Annika Bühnemann
Ach wie gut,
dass niemand weiß …
M anchmal frage ich mich, ob ich ein anderer Mensch bin, seit es meine Tochter gibt. Ob ich mich mit dem Einsetzen der Wehen verpuppt habe und gemeinsam mit ihr einem Schmetterling gleich aus dem Kokon ausgebrochen bin.
Und ich frage mich, ob dieser Schmetterling noch zu der Raupe passt, mit der er vorher sein Leben verbracht hat.
Um mich herum rauscht der Wind in den Blättern der Birken, aber er kann meine dunklen Gedanken nicht wegwehen. Die Sonne trocknet die Erinnerungen an den Streit nicht aus. Mein Inneres ist so dunkel, wie es hier draußen hell ist.
Noch eine Kurve, dann die kleine Spielstraße hoch und ich bin wieder zu Hause, ohne ein Zuhause zu fühlen.
Matilda schläft endlich, wofür ich unendlich dankbar bin, und ich hoffe mit jeder Faser meines Körpers, dass sie nicht aufwacht, sobald der Kinderwagen zum Stehen kommt. Es wäre der reinste Luxus, wenn ich in Ruhe das Mittagessen kochen könnte und vielleicht sogar – ich mag mir dieses tollkühne Szenario kaum vorstellen – genug Zeit hätte, um auch eine Portion zu essen.
Ich öffne den hüfthohen Gartenzaun zu unserem Grundstück und schiebe den Kinderwagen auf die kleine Terrasse, die sich seit unserem Einzug im Rohbau befindet. Eines Tages werden wir hier Palisaden einziehen, um uns von den neugierigen Blicken der Nachbarn abzuschirmen.
Unentschlossen betrachte ich mein Baby. Eigentlich sollte ich sie auf den Arm und mit ins Haus nehmen, aber sie wird aufwachen, sobald ich das versuche. Meine Augen tränen vor Müdigkeit, und in meinem Kopf tobt ein Presslufthammer. Schlafentzug ist nicht umsonst eine Foltermethode.
Ich streichle Matilda schmetterlingsflügelleicht über die kleine Stupsnase. Sie seufzt und dreht ihren Kopf. Mein Herz wird von Liebe geflutet und füllt so für einen Moment das schwarze Loch, das der Streit mit Fabian heute Morgen in meine Seele gerissen hat.
Leider verebbt das Gefühl wie Meereswasser, das mit einer Welle an den Strand gespült wird und versickert.
Ich werde sie einfach im Kinderwagen schlafen lassen. Von drinnen kann ich ab und zu einen Blick hinauswerfen, und es verirrt sich ohnehin kaum jemand in die Straße oder gar auf unser Grundstück.
Was soll schon passieren?
Ein paar Momente lang warte ich ab, ob Matilda wirklich weiterschläft, dann krame ich nach dem Schlüssel und gehe ins Haus.
Wenig später schneide ich Zwiebeln und versuche mich da­ran zu erinnern, was den Streit mit Fabian ausgelöst hat, aber alle Worte sind vernebelt. Sobald ich versuche, nach ihnen zu greifen, lösen sie sich auf. Ich weiß noch, dass ich ihn angeblafft habe, warum ich die ganze Nacht Matilda durch die Wohnung tragen musste, während er schlafen durfte.
Es ist ein kluger Trick der Natur, die eigenen Babys so süß aussehen zu lassen, sonst würde kaum eines von ihnen die ersten Wochen überleben.
»Wenn ich sie nehme, schreit sie noch mehr«, hat er erklärt und irgendwie ist daraus eine Wortschlacht aus Beleidigungen geworden, wie ich sie selten erlebt habe. Er hat mich noch nie so verletzt und ist heute zum ersten Mal wutentbrannt aus der Tür gestürmt und davongefahren.
Ich lasse meine Wut an der Zwiebel aus und werfe sie dann in das zischende Öl. Die Dunstabzugshaube rauscht und dröhnt im Gleichklang mit meinen Gedanken. Ich schäle Kartoffeln, setze sie auf und suche im Kühlschrank nach dem Fleisch, das ich gestern zum Auftauen aus der Gefriertruhe geholt habe.
War das ein Babyschrei?
Ich schließe die Kühlschranktür und schalte die Dunstabzugshaube aus. Lausche.
Nichts.
Sie liegt jetzt seit einer Dreiviertelstunde draußen. Bestimmt ist sie wach geworden.
Ich lege das Fleisch auf die Arbeitsfläche und gehe schnellen Schrittes zur offenen Terrassentür. Der Kinderwagen steht unberührt vor mir.
Ich blicke hinein.
Mein Herz vergisst zu schlagen.
Der Wagen ist leer.
Mein Blick verschwimmt.
Das muss ein schlechter Scherz sein.
Ich reiße die beigefarbene Sommerdecke weg, etwas landet scheppernd auf dem Boden.
Ein Handy.
Ich gerate in einen Strudel aus Panik, Überraschung und Angst. Mein Kopf ist ausgeschaltet.
Wo ist Matilda?
Mir wird schlecht. Ich halte mich am Kinderwagen fest und krümme mich. Tränen schießen mir in die Augen. Mir entfährt ein Schrei, von dem ich nicht ahnte, dass ich dazu fähig bin.
Ich schaue noch einmal in den leeren Kinderwagen und fasse es nicht.
Ich muss die Polizei rufen.
Fabian. Wo ist Fabian?
Mein Herz wummert wieder in meiner Brust.
Bestimmt war es Fabian.
Er ist zurückgekommen, hat Matilda mitgenommen, um mir eins auszuwischen, und …
Ich sehe mich nach seinem Auto um, das normalerweise am Straßenrand steht.
Nichts.
Meine Beine geben nach, als wären alle Knochen verschwunden. Ich lasse mich auf die Steine sinken und kann keinen klaren Gedanken fassen.
Das Handy auf dem Boden vibriert.
Auf dem Display leuchtet eine Textnachricht auf. Aus den Augenwinkeln lese ich irgendetwas mit »backen«. Verwundert lehne ich mich vor und greife danach. Ich kenne dieses Handy nicht. Der eben eingegangene Text leuchtet auf, als ich das Gerät hochhebe.
Heute back ich,
morgen brau ich,
übermorgen hol ich der Königin ihr Kind.
Ich starre auf das Display, bis es erlischt. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Ich will denken, aber nichts passiert. »Was ist das für eine Scheiße?«, flüstere ich, als das Handy erneut vibriert und eine zweite Nachricht eingeht. Es ist ein Foto.
Ein Foto von Matilda.
Sie liegt schlafend in einer Umgebung, die ich nicht kenne. Könnte eine Trageschale sein.
Mit bebenden Fingern versuche ich, den Absender anzurufen, aber eine Stimme am anderen Ende teilt mir mit, dass die Nummer nicht existiert. Verwundert kontrolliere ich, ob mir ein Fehler unterlaufen ist, aber nein. Ich habe einfach den Namen angetippt, der mir über der Nachricht angezeigt wurde: Rumpelstilzchen.
Was willst du und wer bist du?, tippe ich, so schnell es meine zitternden Finger erlauben.
Ich sehe, dass die andere Person schreibt. Die Sekunden dehnen sich zu Stunden aus, während ich warte.
Ich muss die Polizei rufen. Mein Baby wurde entführt! Erst jetzt tropft die Erkenntnis in mein Bewusstsein.
Aber kann das Fabian gewesen sein?
Ich möchte mir die Antwort nicht vorstellen.
Jeder bekommt was er verdient liebe Luise.
Du kannst deine Matilda wiedersehen wenn du meine
Aufgaben erfüllst. Wenn nicht werde ich dafür sorgen dass
du sie nie wieder zu Gesicht bekommst.
Wenn du die scheiß Bullen rufst endet
unser Spiel und du hast verloren.
Ich beobachte dich. Versuche nicht mich zu verarschen.
Wie versteinert lese ich die Nachricht mehrere Male und setze gedanklich Kommas. Mir bleibt keine Zeit, zu antworten. Ein neuer Text erscheint:
Aufgabe 1:
Poste bei Facebook und in deinem Whatsapp-Status die Wahrheit.
Ich bin verwirrt. Mir schießen gleichzeitig so viele Dinge durch den Kopf, dass ich sie nur als verschwommenes Karussell wahrnehme.
Trinken. Matilda muss Durst haben.
Ich stille noch, antworte ich. Matilda braucht bald ihre Milch. Und sie muss gewickelt werden.
Die Antwort lässt etwas auf sich warten.
Scheiße ich will deinen Mutti-Kram nicht hören.
Schreibe bei Facebook und Whatsapp:
Ich bin eine heuchlerische kleine Ratte.
Ungläubig lese ich auch diese Nachricht mehrfach, aber ihr Sinn entzieht sich mir immer mehr, je öfter ich ihn zu begreifen versuche. Ich hole mein eigenes Handy hervor und rufe Fabian an.
»Ja?« Es rauscht im Hintergrund.
»Wo bist du?«
»Auf dem Weg nach Koblenz. Hab ich gestern noch gesagt.«
Jetzt fällt es mir wieder ein. Die Fortbildung! Das war heute? Fabian klingt gereizt.
In schnellen Worten erkläre ich ihm, was passiert ist, und sein Tonfall ändert sich schlagartig. »Hast du die Polizei gerufen?«
Im gleichen Moment kommt eine neue Nachricht von dem Entführer.
Wenn du jemandem Bescheid sagst
siehst du dein Baby nie wieder.
»Ich muss auflegen«, stammele ich und sehe mich um, ob ich jemanden entdecken kann. Werde ich beobachtet?
»Was?«, fragt Fabian.
»Ich hätte dir nicht davon erzählen dürfen. Fabi, ich habe Angst!«
»Ich komme zurück, aber das dauert ungefähr vier Stunden. Ruf die Polizei an und verbarrikadiere dich im Haus. Alles wird gut. Hörst du?«
Die Polizei zu rufen ist mir zu riskant. Er hat gesagt, dass ich die Polizei nicht einschalten darf, und ich traue ihm zu, dass er das irgendwie überwacht. »Okay«, sage ich, um Fabi nicht noch mehr zu beunruhigen, dann legen wir auf.
Ich setze mich auf die Couch. Der Spielbogen, unter dem Matilda vor zwei Tagen zum ersten Mal gespielt hat, steht verlassen vor mir.
Mein Baby ist weg.
Die Tränen kommen plötzlich und überwältigen mich. Meine Welt ist schwarz. Ich sinke auf den Boden, unfähig, kontrolliert zu atmen. Zittere.
Die Trauer packt mich mit kalten Händen an den Schultern.
Schüttelt mich.
Mein Bauch krampft sich bei jedem Schluchzer schmerzhaft zusammen.
Das Handy vibriert.
Poste bei Facebook.
Ich kann nicht. Kann mich nicht bewegen. Bin versteinert.
Ein neues Foto geht ein. Ich öffne es und muss mir erst mehrere Male über die Augen wischen, ehe ich klar sehen kann.
Es ist Matilda. Sie hat die Augen offen, liegt entspannt auf einer violetten Decke und nuckelt an ihrer Faust.
Tu es für sie.
Erfülle die scheiß Aufgabe.
Ich weiß nicht, was dieser Beitrag auf Facebook bringen soll. Will der Entführer mit mir spielen?
Ich öffne mit unglaublicher Anstrengung die Facebook-App und erstelle einen neuen Beitrag. »Ich bin eine heuch­lerische kleine Ratte«, tippe ich und schicke es ab. Das Gleiche mache ich auf Whatsapp und rüste mich für die Reak­tionen, die darauf kommen werden.
Ich könnte auch verschlüsselt um Hilfe rufen. Aber was passiert, wenn der Entführer das herausfindet?
Nein. Ich darf Matilda nicht gefährden. Sein Spiel, seine Regeln.
Ich muss herausfinden, wer dahintersteckt.
Eine neue Nachricht.
Gut gemacht. Kommen wir zur nächsten Aufgabe.
Ruf deine Mutter über dieses Handy an und berichte ihr von deinem dunklen Geheimnis. Beichte ihr dein wahres Ich.
Mach der ganzen Scheiße ein Ende.
Weiß dein Mann es?
Ruf ihn an. Sag es ihm.
Ich warte.
Meine Verwirrung stoppt die Tränen. Was um Himmels willen meint er? Ich habe keine dunklen Geheimnisse, weder vor meiner Mutter noch vor Fabian.
Dann stutze ich. Der Kerl nimmt an, dass wir verheiratet sind.
Er kennt uns also weniger gut, als ich befürchtet habe.
Ist es doch ein Fremder? Aber warum sollte einem Unbekannten daran gelegen sein, dass ich irgendetwas gestehe?
Es muss jemand sein, den ich kenne, der aber mit uns als Paar nicht vertraut ist. Vielleicht ein Kollege von der Arbeit? Aber mir fällt niemand ein, der so häufig das Wort »Scheiße« gebraucht. Das lässt eher auf eine jüngere Person schließen oder auf jemanden aus einem Umfeld, mit dem ich normalerweise nichts zu tun habe.
Ich richte mich auf und raufe mir die Haare. In meinem Hinterkopf bewegt sich irgendein Gedanke, aber ich kriege ihn nicht zu fassen. Ich gehe in die Küche und schalte den Herd aus. Dann stütze ich mich auf der Arbeitsplatte ab.
Wen kenne ich, der Fäkalsprache benutzt, dessen Rechtschreibung fehlerhaft ist und der offensichtlich sauer auf mich ist?
Wen habe ich in meinem Leben verletzt?
Wird’s bald? Nimm dieses Handy.
Das Handy muss ihm gehören. Ich tippe auf das Adressbuch. Es ist leer. Es sind keine Apps installiert. Dann öffne ich die Bildergalerie, und es zieht mir zum zweiten Mal heute den Boden unter den Füßen weg.
Da sind Dutzende Bilder.
Von mir.
Von uns. Fabi, Matilda und mir.
Ich mit Matilda beim Spazierengehen. Beim Einkaufen. Fabian auf dem Weg ins Auto und ich an der Haustür mit der Kleinen auf dem Arm.
Verdammte Scheiße, geht es mir durch den Kopf, was mich wieder zu meiner Überlegung bringt, wer häufig diesen Ausdruck benutzt.
Und dann fällt es mir ein.
Mein Magen rebelliert.
Es ist kein Mann.
Kein Fremder, kein armer Irrer.
Es ist Becks.
Sie muss es sein. Mir fällt ansonsten niemand ein, der so oft das Wort »Scheiße« benutzt und den ich zutiefst verletzt habe.
Und nun ist mein Baby in ihrer Gewalt.
Großer Gott.
Erst jetzt merke ich, dass ich mir die Hand vor den Mund halte. Becks ist unberechenbar. Gefährlich. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hätte es fast Tote gegeben.
Matilda ist in Gefahr. Ich muss unbedingt herausfinden, wo sie ist.
Adrenalin rast durch meine Venen. Fast stolpere ich, als ich zum Laptop renne, der auf dem Schreibtisch im Büro liegt. Gleichzeitig tippe ich die Nummer meiner Mutter in das fremde Handy. Ich bin mir sicher, dass Becks unser Gespräch mithören wird.
Es dauert, bis Mama abnimmt.
»Follenberg.«
»Hallo, Mama, ich bin es.«
»Luise?«
»Ja.« Ich klappe den Laptop hoch und gebe Becks’ richtigen Namen bei Google ein. Einige Treffer.
»Hast du eine neue Nummer?«, fragt meine Mutter.
»Erkläre ich dir ein anderes Mal.« Wenn wirklich sie dahintersteckt, dann ahne ich, worauf sie hinauswill. »Mama, ich muss dir etwas sagen. Stell keine Nachfragen, sondern hör einfach zu, okay?«
Sie zögert. »In Ordnung.«
Ich finde kein Facebookprofil. Verdammt. Weitersuchen. Bei Xing werde ich fündig.
»Ich muss dir etwas beichten«, sage ich nebenbei und lese in Windeseile, was Becks alles über sich in ihrem Profil verrät. Sie scheint noch immer hier zu wohnen. Wie alt ist sie jetzt? Zweiundzwanzig? Auf dem Profilfoto sieht sie kaum anders aus als vor fünf Jahren. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. »Weißt du noch, dass du damals überall nach deiner goldenen Kette mit dem Perlenanhänger gesucht hast, den ich dir zu Weihnachten geschenkt habe?« Es ist das Erstbeste, was mir einfällt. Ich muss Zeit schinden.
»Ja.«
»Ich habe sie genommen. Es tut mir leid. Ich hatte die Geschenke verwechselt und die Kette war für jemand anderen gedacht, aber ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen, deshalb habe ich sie einfach an mich genommen.«
Ein paar Sekunden lang herrscht Stille.
Ich nehme den Hörer vom Ohr. Das Gespräch läuft weiter, während ich parallel die Fotos aufrufe, die Becks mir von Matilda geschickt hat. Außer der violetten Decke ist nicht viel zu erkennen.
Und dann fällt es mir so plötzlich ein, dass ich anfange zu keuchen.
Die Decke! Natürlich! Ich weiß, wo sie ist.
Meine Mutter findet ihre Sprache wieder. »Aber das ist doch Jahre her! Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Ach, ich musste irgendwie daran denken«, sage ich. »Jetzt ist es raus. Danke fürs Zuhören. Ich melde mich ein anderes Mal wieder.« Dann lege ich auf.
Es dauert nur Sekunden, bis Becks sich mit ihrer neuen Nachricht meldet.
Scheiße, was war das? Davon hatte ich nicht gesprochen!
Du strapazierst meine Geduld.
Ruf Fabian an. Und mach es dieses Mal richtig.
Ich klappe den Laptop zu, lege das Handy daneben und renne zur Haustür. Mitten im Laufen halte ich inne. Wird sie bemerken, dass ich das Haus verlasse? Beobachtet sie mich?
Wie viel Zeit bleibt mir, zu ihr zu fahren, sie zu stellen, die Polizei zu informieren und mein Baby zu retten? Becks ist unkalkulierbar.
Ich krame in der Schublade der Kommode, in die Fabi und ich allerlei Kleinkram hineinwerfen, der keinen festen Platz im Haus hat, und ich finde, wonach ich suche: sein ausgemustertes Firmenhandy. Ich stecke es in meine Hosentasche, greife nach dem Autoschlüssel und fahre Sekunden später mit quietschenden Reifen los.
Die Fahrt dauert nur fünf Minuten, was mich, wenn ich die ganze Situation und die Vergangenheit betrachte, schockiert. Wir waren uns die vielen Jahre über so nah, obwohl wir uns so fern sind.
Ich parke den Wagen vor der Einfahrt der Werkstatt. Den schmalen Pfad vorbei an dem Haupteingang bin ich seit fünf Jahren nicht mehr entlanggegangen. Die Hecke am Grundstücksrand ist deutlich gewachsen, und kleine Äste verfangen sich in meinem Shirt. Dass die alte Werkstatt noch steht, grenzt an ein Wunder. Mich interessiert aber das Nebengebäude.
Die Insel des Glücks, wie wir es genannt haben. Obwohl es zur Insel des Unglücks geworden ist.
Die Tür ist erwartungsgemäß geschlossen. Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter.
Nicht abgeschlossen.
Ich trete ein. Meine Augen gewöhnen sich schnell an das wenige Licht. Vor mir erstreckt sich eine Rumpelkammer, die alles beherbergt, was Becks’ Vater in seiner großen Werkstatt nicht gebrauchen kann. Ein alter Handrasenmäher hängt an einem Haken am Querbalken der Innenkon­struktion. Etliche Kartons und Holzreste versperren den Weg. Ich umrunde sie schleichend.
Und dann sehe ich sie.
Becks sitzt mit dem Rücken zu mir auf der violetten Decke, die ich gleich hätte wiedererkennen müssen. Mit einer Hand tippt sie auf einem Handy, mit der anderen schaukelt sie die Trageschale vor und zurück.
Matilda schlummert friedlich. Mein Herz macht einen Sprung, als ich mein Baby sehe.
Es geht ihr gut. Gott sei Dank!
Meine Erleichterung muss hörbar gewesen sein, denn Becks dreht sich ruckartig um, reißt die Augen auf und erstarrt für die Länge eines Wimpernschlags zur Statue.
»Hi«, sage ich vorsichtig. Jede Bewegung könnte eine unvorhersehbare Reaktion auslösen.
»Ich hätte wissen müssen, dass du weißt, wo wir sind.« Sie steht auf. Noch immer trägt sie Hosen mit Löchern an den Knien. Noch immer fallen ihr die aschblonden Haare ins Gesicht und über die Schultern.
Noch immer lädt ihr Mund zum Küssen ein.
Ich gehe einen Schritt auf sie zu.
»Stopp!«, ruft sie.
Ich bleibe stehen.
Unter den geraden Brauen sehen mich skeptische grüne Augen an. Sie trägt auch noch immer den nach unten offenen Nasenring. Ein Septum, wie sie mir erklärt hat.
Und sie trägt noch immer die Kette mit dem Perlenanhänger, die ich ihr geschenkt habe.
»Wie hast du mich beobachtet?«, frage ich. »Ich habe dich nirgends gesehen.«
»Mich unsichtbar zu machen war schon immer eine Stärke von mir. Du siehst eben nur, was du sehen willst.«
»Ausweichend wie eh und je.«
Ein boshaftes Lächeln umspielt ihren Mund. »Erstens habe ich Augen im Kopf, um dich zu beobachten, und zweitens habe ich, im Gegensatz zu dir, Ahnung von Technik. Belassen wir es dabei.«
»Und warum hast du mein Baby entführt?« Die Worte kommen ruhig über meine Lippen.
Ihr Lächeln wird schmaler. »Du verdienst es einfach nicht, Mutter zu sein.«
»Becks …«
»Für dich Rebekka.«
»Bitte, Rebekka, lass uns darüber reden. Geht es wirklich noch um damals? Willst du mir deshalb Angst einjagen?«
Becks lacht auf, als hätte ich einen Witz gemacht. »Angst? Das glaubst du? Scheiße, ich hätte gedacht, du bist klüger, wo du doch so viel älter bist als ich. Weise und welterfahren. Und ich bin nur das kleine Dummerchen, dessen Gefühle jedem egal sind.«
»Deine Gefühle waren mir nie egal«, flüstere ich.
»Schnauze!« Sie wirkt trotz ihrer Größe bedrohlich. Sie ist noch dünner als damals, aber ich lasse mich nicht täuschen. Die Frau hat Kraft und Wut im Bauch. Ich muss aufpassen.
»Aufgabe drei fehlt noch«, sagt sie geschäftsmännisch. »Ou­te dich endlich. Es wird Zeit, Luise. Ruf deinen Mann an und sag ihm, dass du Frauen liebst. Ruf alle an und sei endlich ehrlich. Ich habe deine Heuchelei so satt, du Scheißlügnerin.«
Es dauert einen Moment, bis ich verstanden habe, worauf sie hinaus will. »Es tut mir unendlich leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe. Es war falsch von mir, dass ich unsere Beziehung überhaupt zugelassen habe. Ich war deine Ausbildungsleiterin …«
»Pah!«, macht sie. »Du bereust also sogar, mich geliebt zu haben? Schöne Scheiße! Dann war es also auch gelogen, als du mir vor fünf Jahren gesagt hast, dass du dir ein Leben mit mir vorstellen könntest, wenn die Situation anders wäre?«
»Nein, ich …« Ich weiß selbst nicht genau, wie der Satz weitergeht. Meine Blicke fliegen zwischen ihr und Matilda hin und her. »Ich war in dich verliebt, Rebekka. Das weißt du.« Ich denke an die unzähligen Stunden, die wir hier auf unserer Insel des Glücks miteinander verbracht haben.
An die violette Decke, auf der wir uns geliebt haben.
An ihre Lippen auf meiner Haut, prickelnd wie Perlwein.
Becks steckt das Handy weg und greift mit der anderen Hand an ihre Gesäßtasche. Sie zieht ein Messer hervor. »Wenn man jemanden liebt, dann lässt man ihn nicht durch die Prüfungen fallen, nur um ihn aus dem Weg zu schaffen.« Sie greift fester um den Schaft des Messers, den Blick auf mich geheftet. »Du hast keine Ahnung, was du mir angetan hast, oder? Scheiße! Ich habe keine Ausbildung, bin zu Hause rausgeflogen und hangele mich von einem Job zum nächsten. Ich vertraue niemandem mehr, weil du mich so kaputt gemacht hast. Du hast mein Leben zerstört, Luise. Und du hast dabei nur an dich gedacht. Du wolltest mich loswerden, damit wir uns im Betrieb nicht ständig über den Weg laufen. Du hast dir dein idyllisches, falsches Scheißleben aufgebaut, und schau mal an …« Sie betrachtet Matilda. »Jetzt hast du sogar ein Balg. Kannst du dir vorstellen, was in mir vorgegangen ist, als ich das bei Facebook gesehen habe? Scheiße, Luise, ich hatte geglaubt, dass ich über diese ganze Liebeskummerkacke weg bin, aber das hat mich zerrissen! Und da ist es nur fair, dich auch zu zerreißen.« Sie hebt das Messer und dreht sich zu Matilda, die im Schlaf Spuckebläschen macht. »Und was zerreißt eine Mutter mehr, als ihr Kind sterben zu sehen?«
»Du bist krank«, stoße ich aus. Die Panik in meiner Stimme ist unüberhörbar. »Das war der Grund, warum ich dich verlassen habe. Weil du krank bist. Du denkst, dass du mich geliebt hast, aber du hast nur dich selbst geliebt. Deine Liebe ist erdrückend. Wahnhaft. Du projizierst deine Verlustängste auf deine Beziehungen.«
»Scheiße, hast du Psychologie studiert, oder was soll der Mist? Aufgabe drei, Luise, los! Sag deiner Scheißfamilie, was los ist!«
Ich zögere, gehe im Kopf schnell meine Optionen durch. Vor fünf Jahren, als ich Becks verlassen habe, ahnte ich, dass noch etwas Schlimmes passieren würde. Schon damals machte mir ihr krankhafter Wahn Angst.
Ich tue so, als würde ich mein Handy hervorholen, dann mache ich einen Satz nach vorne und werfe mich auf sie.
Wir fallen.
Und schreien.
Becks strampelt, trifft mich mit ihrem Knie im Bauch.
Ich keuche.
Matilda wird wach und weint.
Becks umklammert das Messer wie einen Rettungsanker. Sie schlägt ihre Stirn an meinen Kopf.
Kurzzeitig sehe ich nichts.
Dann spüre ich einen stechenden Schmerz in der Seite. Ich presse meine Hand darauf.
Sie hat mich erwischt.
Becks rollt sich weg, japst nach Luft, steht auf.
Meine Knie zittern. Ich sehe die blutende Messerspitze und höre mein Baby schreien.
»Hände hoch!«, ruft eine tiefe Männerstimme.
Gerade noch rechtzeitig. Ich dachte schon, es hätte nicht geklappt.
Becks erstarrt. »Wie …?«
Nach Atem ringend setze ich mich auf. Der Schmerz in meiner Seite lässt nach. »Du glaubst doch nicht, dass ich unvorbereitet hergekommen bin.« Natürlich habe ich auf dem Weg die Polizei informiert. Fabians altes Handy konnte sie nicht überwachen.
Die Beamten nehmen Becks fest, die so überrumpelt ist, dass sie keine Gegenwehr leistet. Ich stehe auf und überprüfe die Einstichstelle: Sie hat mich nur gestreift. Es blutet ein wenig, aber das wird in ein paar Tagen verheilt sein. Dann hole ich Matilda aus der Schale und presse das weinende Bündel an mich. Atme ihren einzigartigen Geruch ein. Spüre die kleinen Hände, die unkontrolliert in mein Shirt greifen und mit den nadelspitzen Fingernägeln meine Haut zerkratzen.
Bevor Becks abgeführt wird, drehe ich mich zu ihr um. »Übrigens«, sage ich, »weiß Fabian alles. Ich habe ihm gleich am Anfang unserer Beziehung gesagt, dass ich bi bin. Bi, Becks. Es gibt mehr als Schwarz und Weiß oder als Liebe und Hass. Ich hoffe sehr für dich, dass du zu dir selbst findest und nicht mehr andere Menschen dafür verantwortlich machst, was aus dir geworden ist. Du hast nämlich selbst in der Hand, wer du sein willst.«
Mit Tränen in den Augen wird Becks abgeführt.