Robert Hönatsch
Entlang der
goldenen Ähren
A
m heißesten Tag des Jahres saßen die Leute an den Tischen draußen vor dem Hafencafé, wo Aurora gerade stehen blieb und ihren Blick von der Stadtkarte in ihren Händen hob. Sie hielt nach etwas Ausschau, was in keiner Karte verzeichnet war, und als sie es entdeckte, spürte sie ihr Herz klopfen. Sie beäugte noch einmal die eingezeichneten Straßen wie leere Reihen eines Kreuzworträtsels. Dann, ganz unmittelbar, reichte sie den aufgefalteten Stadtplan über einen Cafétisch und fragte den Mann, der dort saß: »Können Sie mir vielleicht erklären, wie ich von hier aus zum Bahnhof komm?«
Der Mann mit dem Dreitagebart trug einen teuer aussehenden Anzug und ein weißes Hemd, das zwei Knöpfe zu weit offen stand. Brustbehaarung; gebräunte Haut. Er sah mit etwas Abstand die Karte an und dann Aurora, und während er das junge Mädchen vor sich betrachtete, lächelte er immerzu, als würde ihre Erscheinung in ihm eine Spur von Mitleid erregen. »Du musst einfach nur die Straße dort runtergehen«, sagte er, »dann kommst du nach etwa zehn Minuten am Bahnhof an.«
Er hatte seinen Oberkörper ein wenig zur Seite gedreht, um die Wegrichtung mit der Hand zu deuten, und in dem Augenblick griff Aurora unter die Karte und schnappte sich das Smartphone auf dem
Tisch. Er hatte es so arglos dort liegen lassen, dass es ihr wie eine direkte Aufforderung vorgekommen war.
»Ah, vielen Dank«, sagte sie und faltete die Karte zusammen. Die Schatten zweier Möwen huschten über den Gehweg an ihr vorbei, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das Smartphone war groß und verschwand nicht ganz in ihrer Hosentasche, und so hielt sie die Stadtkarte einfach davor. »Schön’n Tag wünsch ich Ihnen.«
Mit einem Auge unter dem Schatten des Sonnenschirms und dem anderen im Licht musterte der Fremde das Mädchen. Die Farbe seiner Iris azurblau wie eine direkte Reflexion des Sommerhimmels über ihnen. »Auf Wiedersehen«, sagte er.
Ein heißer Juliwind durchwehte ihr Haar; sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, während sie den richtigen Moment abpasste. Als sie die Hauptstraße überquerte, rief ihre Mutter an. Sie erzählte ihr in aufgeregtem Ton, dass sie mit einem Glückslos vom letzten Discountereinkauf ein Haus gewonnen hätte. Aurora konzentrierte sich derweil darauf, nicht überfahren zu werden. Doch auch sonst hätte sie die Freude nicht teilen können, denn sie war mit etwas gesegnet, das ihrer Mutter gänzlich fehlte: dem richtigen Maß an Skepsis gegenüber der Welt.
Sie blieb auf einer Verkehrsinsel stehen und sagte: »Mama, fall nicht drauf rein. Was zu schön is, um wahr zu sein, is nichts andres als ’ne Lüge.« Und sie fügte hinzu, dass sie heute auf der Arbeit so viel Trinkgeld bekommen hatte, dass die Miete für den nächsten Monat bereits jetzt schon gesichert sei.
Der magere Junge hinter Sicherheitsglas erschrak, als die Ladentür aufschwang und das Windspiel zu klimpern begann. Er sah Aurora eintreten und legte den New York Times-
Bestseller sofort zur Seite. Es war nicht leicht zu sagen, ob der schnelle Pulsschlag noch ein Ausläufer der spannenden Geschichte war oder eine Reaktion auf die
Erscheinung des Mädchens.
»Moin, alles klar bei dir?«, sagte er gespielt lässig. Als eine Antwort auf sich warten ließ, warf er einen Blick auf den Tischkalender neben sich und schob die Nadel vom gestrigen Datum aufs heutige.
»Ja, alles in Ordnung«, sagte Aurora dann und ließ ihren kleinen Rucksack von der Schulter gleiten. Der Junge, auf dessen Namensschild schlicht Martin stand, hatte im Pfandleihhaus am Exerzierplatz seine Bestimmung gefunden – hinter Verbundglas hocken, fünf bis sechs Kunden am Tag bedienen und in der restlichen Zeit Bücher lesen. Es schien ihr ein machbarer Job gewesen, doch hatte sie ihre eigenen Ambitionen, wo es einmal mit ihr hingehen sollte, und sie hatte Talente, die sie zu Barem machte. Und so zog sie den Reißverschluss am großen Fach auf und holte eine gestohlene Halskette hervor, zwei Handys und eine Armbanduhr.
»Tauscht ihr auch ausländische Scheine?«, fragte sie.
Der Junge war gerade dabei, ein Formular auszufüllen, als er den Blick hob und sie musterte. »Damit müsstest du zur Zentralbank gehen«, sagte er und fügte nach kurzem Hin und Her hinzu: »Wenn es nicht allzu viel Geld ist, könnten wir ja tauschen. Mir macht es nichts aus, wenn ich nachher noch zur Bank muss.«
Sie lächelte freundlich und lehnte das Angebot ab. Sie wusste, was auf einen Gefallen kam – ein weiterer Gefallen nämlich. Sie nahm ein gebrauchtes Konsolenspiel vom Aufsteller, hielt es zwischen Daumen und dem gekrümmten Zeigefinger hoch, sodass er es sehen konnte, und legte es dann in ihren Rucksack hinein. »Kannst du das mit dem Geld für die Sachen verrechnen?«
Der Junge, Martin, nickte. »Geht klar. Gehört die Kette dir?«
»Ja«, log sie.
»Okay. Und wohnst du immer noch in derselben Straße in … Heikendorf?«
Sie sah ihn an. »Korrekt«, sagte sie und drückte die Rückseite eines
fremden Personalausweises gegen das Glas. Sie betrachtete das biometrische Passfoto des Mädchens auf der Vorderseite, das nur im Entferntesten eine Ähnlichkeit mit ihr aufwies. Doch für den Moment war das ihre Identität gewesen, ein Alter Ego, wenn sie auf Beutefang ging.
Der Junge legte den Stift auf das Formular, drehte es kopfüber und schob es unter die Durchreiche zu ihr hinüber. »Dann brauch ich noch eine Unterschrift von dir, Maria Ubben, achtundzwanzig Jahre.«
Aurora lächelte. Sie setzte die gefälschte Unterschrift auf und schob das Formular zu ihm zurück. »Martin?«, fragte sie mit Blick auf sein Namensschild.
»Ja?« Er sah sie mit großen Augen erwartungsvoll an, und da war wieder der Pulsschlag an seinem Hals zu erkennen, ganz deutlich und schnell.
»Was würd ich bei euch für ’n Smartphone mit Faltdisplay bekommen? So eins hier.« Sie fingerte das gestohlene Mobiltelefon aus der Hosentasche und klappte es zu Demonstrationszwecken auf. Da bemerkte sie, dass das Telefon keine Touch ID besaß und nicht mal einen Entsperrcode verlangte.
»Solche Dinger kosten so um die zweitausend bis zweitausendfünfhundert Euro«, meinte Martin. »Was sind denn deine Eltern von Beruf, wenn ich mal fragen darf?«
Aurora gab nur in Gedanken eine Antwort: Von ihrem Vater wusste sie nicht, was er trieb, sie kannte ihn nicht, aber ihre Mutter bekam neben einer kärglichen Frührente noch Grundsicherung vom Staat dazu. Aurora schauspielerte ein Lächeln, während ihr Blick auf das teure Smartphone gesenkt war. Sie wiederholte ihren Ehrenkodex, der besagte, dass private Daten auf einem gestohlenen Handy tabu waren, doch ihre Finger bewegten sich wie von allein über die Menüansicht. Keine Apps, keine gespeicherten Kontakte. Es schien wirklich nagelneu.
»Was machst du da?«, fragte Martin.
»Rausfinden, ob ich das Teil hier und jetz’ verscherbeln kann«, sagte sie und tippte mit der Fingerspitze auf den Bilderordner. Er war entgegen ihrer Erwartung nicht leer. Ein einziges Album mit fünfzehn verschiedenen Fotos darin, und auf allen war ein und dieselbe Person zu sehen.
Sie klappte das Smartphone wieder zu, steckte es zurück in die Jeanstasche und sah den Jungen hinter der Scheibe an. Ihr Gesicht nahm dabei eine fahle Farbe an. Die braunen Augen leer; sie blickten wie durch die Scheibe auch durch den Jungen hindurch. Ihre ganze Wahrnehmung besetzt von einem einzigen Gedanken: Fünfzehn Bilder von mir, die mich beim Klauen zeigen.
Der Caféplatz unter dem Sonnenschirm war immer noch besetzt. Doch diesmal saß an dem Rundtisch eine kleine Gruppe Studenten mit im lauen Wind wehenden Zetteln, Unikram, der als Untersetzer für zwei Cappuccinos und Gebäck diente. Eines Tages wollte sie auch viel Geld verdienen, doch mit einem Mal sah sie vor ihrem geistigen Auge statt hochfliegender Träume nur noch ein langes Vorstrafenregister und reihenweise ablehnende Arbeitgeber. Der Mann wusste von ihrem Geheimnis, dachte sie, und das schon eine ganze Zeit. Wo war er hin, und vor allem: Was wollte er?
In der Linie 100 nach Mettenhof lehnte Aurora mit der Stirn gegen die Scheibe und verfolgte die an ihr vorbeigleitenden Mehrfamilienhäuser. Sie hatte dunkle Schweißränder unter den Achseln. In Gedanken suchte sie verzweifelt nach Antworten auf Fragen, die sich nicht durch analytisches Denken erschließen ließen, es waren Antworten, die Aurora finden würden, und nicht umgekehrt – und das war eine Tatsache, die ihr missfiel.
Als sie bei der Hochhaussiedlung am Kurt-Schumacher-Platz
ausstieg, bot die Nachmittagshitze im Gegensatz zum stickigen Businneren ein wenig Frische, eine Stadtfrische, die mit einem schweren Beigeschmack von aufgeheiztem Asphalt vermengt war. Aurora überquerte die schmale Fußgängerbrücke über den Skandinaviendamm, als eine Gruppe am Brückengeländer herumlungernder Migranten sie erspähte. Der Median lag um die zwanzig. Sie trugen Bärte und hatten ihre Haare frisch geschnitten. Drei der jungen Männer versperrten ihr den Weg, als sie sich ihnen näherte.
»Weg da, sonst hol ich Patrick«, sagte sie und knuffte einen von ihnen in die Seite. Die Gruppe lachte und öffnete ihr den Weg. Ob sie für ihre Mutter bald mal wieder einen Einkauf erledigen sollten, fragte einer.
»Frag sie doch selbst«, sagte sie.
Ob Aurora endlich mal für ein Date zu haben sei, fragte ein anderer.
»Ich date doch schon deinen Cousin«, sagte sie und ließ die jungen Männer unter anhaltendem Gelächter hinter sich.
»Mama?«, sie musste vom Treppensteigen wieder zu Atem kommen, »Patrick?«
Keine Antwort.
Die Stille in der Dreizimmerneubauwohnung missfiel ihr. Sie schlüpfte aus ihren ausgelatschten Turnschuhen, die altersbedingt ihr strahlendes Weiß gegen eine edle Patina eingetauscht hatten, und schlurfte mit bestrumpften Füßen über den Laminatboden. Dann nahm sie die vierhundertfünfzig Euro aus der Brieftasche und steckte sie in den Spartopf für die in knapp zwei Wochen fällige Miete. Auf dem Küchentisch lag ausgebreitet ein Haufen aufgerissener Rechnungen herum und noch nicht eingereichte Apothekenrezepte für die Stomaversorgung ihrer Mutter.
»Mama?«
Wieder keine Antwort.
Sie riss die Tür zum Gaming-Reich ihres Bruders auf und wurde erschlagen – von einer Welle miefiger Zimmerluft. Patrick saß im Rollstuhl vor einem kleinen, in die Jahre gekommenen Flachbildfernseher und spielte auf seiner Videospielkonsole. Er redete nicht viel und verzichtete meistens auch auf eine Begrüßung, wie in diesem Fall. »Hier, hab ich dir mitgebracht«, sagte Aurora und legte das Spiel aus dem Pfandleihhaus auf die heiß gelaufene Konsole. »Wo zur Hölle is’n Mama hin?«
»Is weg.«
»Aha. Wohin?«
Ihr Bruder ließ die Achseln zucken. Seine Augen huschten hin und her, während er zum Bildschirm stierte. »Da war jemand an der Tür«, sagte er, aufs Spiel konzentriert. »Mit dem hatse geredet.«
»Und weiter?«
»Dann isse zu mir und hat gesagt, sie hätt’n Haus am Strand gewonnen. Und dann hatse gesagt, dass ’se kurz weg muss.«
»Okay«, sagte Aurora und dehnte das Wort, bis ihr die Luft ganz aus den Lungen entwichen war. »Und das mit dem Haus hat dich nicht ein bisschen überrascht?«
»Stimmt doch eh nich.«
»Hast du gesehen, wer da an der Tür war?«
»Hab nix gesehen.«
»Garnix?«
»War’n Mann. Hab’s gehört.«
Aurora sah ihren Bruder eine Weile an, ihr Gesicht auf einmal ganz bleich. In ihren Gedanken verband sich gerade ein Puzzleteil mit dem anderen, eine passende Form, aber das Bild darauf ergab keinen Sinn. Hatte der Mann, dem sie das Smartphone gestohlen hatte, etwa mit ihrer Mutter geredet? Aber was sollte das mit dem Haus?
Ein Vorwand, um sie aus der Wohnung zu locken. Nur wozu, ist die Frage.
Sie ließ ihren Bruder die Ratlosigkeit spüren. »Du Idiot«, sagte sie plötzlich. »Seit wann lässt Mama dich ganz allein in der Wohnung?«
Patrick pausierte das Spiel, schob sich das Headset vom Kopf und sah sie durch dicke Brillengläser an. »Was is denn dein Problem? Ich bin vierzehn. Ich sitz im Rollstuhl, ja, aber ich kann allein scheißen und allein fressen. Ich bin kein Baby mehr.«
Aurora schüttelte den Kopf. Ihr Blick fiel nachdenklich auf die klebrige Ansammlung von Discounterlimonade und dann auf den anwachsenden Wäscheberg in der Ecke des Zimmers, wo vor einiger Zeit der Kleiderschrank auseinandergebrochen war.
Kurz darauf klingelte es an der Tür; zweimal hintereinander. Das Mädchen schreckte aus seinen Gedanken auf. Es lief aus dem Zimmer seines Bruders und riss die Wohnungstür auf. Vor Aurora stand ein blauäugiger Mann in einem grauen Anzug. Mit beiden Händen hielt er einen mit dunklen Fettflecken durchweichten Pizzakarton fest. »Nicht nur der Postbote klingelt zweimal. Ich tue es gelegentlich auch ganz gern«, sagte er und lächelte.
Auroras Augen glänzten, als sie den Fremden sah. Ihr Herz raste, Gedanken und Fragen überschlugen sich, doch sie hatte nur Atem für einen einzigen Satz: »Wer zur Hölle sind Sie?«
Der Mann antwortete: »Ich will, dass du nichts fragst und nichts sagst. Hör mir einfach zu.«
Aurora schloss langsam ihre Kiefer, ganz fest, ihre Nüstern blähten sich. Sie blinzelte nicht. »Haben Sie meine Mutter entführt?«
Er lächelte freundlich und schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gerade gesagt, dass ich nicht will, dass du Fragen stellst«, sagte er. »Ich will, dass du mit mir kommst. Du sollst mich kennenlernen, damit du erfährst, wer du bist.«
Aurora sah ihn an. »Ich soll mit Ihnen mitgehen?«
Er warf einen Blick auf den Pizzakarton in seinen Händen. »Es wird etwas dauern. Du wirst nicht vor heute Abend zurück sein. Deswegen
habe ich deinem Bruder die hier mitgebracht. Hawaii. Seine Lieblingspizza.« Er hielt ihr die große Schachtel hin. Du musst das tun, sagten seine Augen. Völlig perplex nahm sie den Karton entgegen.
»Was soll der Scheiß?«, fragte sie. »Ich ruf jetz’ einfach die Polizei.«
Der Fremde warf einen Blick auf die Müllsäcke im Hausflur. Der süßlich-ranzige Geruch war schwer wie Blei. Doch der Mann rümpfte weder die Nase, noch machte er irgendwelche Anstalten, seinem Ekel einen Ausdruck zu verleihen. Er wandte sich mit einem dünnen Lächeln zu ihr hin, nannte sie beim Namen und sagte: »Rückblickend, an wie vielen Abzweigungen wirst du wohl gestanden haben, die dir die Möglichkeit für zwei Entscheidungen offen ließen: das Richtige zu tun und das Falsche? An wie vielen davon wirst du dich falsch entschieden haben? Du kannst von dem Punkt aus, an dem du gerade stehst, nur eines mit Sicherheit sagen: Du willst so wenige Fehler wie möglich machen. Entscheidungen können einem das ganze Leben ruinieren, aber schlimmer noch: Sie können auch das Leben anderer Menschen kaputt machen. Menschen, die wir lieben zum Beispiel. Sie leiden unter den Fehlern, die wir begehen.«
Aurora versuchte, die Worte des Mannes gedanklich zu verarbeiten, einzuschätzen. Die Bedeutung zu entschlüsseln. Es gelang ihr nicht. »Wollen Sie mich etwa umbringen?«
»Ich will, dass du mitkommst.«
»Wollen Sie meine Mama umbringen?«
Er gab keine Antwort.
Aurora sah ihn an. Sie hatte keinen Schimmer, was sie da tat, als sie einen Blick in den Pizzakarton warf, ihn wieder schloss und danach mit dem Fuß die Tür zuschmiss. Sie griff nach dem Schlüsselbund auf dem Schuhschrank und schloss die Wohnungstür mit zittriger Hand ab. Es sollte ihr ein Gefühl von Sicherheit geben in einer Situation, die für sie unkontrollierbar war. Sie stand reglos im Flur und starrte auf die Schachtel vor sich. Es dauerte eine Weile, ehe sie bemerkte, dass ihr
Bruder sie von der Schwelle zu seinem Zimmer aus beobachtet hatte.
»Wer war das?«, flüsterte er.
Sie warf ihm einen Blick zu. »Keine Ahnung.«
»Das war der, mit dem Mama vorhin gesproch’n hat. Ich hab seine Stimme erkannt. Is alles in Ordnung?«
Aurora presste die Lippen aufeinander. Und dann tat sie das, worin sie neben Klauen noch besonders gut war: lügen.
»Ja«, sagte sie, »alles in Ordnung. Hier, die is für dich.« Sie legte ihrem Bruder den warmen Pizzakarton auf die Oberschenkel, schloss die Wohnungstür wieder auf und rannte mit dem Versprechen, sie würde bald wieder zurück sein, das Treppenhaus hinunter.
Menschen unten im Schatten der alten Levensauer Hochbrücke. Sie lagen auf ausgebreiteten Decken entlang des Ufers, sie machten mit ihren am Wegrand abgestellten Fahrrädern gerade eine Rast auf den Parkbänken. Als eine entgegenkommende Eisenbahn den Blick auf die weitläufige Landschaft unter ihnen versperrte, rückte Aurora sich im Ledersitz zurecht und betrachtete verstohlen den Mann, der beide Hände am Lenkrad des Geländewagens hatte und starr nach vorn auf die Straße blickte. Sie war keine Gefangene, das war ihr klar. Sie hatte das Gefühl, sie könne ihm jederzeit Bescheid sagen, dass sie aussteigen wolle, und dann ließe er sie gehen. Entscheidungen. Und Konsequenzen.
»In Ordnung«, sagte sie nach einer Viertelstunde Fahrt, in der sie geschwiegen hatten, »Sie wissen, dass ich klaue. Aber warum zeigen Sie mich dann nicht einfach an?«
»Ich weiß, was du getan hast, und ich kenne das Strafmaß dafür. Der Staat weiß nicht, was Gerechtigkeit bedeutet. Du sollst verstehen, dass du die Menschen nicht nur um ihre Wertsachen bestohlen hast. Deine Taten ziehen Konsequenzen nach sich, die du dir nicht ausmalen kannst. Deswegen sitzt du jetzt hier neben mir. Das ist eine Folge
davon, und eine andere ist, dass du mir etwas besorgen musst. Nur einen Briefumschlag, keine Angst. Die Adresse habe ich. Im Stehlen bist du doch gut, oder nicht?«
Der Mann sah sie an. Sie gab keine Antwort. Er fuhr bei einem alten Feldweg rechts heran und schaltete den Motor ab. »Ich warte hier auf dich«, sagte er. »Ich will nicht, dass man mich in der Nähe sieht. Geh den Weg rauf. Das letzte Haus, bevor es in das kleine Waldstück reingeht, rechte Seite. Und bevor du den Briefkasten leerst, sollst du noch etwas für mich tun. Du sollst durchs Wohnzimmerfenster schauen und mir sagen, was du dort siehst.«
Aurora stieg aus. Sie verstand nicht, was vor sich ging. Auf dem Weg durch die Reihenhaussiedlung war ihr eine Sache klar geworden: Der Mann war ein Psychopath. Und wenn sie nach seinen Regeln spielte, dann hätte sie bereits verloren. Die andere Sache war ihr aber auch klar: Ein Psychopath würde ihr gar keine andere Wahl lassen, als nach seinen Regeln zu spielen. Sie betrat die kleine Rasenfläche vor dem Haus und fühlte sich jetzt schon wie eine Einbrecherin. Obendrein noch wie eine ziemlich amateurhafte: Es war helllichter Tag, und hinter ihr hatte eine alte Frau die Arbeit in ihrem Garten unterbrochen und beobachtete Aurora, die jetzt über ein Rosenbeet gebeugt stand und ihre gewölbten Hände an eine Fensterscheibe anlegte.
An einem großen Esstisch saß eine Frau mit dem Rücken zu ihr gewandt. Sie bewegte sich nicht. Sie starrte durch die Glasfront zum Garten auf eine dahinter gelegene Pferdekoppel. Auf der Höhe ihres Gesichts hielt sie eine glimmende Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, der Daumen ruhte auf dem Filter. Nach einer Weile zog sie an der Zigarette, blies den blauen Rauch aus und aschte in ein Glas ab.
»Entschuldige, kann man dir irgendwie helfen?«
Aurora wirbelte herum. Sie hörte ihr Blut hinter den Ohrmuscheln
rauschen und spürte ihr Herz klopfen. Die Frau, die eben noch im Garten gearbeitet hatte, stand jetzt mitten auf der Straße. Zwischen ihr und Aurora lag ein etwa fünf Meter breiter Grünstreifen, fremdes Grundstück, das zu übertreten die Alte nicht wagen würde. »Was machst du hier?«, fragte sie.
Wenn Aurora eines in der kurzen Zeit von dem Mann gelernt hatte, dann war es, dass man Fragen am besten mit Gegenfragen beantwortete. »Könn’ Sie mir sagen, wer die Frau is, die dort wohnt?« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. Die Alte stand mit einer Gartenharke und gerupftem Unkraut in den Händen da und betrachtete das Mädchen verdutzt. »Ich kenn auch nur ihren Namen«, sagte sie. »Sie ist vor ein paar Monaten hergezogen und hat sich in der Nachbarschaft nie vorgestellt.«
Aurora nickte und schlenderte über die Wiese zum Wandbriefkasten. Er war neben der dunklen Haustür an der Außenmauer angebracht. Sie öffnete die Klappe und griff hinein.
Auf dem Namensschild las sie den Familiennamen Dahlmann.
»Was machst du da? – Lass das sein.«
Aurora zog neben einem Werbeprospekt einen schwarzen Briefumschlag heraus. Den Prospekt legte sie noch oben auf den Briefkasten, aber dann begann sie zu laufen. Hinter sich hörte sie die Frau nach ihr rufen. Die Wortfetzen, die Aurora aus der Ferne noch aufnahm, beinhalteten mehrfach das Wort Polizei. Mit ihrem Griff fest um den Briefumschlag rannte sie zum Geländewagen zurück, der Motor lief bereits, sie riss die Beifahrertür auf und stieg ein. Fast parallel dazu fuhr der Mann los. Er riss das Lenkrad herum, drehte den Wagen auf der schmalen Teerstraße und fuhr den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Anscheinend hielt er nicht nur wenig von der staatlichen Rechtsprechung, sondern auch von geltenden Tempolimits.
Eine Weile nachdem sie die Brücke zum anderen Kanalufer
überquert hatten, kamen ihnen zwei Polizeiwagen mit eingeschalteten Sirenen entgegen. Aurora suchte erst jetzt den Anschnallgurt hinter sich und führte die Steckzunge ins Schloss. Das nervtötende Piepgeräusch stoppte abrupt.
»Was hast du gesehen?«, fragte er.
»Eine Frau«, sagte sie. »Laut dem Namen auf ihrem Briefkasten heißt sie Dahlmann.«
»Was hat sie gemacht?«
»Geraucht.«
»Und weiter?«
»Sonst nix. Sie hockte nur vor ’nem Tisch, hat nach draußen geguckt und geraucht.« Das Mädchen auf dem Beifahrersitz schüttelte den Kopf. Sah nach draußen, sah den Mann. »Ich versteh den ganzen Scheiß nich. Wer is das?«
Der Mann verzog ahnungslos die Mundwinkel und zuckte parallel dazu mit den Achseln. »Das versuche ich ja in Erfahrung zu bringen«, meinte er. »Sie war dreiundzwanzig Jahre lang meine Ehefrau. Ich kannte sie nur als Frohnatur. Als Kontaktmensch. Aber mit einem Mal wusste ich nicht mehr, wer sie ist. Mir geht es also ganz genau wie dir.« Er musterte während der Fahrt Auroras fragendes Gesicht. Dann senkte er den Blick auf das schwarze Kuvert in ihrer Hand. Es sah leicht verknittert aus. Das Mädchen versuchte zu verarbeiten, was er gerade gesagt hatte. Es rechnete still ein paar Jahreszahlen durch. Zögerte mit der Frage. Dann: »Sie sind aber nich mein Vater, oder etwa doch?«
»Dein Vater, hm. Was glaubst du denn, Aurora?«
»Ich … denk nich, dass Sie das sind. Aber ich hab ihn nie kennengelernt. Und von meiner Mutter weiß ich, dass er ein verheirateter Mann war. Wär doch logisch, wenn Sie’s wären. Vielleicht geht’s Ihnen ja gar nich darum, dass ich auf den Bildern beim Klauen zu seh’n bin.«
Der Mann warf einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel, setzte den Blinker und überholte ein anderes Auto. »Ein Mann setzt eine Tochter in die Welt«, sagte er, »und entschließt sich dazu, sie völlig allein zu lassen. Er will sie nicht zu ihrer Geburt sehen, will nicht sehen, wie sie aufwächst, wie sie das Laufen lernt, ihr erstes Wort spricht, zur Schule geht, lesen lernt, ihre Grundschule besteht, eine weiterführende Schule besucht, ihren ersten Freund kennenlernt. All das verpasst er ohne Reue. Sechzehn Jahre lang. Glaubst du wirklich, dass es logisch wäre, wenn er jetzt vor dir stünde? – Nein. Da wäre es logischer, dass ich der Papst wäre.«
Der Wagen hielt bei der nächsten roten Ampel. Feierabendverkehr. Die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern der Backsteinhäuser am Westring, und zwei Jungs liefen oberkörperfrei über die Straße. Das Wageninnere war auf neunzehn Grad klimatisiert. »Um zu verstehen, wer jemand jenseits seines Namens ist, musst du seine Familie kennenlernen.«
Sie löste den Blick von den beiden Jungs und sah ihn an.
»Du siehst, Aurora, du kennst mich schon wesentlich besser, jetzt, wo du meine Frau gesehen hast. Aber es gibt noch einen Menschen, den ich sehr liebe. Meine Tochter nämlich. Sie ist drei Jahre älter als du. Neunzehn. Du musst zu ihr gehen und sie kennenlernen. Mit mir redet sie kein Wort mehr.«
»Kann ich ihr nich verübeln«, sagte Aurora. »Ich kann verstehen, wenn jeder den Kontakt zu Ihnen abbricht. Sie sind ’n reichlich unheimlicher Mensch.«
»Ja. Tja«, sagte er nachdenklich. »Isabell heißt sie. All die Erfahrungen, von denen ich dir eben erzählt habe, die ein Vater verpasst, wenn er sein Kind nicht sieht – all die durfte ich machen.«
Die Ampel schaltete auf Grün. Der Verkehr setzte sich zäh in Bewegung. »Jeder Mensch hat eine Erinnerung, die ihn am stärksten beeinflusst«, sagte er. »Meine ist die von einem lang vergangenen
Spätsommertag in Strande. Es war ein Sonntagabend, als ich mit Isabell an den Steilklippen entlang der goldenen Ähren spazieren war. Ein Tag, bevor der Bauer das Feld abgeerntet hat und alles kahl wurde, das Wetter kalt. Diese Erinnerung ist für mich wie ein heiles Eiland in einem düsteren Meer aus schweren Zeiten. Und egal, wie viele Jahre schon dazwischen liegen, ich schöpfe immer noch aus der Erinnerung meine Kraft. Und egal, wie alt Isabell jetzt ist, ihre Seele ist für mich immer noch das kleine Mädchen, das bei Sonnenuntergang im Getreidefeld gespielt hat.«
Der Mann bog in die Saarbrückenstraße ein, setzte kurz darauf den Blinker und hielt direkt am Eingang eines Friedhofs an. Er zog die Handbremse an und machte den Motor aus. »Wir sind da«, sagte er. »Geh den Weg hinter dem Eingang einfach nach rechts entlang, und ganz am Ende wirst du sie treffen. Gar nicht zu verfehlen«, meinte er.
Aurora öffnete den Mund wie zum Sprechen, doch war sie nicht in der Lage, etwas zu sagen.
»Willst du eigentlich gar nicht wissen, was sich darin befindet?«, fragte er und zeigte auf den Briefumschlag.
Obwohl in ihrer Hand, hatte sie ihn schon ganz vergessen. Sie löste ihren engen Griff, öffnete den Umschlag mit dem Fingernagel entlang der Haftklebestreifen und warf zunächst nur einen Blick hinein. Dann holte sie eine Notiz hervor.
1507
Sie drehte den Notizzettel um, doch die andere Seite war unbeschrieben. »’n Datum. Das is heute«, sagte sie nach einer Weile und ließ ihre Feststellung mehr nach einer Frage klingen.
»Sehr gut. Ja. Ein Datum. Aber auch ein Code. Merk ihn dir.« Der Mann stieg aus dem Wagen aus, und sie tat es ihm gleich.
»Wenn du sie getroffen hast, dann kommst du hierher zurück«,
sagte er. »Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Warten macht mir nichts aus.« Er fingerte eine Zigarette aus der Packung und drehte sie sich in den Mundwinkel. »Eigentlich rauche ich schon lange nicht mehr«, meinte er. »Aber ich wusste, dass ich ab hier eine brauchen werde.« Er lehnte sich gegen den Wagen, den linken Fuß am großen Offroad-Reifen abgestützt, und obwohl kein Wind ging, zündete er die Zigarette hinter vorgehaltener Hand an, mit einer alten, unbekehrbaren Geste.
»Warum kommen Sie nicht mit?«, fragte Aurora.
»Weil du das allein erledigen musst. In Gesellschaft mag das Leben ja angenehmer sein, aber es gibt Erfahrungen, die unschön sind und trotzdem wichtig, und die man allein für sich machen muss.« Er blies den Rauch aus und betrachtete das Mädchen. Hielt eine Weile inne. »Aurora, sieh, es musste so kommen«, fuhr er dann fort, »denn du hast so viele Leute bestohlen, dass unter ihnen einer sein musste, der dir die Wahrheit zeigt. Ich will dir so wenig etwas tun, wie du mir etwas tun willst. Und dennoch machen wir einander unsere Leben kaputt. Fast, als müsste es so sein.«
»Ich«, sagte Aurora, und das war auch schon das Einzige, was sie hervorbrachte.
»Man lernt keine Lektion durch tadelnde Worte. Was man falsch gemacht hat, lernt man nur dann, wenn man die Konsequenzen vor Augen hat. Bilder, die einen nicht mehr loslassen. Ob du mein Handeln als gerechtfertigt betrachtest oder nicht, spielt keine Rolle. Hättest du die Menschen nicht bestohlen, wäre all das hier gar nicht passiert. Und glaub mir, ich wollte, du hättest es nicht getan.«
Auf dem Sandweg durch den Friedhof traf sie einen alten Witwer, der ihr trotz Trauer in den Zügen freundlich zulächelte und leise grüßte. Er sah ihr auf eine Art tief in die Augen, als seien sie durch den Tod eines geliebten Menschen im Geiste miteinander verbunden. Doch das stimmte nicht. »Moin«, sagte Aurora und ging an ihm
vorbei. Die Tochter, die sie suchen sollte, war nicht schwer zu finden. Sie lag unter einer einsamen, dunklen Granittafel, die Aurora bis zur Brust reichte. Ein trauernder Bronzeengel, so groß wie sie, lehnte an der Tafel und stützte den Kopf auf den Arm. Die Schwingen hingen ihm träge nach unten.
WARUM UNSERE
LIEBSTE
ISABELL DAHLMANN
*9.3.1999 †15.7.2018
Aurora trat einen Schritt näher. Betrachtete das auf dem Grabmal in einen Rahmen eingefasste Bild des Mädchens. Dunkelblond; blauäugig wie der Mann. Sie war wunderschön. Aurora glaubte, das Mädchen irgendwo schon einmal gesehen zu haben, aber sie konnte nicht erschließen, woher. Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht.
Die Grabfläche war mit Geranien und Mittagsgold bepflanzt. Auf dem ausgebreiteten Gemisch von dunklen und hellen Kieselsteinen lag ein weiteres schwarzes Kuvert. Sie vermutete nichts anderes, als dass es für sie bestimmt war, und sie hatte recht. Eine weitere Notiz mit einer Adresse in Strande lag darin. Aurora schob die Notiz zurück, faltete den Umschlag in der Mitte und steckte ihn in ihre Hosentasche. Ihr war schwindelig. Sie hatte Angst, und sie fühlte sich schuldig, ohne den Grund ihrer Schuld in Worte fassen zu können. Obwohl es keinen Zeitdruck gab, fing sie an zu rennen. Sie wollte wissen, was das tote Mädchen mit ihr – mit allem – zu tun hatte. Doch als sie an den Toren des Friedhofs angekommen war, war der Mann verschwunden. Der Geländewagen parkte nicht mehr vor dem eingeschränkten Halteverbotsschild. Sie ging suchend ein paar Meter in die eine und dann in die andere Richtung. Sie lief die Straße hoch, wartete an der nächsten Kreuzung und beobachtete den Verkehrsfluss der auf die B76 abbiegenden Autos. Als könnte der schwarze Jeep unter ihnen
sein. Als könnte sie ihn aufhalten, wenn es so wäre.
Es war später Abend. Sonnenuntergang. Sie bezahlte den Taxifahrer in bar und stieg aus. Das Taxi fuhr hinter ihr davon. Das Surren der Räder auf dem Asphalt verklang in der Ferne, und die Stille einer kleinen Gemeinde trat an sie heran. Getüpfelte Schatten der die Uferpromenade säumenden Bäume auf der Straße vor ihr. Sie hörte die Wellen der Ostsee brechen, hörte den Klang von Stimmen unten am Strand. Auf der anderen Straßenseite blieb sie vor einem geschlossenen Flügeltor stehen und betrachtete das moderne Strandhaus dahinter. Zwei Stockwerke. Große Fensterfronten und eine Dachterrasse. In den Scheiben im Erdgeschoss spiegelten sich die Reflexe der warmen Gartenlichter, doch im Haus selbst war es dunkel. Aurora sah ihre Mutter im Garten auf einer Holzbank hocken. Sie bewegte sich nicht. Nicht einmal ihr Haar ging im Wind auf. Gänseblümchen standen in Grüppchen auf dem Rasen und hatten ihre Blüten zur Abendruhe geschlossen. Die Welt hinter dem Zaun ein einziges Stillleben.
Aurora kratzte mit dem Fingernagel an ihrem eigenen Familiennamen am Klingelschild herum, der ihr dort so fremd erschien. Hatte sie ihn doch ihr ganzes Leben lang nur irgendwo zwischen 242 anderen Parteien auf einer endlos langen Klingelplatte aus Edelstahl gefunden. Sie riss den Aufkleber mit ihrem Nachnamen ab und sah dort das Überbleibsel der Vorbesitzer wie eine verblassende Erinnerung. Familie Dahlmann. Aurora gab die vier Ziffern, den Todestag der Tochter, auf dem Codeschloss ein, und das Flügeltor öffnete sich surrend. Als ihre Mutter sie sah, hob sie den Blick. Sie stand von der Bank auf und blieb reglos stehen, in ihrer Hand eine eingerollte Zeitung.
Aurora saß neben ihrer Mutter auf der Bank. Sie wandte ihr Gesicht
den letzten Sonnenstrahlen zu. Fern abseits des Badebereichs glitten kleine Boote und Segelschiffe durch den Abglanz; die Abendsonne war schon zu zwei Dritteln hinter dem Meer verschwunden. Sie warf einen Blick auf die alte Zeitung auf ihrem Schoß. Las noch einmal die Schlagzeile vom fünfzehnten September des vergangenen Jahres:
MÄDCHEN BEKLAUT –
AUF DEM WEG ZUM POLIZEIREVIER
VON BETRUNKENEM ÜBERFAHREN
Aurora trug einen Ausdruck von Schmerz im Gesicht, als sie in das Licht blickte. Die Sonne spiegelte sich in ihren Augen. Die Reflexe auf dem wellengekräuselten Meer, die im Abendlicht leuchtenden Möwen. »Sie is meinetwegen gestorben«, sagte sie. »Ich erinner mich wieder an sie.«
»Er hat das Handy noch in derselben Nacht geortet«, sagte ihre Mutter. »Er hat mir gesagt, er wollte denjenigen umbringen, der ihr das Handy gestohlen hat. Aber als er dich gesehen hat, wie sorglos du mit dem Telefon seiner Tochter herumgelaufen bist, da wusste er, dass ihm der Tod nicht genug war. Er hat gesagt, Rache übt man nicht, indem man einem anderen Menschen das Leben nimmt, man übt sie, indem man ihm das Leben lässt, aber im Bewusstsein der Schuld, die er begangen hat. So hat er es gesagt.«
Obwohl Aurora keinerlei körperlicher Anstrengung ausgesetzt war, hatte sie größte Schwierigkeiten damit, wieder zu Atem zu kommen. »Was soll das mit dem Haus? Is das jetz wirklich unsers?«
»Ja. Die Unterlagen sind vom Notar unterschrieben und liegen in der Küche. Wir können uns kein Haus leisten, aber wir können das hier verkaufen. Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, dann habt du und dein Bruder eine Absicherung.« Sie sah ihre Tochter an. »Freust du dich darüber?«
Aurora zog die Stirn kraus. Sie rückte sich mit überschlagenen
Beinen auf der Bank zurecht. »Ich – nein. Wie könnte ich?« Sie sah ihre Mutter an und dachte, sie wolle noch etwas hinzufügen, sagte dann aber nichts mehr. Ihre Mutter sah selbst im goldfarbenen Licht der Abendsonne kränklich aus. Ihre grauen Haare fettig, ihr Gebiss unvollständig. Sie trug über einer billigen Bluse gestreifte Hosenträger.
»Er hat gesagt, wenn du dich über das Haus freuen würdest, hättest du nichts begriffen. Und wenn du dich nicht freuen würdest, hättest du alles verstanden, was er dir sagen wollte. Das Strandhaus ist kein Geschenk von dem Mann«, sagte ihre Mutter, »es ist ein Symbol dafür, dass dein Handeln eine heile Familie ausgelöscht hat. Es tut mir leid, Aurora. Er wollte, dass ich dir das sage, und wenn ich es nicht getan hätte, hätte ich Angst, dass er es herausfindet.«
Aurora erwiderte nichts. Ihr Blick fiel noch einmal zum Abendhimmel, wo sich in der Ferne dunkle Wolkenriffe türmten und die Julisonne vor ihren Augen verwässerte.