umbringen, weil seine eigene Großmutter ihn verraten hat. Deshalb ist sein größtes Feindbild seine zweite Identität. Das Rotkäppchen. Vermutlich nur ein Ergebnis des Traumas, das er als Kind erlitten hatte. Denn zufällig weiß ich, dass seine Großmutter ihn als Rotkäppchen
fortgeschickt hatte. Um älteren Frauen im Dorf Essen und Getränke zu bringen. Es war sein Lieblingsmärchen.«
Endner schluckte hörbar. »Und sie wusste, dass er …?«
»… nie heil wiederkommen würde. So ist es.« Langsam nickend beendete Steiner den Satz seines Kollegen.
Die beiden Männer blickten einander schweigend in die Augen. Schließlich war es erneut Steiner, der noch Worte fand. »Glaub mir. Es gibt keinen schlimmeren Feind als sich selbst.«
Jene Worte hallten noch lange in Inspektor Steiner nach, während er einmal mehr die schwarze Plane anstarrte und das Gefühl nicht loswerden konnte, dass da jemand flüsterte:
»Ich bin Rotkäppchen.«