Wulf Dorn
Alice vor dem Spiegel
›Wenn du dich nicht auf der Stelle besserst‹,
sagte sie dazu,
›dann stecke ich dich in das Haus hinterm Spiegel.
Und was machst du dann?‹
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln
A ls ich zu mir komme, klingen Ralfs Worte noch in mir nach. »Du und ich, Alice. Nur du und ich. Für immer und immer.«
Dann ist der wunderschöne Traum endgültig vorbei. Das Gefühl der Geborgenheit verschwindet. Die Wärme verschwindet. Ralf verschwindet.
Und ich … ja, wo bin ich eigentlich?
Nicht daheim in unserem Haus.
Mein Kopf tut weh, und die hellen Wände blenden mich. Das kommt von der vergitterten Neonröhre über mir, denn Tageslicht gibt es hier nicht. Nur ein schmales Fenster in der Tür gegenüber, hinter der ebenfalls Kunstlicht scheint.
Ich liege auf einem Bettgestell, das ebenso weiß ist wie die Steppdecke. Als ich sie zurückschlage, erkenne ich ein blassblaues Nachthemd, das definitiv nicht meines ist. Darunter trage ich eine klobige Unterhose, die ebenfalls nicht mir gehört, und auch die Wollsocken an meinen Füßen sind mir fremd.
Wo sind meine Sachen?
Was, um Himmels willen, mache ich hier?
Als ich mich vollends aufsetze, beginnt sich alles zu drehen. Ich fasse mir an den Kopf und ertaste eine dicke Bandage.
Hatte ich einen Unfall?
Das würde erklären, warum ich mich an nichts erinnern kann.
Ja, so muss es sein! Mir ist etwas zugestoßen.
Deshalb friert es mich jetzt auch am Rücken. Weil das Nachthemd kein Nachthemd sondern ein hinten offenes Krankenhaushemd ist. Nur dass der Raum, in dem ich mich befinde, nicht wie ein Krankenzimmer aussieht.
Seltsam.
Beim Aufstehen wird mir wieder schwindlig. Alles um mich herum verschwimmt, und ich muss mich an der Wand abstützen. Es sind merkwürdige Wände. Sie fühlen sich weich und gepolstert an.
Der Raum ist quadratisch und kaum größer als die Abstellkammer in unserem Keller. Ich bin nicht gut im Schätzen von Entfernungen – das sei eine typisch weibliche Schwäche, sagt Ralf immer –, aber ich würde sagen, der Raum misst ungefähr drei auf drei Meter. Vielleicht auch ein bisschen weniger.
Es gibt nur das Bett, keine weiteren Möbel, und auch der glatte Boden ist irgendwie weich. Als ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen setze, fühlt es sich an, als würde ich über ein flaches Wasserbett gehen. Das verstärkt mein Schwindelgefühl und lässt mich wanken.
Als ich endlich die Tür erreicht habe, stelle ich fest, dass sie keine Klinke hat. Auch keinen Knauf oder nur ein Schloss, in dem ein Schlüssel steckt. Nichts, womit ich sie öffnen kann.
Was soll das?
Warum hat man mich eingesperrt?
Ich schlage mit der Handfläche gegen die Tür.
»He! Hallo! Hört mich jemand?«
In diesem Raum klingt meine Stimme gedämpft, als würde sie von den weichen Wänden geschluckt werden. Nur die Tür ist aus schwerem, weiß lackiertem Metall und das Fenster darin aus dickem Glas, in das ein Drahtgitter eingelassen ist. Dahinter liegt ein kahler heller Gang, von dem ich nicht viel sehen kann.
Ich trommle mit den Fäusten gegen die Tür. So lange, bis mir die Hände wehtun und der Schwindel wieder einsetzt.
Niemand kommt.
Schließlich gebe ich auf, schleppe mich zu dem Bett zurück und lasse mich keuchend darauf nieder. Mein Herz rast, und der Puls sticht mir in den Schläfen. Ich spüre, wie mir kalter Schweiß über die Stirn läuft, und rieche den beißenden Adre­nalingestank aus meinen Achselhöhlen.
Ich habe Angst, entsetzliche Angst.
Wenn doch nur Ralf jetzt hier bei mir wäre! Er weiß immer, was zu tun ist. Ihm kann ich blind vertrauen. Schon seit so vielen Jahren.
Ein leises Summen lässt mich zur Decke sehen. Mir fällt eine Kamera auf, die sich wie ein schwarzes Auge in meine Richtung dreht. Darüber blinkt ein winziges rotes Kontrolllicht.
»Hilfe!«, schreie ich zu der Kamera und winke ihr zu. »Ich bin hier! Hallo!«
Doch dieses kalte schwarze Auge starrt mich nur an. Falls mich jemand sieht, reagiert er nicht.
Zeit vergeht. Vielleicht sind es nur Minuten, vielleicht auch Stunden. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.
Dann auf einmal erscheint das Gesicht eines Fremden vor dem Fenster in der Tür. Er schaut zu mir herein und scheint mit jemandem zu sprechen, der neben ihm steht. Jemand, den ich weder sehen noch hören kann. Auch die Stimme des Fremden höre ich nicht, weil die dicke Tür keinen Laut zu mir durchlässt.
Als sie mit einem metallischen Klicken aufgeschlossen wird, rücke ich auf dem Bett zurück, ziehe die Beine an und drücke mich mit dem Rücken gegen die Wand. Ich kann nicht fliehen und gerate nun erst recht in Panik.
Die Tür geht auf, und der Fremde tritt ein. Er ist groß und dunkelhaarig und sieht recht gut aus – auch wenn er Ralf niemals das Wasser reichen könnte. Offenbar ist er ein Arzt, denn seine Hose, die Schuhe und der Kittel sind so weiß wie alles Übrige in diesem Raum. Nur sein T-Shirt ist schwarz. An der Brusttasche seines Kittels erkenne ich irgendein Logo, in dessen Mitte sich eine Schlange um einen Äskulapstab windet.
»Hallo«, sagt er und lächelt. »Wie geht es Ihnen?«
»Wer sind Sie, und wo bin ich?«
Meine Stimme klingt seltsam, irgendwie rau und gleichzeitig kieksend. Kein Wunder. Mein Hals ist vom Schreien trocken, und meine Angst schnürt mir fast die Kehle zu.
»Sie sind in einem Krankenhaus«, bestätigt der Fremde meine Vermutung.
Ich bin froh, dass er an der Tür stehen bleibt und nicht näher kommt. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht nennen kann, ist mir dieser Mann unheimlich.
»Mein Name ist Jan Forstner«, stellt er sich vor. »Ich bin Ihr behandelnder Arzt. Und wer sind Sie?«
Diese Frage wundert mich. »Wenn das ein Krankenhaus ist, dann wissen Sie doch, wer ich bin, oder?«
»Ich würde es gern von Ihnen hören.«
»Alice«, sage ich. »Alice Bloch.«
Er mustert mich auf eine seltsam distanzierte Art, als würde er jedes meiner Worte und jede meiner Gesten analysieren. Bestimmt tut er das auch, weil ich am Kopf verletzt bin und er wissen will, ob ich einen Schaden davongetragen habe. Aber obwohl er ein Arzt ist, der nur seiner Arbeit nachgeht, hasse ich diesen Blick.
»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«
Ich schüttle den Kopf, wovon mir wieder schwindlig wird. »Ich … kann mich an nichts erinnern. Hatte ich einen Unfall?«
»Nun, nicht direkt. Sie haben eine schwere Kopfverletzung erlitten, die wohl Ihren derzeitigen Zustand verursacht. Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist?«
Ich überlege, aber dann muss ich raten. »Montag?«
»Es ist Mittwoch. Aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Sie waren eine Weile bewusstlos und müssen sich erst wieder orientieren. Das ist in Ihrer Verfassung ganz normal.«
Mittwoch. Mit dieser Information kann ich nichts anfangen, da ich nicht weiß, wann man mich hierhergebracht hat. Ich brauche Ralf, er kann mir bestimmt alles erklären.
»Wo ist mein Mann? Ich will ihn sehen! Bitte!«
Wieder mustert mich dieser Dr. Forstner. Sein Gesicht bleibt ausdruckslos, aber seine Augen sind wachsam. Wie die Kamera in der Ecke über uns, die nun uns beide zu beobachten scheint.
»Dazu kommen wir später.«
»Nein!«, protestiere ich. »Ich will ihn jetzt sehen!«
»Bitte haben Sie noch etwas Geduld«, sagt er und lehnt sich gegen die Wand. Wenigstens hält er Distanz, und meine Anspannung lässt ein wenig nach. »Zuerst möchte ich Sie bitten, mir alles zu erzählen, woran Sie sich erinnern können.«
Das ist nicht einfach, stelle ich fest. Etwas stimmt tatsächlich nicht mit mir, das merke ich selbst. Das Denken kommt mir anstrengend und schwerfällig vor. Als müsste ich jeden einzelnen Gedanken aus einer großen Kommode in meinem Kopf ziehen, in der alle Schubladen klemmen.
Dr. Forstner scheint das zu bemerken und gibt mir eine Hilfestellung. »Erinnern Sie sich an den Sonntagabend in Ihrem Haus?«
Tatsächlich springt nun eine der klemmenden Laden auf, und ich muss lächeln.
»Ja, genau«, sage ich und spüre eine Träne der Erleichterung, die mir über die Wange rinnt. »Jetzt fällt es mir wieder ein! Ich hatte für uns gekocht. Asiatisches Hühnchen mit Pak Choi. Das ist Ralfs Lieblingsgericht. Wir essen viel Gemüse und nur weißes Fleisch, wissen Sie? Rotes Fleisch macht aggressiv, und man bekommt Krebs davon, sagt Ralf.«
Wieder dieser Blick. Er macht mich ganz verrückt, doch ich werde ihn wohl oder übel erdulden. Aber nur solange er mir nicht auf die Brüste starrt. Das würde Ralf nicht gefallen, und mir erst recht nicht. Das darf nur mein Ehemann.
»Warum sehen Sie mich denn so an?«, frage ich. »Glauben Sie mir etwa nicht?«
Dr. Forstner verzieht keine Miene. »Erzählen Sie weiter. Was war dann?«
Ich sehe Ralf vor mir sitzen. Sein wunderschönes, masku­lines Gesicht im Kerzenschein. Diese Erinnerung gibt mir Zuversicht.
»Es war ein romantischer Abend. Zum Essen haben wir Rotwein getrunken. Einen Primitivo aus Apulien, wo wir letztes Jahr im Urlaub gewesen sind. Es ist so wunderschön dort, und wir waren sehr, sehr glücklich.«
»Und dann?«
Die nächste Schublade in meinem Kopf öffnet sich wie von selbst.
»Wir haben uns unterhalten. Ich höre seine Stimme so gern, und er liebt es, meine zu hören, sagt er immer. Wissen Sie, wir haben uns am Telefon kennengelernt. Ich war seine Lektorin in dem Verlag, in dem die meisten seiner Bücher erscheinen. Nun ja, jedenfalls bis wir geheiratet haben. Danach wollte er, dass wir immer zusammen sind, also habe ich gekündigt. Er ist so ein wundervoller fantasiebegabter Autor. Bei ihm klingt jede Geschichte wie eine Wahrheit, und es steckt so viel zwischen den Zeilen. Haben Sie schon einmal etwas von ihm gelesen?«
Dr. Forstner schüttelt den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«
»Das sollten Sie aber unbedingt. Er ist wirklich gut, und das sage ich nicht nur als seine Frau.«
»Vielleicht hole ich es nach«, sagt er. »Worüber haben Sie an dem Abend gesprochen?«
Hier hakt die nächste Lade. Ich bekomme sie nur einen Spaltbreit auf. »Ähm, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, wir haben uns über seinen neuen Roman unterhalten. Über die Hauptfigur, für die er sehr viel Einfühlungsvermögen aufbringen muss. Er nimmt seine Arbeit sehr ernst, weshalb er manchmal kaum Zeit für mich hat. Aber das verstehe ich natürlich. Ich möchte ihm ja schließlich nicht im Weg stehen.«
»Hatten Sie Streit an diesem Abend?«
»Streit?« Diese Frage ist so abwegig, dass ich lachen muss. »Wir streiten doch nicht. Nie! Dafür gibt es doch auch gar keinen Grund.«
»Nun ja, auch zwischen den glücklichsten Paaren kann es mal zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Das ist doch ganz natürlich.«
Diese Aussage ärgert mich. Als ob er etwas über Ralf und mich wüsste!
»Vielleicht ist das ja bei Ihnen zu Hause so, Doktor, aber nicht bei uns. Wir sind immer glücklich. Weil wir uns lieben. Seit dem ersten Tag vor acht Jahren. Dieses Gefühl hat nie nachgelassen. Dafür ist es viel zu stark. Ralf und mich verbindet etwas, das man nicht in Worte fassen kann.«
»Ja, das sehe ich.«
Abermals mustert er mich eindringlich, und dann dämmert mir allmählich, warum.
»Sagen Sie mal, was für ein Arzt sind Sie eigentlich?«
»Ich bin Psychiater.«
Natürlich, jetzt wird mir alles klar! Wenn diese verfluchten Kopfschmerzen nicht gewesen wären, hätte ich das längst schon begriffen. Es ist schockierend, und wieder kehrt die Panik zu mir zurück.
»Ich bin im Irrenhaus? Aber warum denn? Ich bin doch nicht verrückt!«
Dr. Forstner macht eine Geste, die mich wohl beschwichtigen soll.
»Nun, zunächst einmal bevorzugen wir die Bezeichnung Psychiatrische Fachklinik«, entgegnet er so ruhig, dass er mir erst recht unheimlich vorkommt. »Und zum anderen ist es meine Aufgabe, mit Ihnen die Wahrheit über jenen Abend aufzudecken.«
»Die Wahrheit?« Mein Herz rast jetzt. »Aber ich habe Ihnen doch gerade gesagt, wie es war! Wir haben Hühnchen gegessen, Wein getrunken und geredet, und wir waren glücklich.«
Er greift in seine Kitteltasche und ich zucke zusammen. Ich frage mich, ob er mir eine Spritze verpassen will. So wie in diesen Filmen, wo man danach mit Schaum vor dem Mund und verdrehten Augen an ein Bett fixiert wird.
Gut möglich, aber nicht mit mir! Ich drücke mich noch fester gegen die Wand – bereit, nach ihm zu treten und zu kämpfen, wenn er auf mich zukommt.
Aber er bleibt, wo er ist, und holt nur ein Diktiergerät hervor. Wortlos drückt er auf die Abspieltaste.
»Notrufzentrale«, höre ich eine Männerstimme sagen.
Eine Frau meldet sich. Sie hat Angst und ist aufgeregt. »Helfen Sie mir! O mein Gott, bitte helfen Sie mir! Mein Name ist Alice Bloch. Ich wohne in der Rosengasse 19. Mein Mann will mich umbringen! Kommen Sie schnell!«
Er hält das Band an und für einen Augenblick ist es so still in dem kleinen Raum, dass ich das Trommeln meines Herzschlags hören kann.
»Erkennen Sie diese Stimme?«, fragt Dr. Forstner.
Ich will antworten, aber mein Mund ist auf einmal völlig trocken. Ich räuspere mich und muss mehrmals schlucken, ehe ich einen Ton herausbekomme.
»Diese Frau … sie klingt wie ich«, sage ich mit kaum hörbarer Stimme und spüre, wie ich am ganzen Leib zu zittern beginne. Selbst das Knacken während des Anrufs, das von dem Mikrofon meines veralteten Smartphones stammt, hatte echt geklungen.
»Aber sie hört sich nur so an wie ich«, setze ich hinzu, diesmal lauter. »Diese Worte habe ich nie gesagt. Das ist völlig unmöglich! Ralf würde doch nie … Er würde nie … Wir lieben uns doch!«
Mein Zittern wird unkontrollierbar, wie bei einem Schüttelfrost. Also schlinge ich die Arme noch fester um meine angewinkelten Beine.
Dr. Forstner lässt mich nicht aus den Augen, während er das Diktiergerät wieder in seinem Kittel verstaut.
»Wenn das auf der Aufnahme nicht Sie sind, wer ist es dann?«
»Keine Ahnung«, sage ich verzweifelt. »Irgendeine Frau, die sich wie ich anhört. Glauben Sie mir bitte, das kann nur eine Fälschung sein! So etwas ist doch heutzutage kein Problem mehr. Jeder Teenager kann so etwas auf seinem Computer zusammenschneiden.«
»Da haben Sie wohl recht. Aber wozu sollte jemand eine Stimme fälschen und dann einen Notruf damit abgeben?«
»Das weiß ich doch nicht!« Zornig zeige ich auf seine Kitteltasche, in der sich das Diktiergerät abzeichnet. »Ich weiß nur, dass ich das nicht gewesen bin. Das ist lächerlich! Weil mir Ralf nie etwas antun würde!«
Nun atmet der Arzt tief durch, was sich wie ein Seufzer anhört. Offenbar glaubt er mir kein Wort. Also halte ich seinem Blick stand, um ihn zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage.
»Ich würde Ihnen gern etwas zeigen«, sagt er schließlich. »Aber ich muss Sie warnen, denn es könnte verstörend für Sie sein.«
»Ach ja? Und was ist das?«
»Ein Foto vom Tatort.«
Ich fahre zusammen. »Tatort? Was denn für ein Tatort?«
Er antwortet nicht, sondern greift wieder in seinen Kittel. Diesmal in die andere Tasche. Dann zieht er ein Foto heraus, kommt einen Schritt auf mich zu und hält es mir entgegen.
»Wen erkennen Sie darauf?«
Ich kauere mich noch enger zusammen. Für einen Moment will ich nicht hinsehen. Also presse ich die Augen zu und bete, dass das alles nur ein böser Traum ist. Dass mich Gott, das Schicksal oder wer auch immer für das alles hier verantwortlich ist, endlich aus diesem Albtraum erwachen lässt.
Aber als ich die Augen wieder öffne, sind der Raum und dieser Arzt noch immer da. Und auch das Foto.
Ja, was ich darauf sehe, ist wirklich verstörend.
»Das … bin ja ich«, flüstere ich. »Soll Ralf mir etwa das angetan haben?«
Dr. Forstner nickt nur, und mir schießen Tränen in die Augen. Das Foto, auf dem ich am Boden liege, mein Kopf umgeben von dunklem Blut auf dem gefliesten Küchenboden, verschwimmt vor mir. Ich erkenne kaum noch den Fleischklopfer, den ich auf dem Bild in der Hand halte. Offenbar habe ich mich wenigstens gewehrt.
»Aber … warum?« Nun muss ich weinen. »Warum sollte er mir das antun? Was habe ich ihm denn getan?«
Dr. Forstner beugt sich mir ein Stück entgegen. »Kann es sein, dass er befürchtete, verlassen zu werden?«
Ich wische mir übers Gesicht. Rotz und Tränen durchnässen den Ärmel des Nachthemds, aber ich schäme mich nicht dafür. Im Moment bin ich viel zu wütend.
»Das ist absurd! Ich würde Ralf niemals verlassen! Warum auch? Wir gehören doch zusammen!«
Der Arzt starrt mich an, als wolle er mich mit seinem Blick durchbohren. »Tja, und warum sollte es dann einen Mietvertrag für eine Alice Bloch geben, der nur ein paar Tage zuvor unterschrieben wurde?«
Ich zucke mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich ist das ein Zufall. Bestimmt gibt es noch jemanden mit demselben Namen. So selten ist der schließlich nicht, oder?«
»Das wäre vorstellbar«, sagt Dr. Forstner. Aber auch wenn er jetzt wieder nickt, sehe ich ihm trotzdem an, dass er nicht daran glaubt. »Nur wäre das dann ein sehr großer Zufall. Immerhin wäre diese Namensvetterin auch noch eine Doppelgängerin.«
»Wer sagt das?«
»Die Vermieterin der Wohnung. Sie sagte außerdem, dass Alice Bloch sie gebeten habe, niemandem davon zu erzählen. Ganz besonders nicht ihrem Mann.«
Jetzt werde ich so wütend, dass ich lachen muss. »Ha! Wissen Sie eigentlich, wie verrückt sich das alles anhört? Vielleicht haben ja Sie den Verstand verloren und nicht ich! Also holen Sie endlich meinen Mann, verdammt noch mal! Ralf wird das alles aufklären. Er wird Ihnen bestätigen, dass er mir nie im Leben etwas antun könnte.«
Ich deute auf das Foto, das er noch immer vor mir hochhält. »Wer auch immer mir das angetan hat, es war bestimmt nicht Ralf! Ich kann mich zwar nicht erinnern, wer es gewesen ist, aber was davor war, ist alles genau so passiert, wie ich es Ihnen gesagt habe.«
Der Doktor steckt das Foto wieder ein, das ich garantiert nie mehr ansehen werde. Nie mehr! Es ist viel zu demütigend, mich wie eine Tote daliegen zu sehen.
»Tja«, sagt er und seufzt wieder, wobei er mich anschaut, als sei ich ein uneinsichtiges kleines Mädchen. »Ich fürchte, es wird schwierig werden, Ralf Bloch zu finden. Er ist offenbar untergetaucht.«
»Blödsinn!«, fahre ich ihn an. »Warum sollte mein Mann so etwas tun?«
»Weil er von der Polizei gesucht wird.«
»Wie bitte?« Ich kann kaum glauben, was ich höre. »Hat er den Kerl etwa umgebracht, der mir das angetan hat?«
»Es hat ganz den Anschein.«
Ein bitterer Geschmack macht sich in meinem Mund breit, und ich schlucke dagegen an. »Aber dann wäre es doch Notwehr gewesen, oder? Er hat getan, was er tun musste. Dafür kann man ihn doch nicht verurteilen.«
»Wir werden sehen«, erwidert der Doktor. »Zuerst müssen wir die Möglichkeit bekommen, mit ihm zu reden.«
Ich fasse mir an den Kopfverband. Das alles ist zu viel für mich. Die pochenden Schmerzen in meinen Schläfen kehren zurück, und mir ist übel.
»Nein, Ralf ist bestimmt kein Mörder«, sage ich und kann mein Schluchzen kaum unterdrücken. »Er ist so ein wunderbarer und feinfühliger Mensch, der immer an meiner Seite steht.«
»Sie sollten sich jetzt ausruhen«, sagt Dr. Forstner, und nun klingt er aufrichtig fürsorglich. »Das war alles ziemlich viel und wohl auch verwirrend für Sie. Wir setzen unsere Unterhaltung später fort. Vielleicht meldet sich ja auch Ihr Mann bis dahin.«
Als ich wieder zu ihm aufsehe, verschwimmt sein Gesicht in meinen Tränen.
»Bitte«, flehe ich ihn an. »Wenn Sie ihn finden, darf ihm nichts passieren! Sobald ich mich wieder erinnern kann, werde ich alles aufklären. Wirklich, das spüre ich! Ich kann ihm helfen.«
Abermals nickt Dr. Forstner. »Ja, das tun Sie bereits. Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«
»Sicher.«
»Sagt Ihnen der Name Thomas Neumann etwas?«
»Nein, wer ist das?«
Er schweigt und beobachtet mich, während ich mir wieder die Augen mit dem Ärmel trockne.
»Das ist der Name des Mannes, der zusammen mit Alice Bloch den Mietvertrag unterschrieben hat«, sagt er schließlich. »Können Sie sich denn nicht an ihn erinnern?«
Auf einmal durchströmt mich Hoffnung – ja, sogar Triumph. »Nein, diesen Namen habe ich noch nie gehört. Deshalb kann ich auch nicht diejenige gewesen sein, die den Mietvertrag unterschrieben hat. Genügt Ihnen das als Beweis?«
Ein paar Sekunden lang sieht mich Dr. Forstner nur an.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagt er dann. »Legen Sie sich jetzt schlafen, und finden Sie Ruhe. Ich bin überzeugt, dass sich alles aufklären wird.«
Er geht und schließt die Tür hinter sich ab. Ich will dagegen protestieren, aber das hat keinen Sinn. Auf dem Gang wird mich niemand hören, und wer auch immer mir durch die Kamera zusieht, wird mich bestimmt nicht herauslassen.
Also strecke ich mich auf dem Bett aus. Der Doktor hat recht, ich bin wirklich verwirrt und erschöpft. Mir fallen die Augen zu, und ich schlafe ein. Diesmal ist es ein traumloser Schlaf.
Als ich wieder erwache, ist es dunkel auf dem Gang. Auch die Neonröhre über mir ist jetzt aus. Da ist nur das Kon­trolllicht der Kamera, das wie ein rotes Glühwürmchen an der Decke lauert, und eine Notleuchte über der Tür, die gedämpftes blaues Licht streut. Sie lässt mich an das Nachtlicht aus meiner Kindheit denken, das meine Mutter immer für mich angelassen hat. Gegen böse Träume.
Ich steige aus dem Bett und gehe in dem kleinen Raum auf und ab. Drei Schritte zur Wand, dann drei Schritte zur anderen Wand und wieder drei Schritte zurück.
Hin und her, hin und her.
Ich fühle mich entsetzlich einsam und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Ralf jetzt hier bei mir wäre.
Natürlich hat er sich versteckt. Das ist mir jetzt klar. Weil ich die Einzige bin, die ihn wirklich voll und ganz versteht. Er fürchtet sich, genau wie ich. Weil das, was passiert ist, niemand außer uns verstehen kann.
Und dann, als ich wieder an der Tür vorbeikomme, kann ich kaum glauben, was ich sehe. Es unfassbar, und mein Herz macht vor Freude einen Sprung.
Ralf ist da! Er muss zu mir gekommen sein, als ich geschlafen habe. Nun wartet er draußen und schaut zu mir herein. Auf dem Gang ist es dunkel, aber aus meinem Raum fällt etwas von dem blauen Licht auf ihn.
Ich bin so glücklich, ihn zu sehen, auch wenn er durch diese verfluchte Glasscheibe in der Tür nur wie eine Reflexion wirkt. Trotzdem sind wir uns jetzt so nah wie nie zuvor.
»Du und ich«, sage ich, und nun klingt meine Stimme sogar wie seine. Sein Kopf ist bandagiert, genau wie meiner, und als ich ihm zulächele, lächelt auch er.
Ja, wir sind zusammen. So, wie ich jetzt bin, könnte ich ihn nie verlassen. Aber das will ich auch gar nicht. Wir sind nun eins in einer perfekten Beziehung. Für immer und immer.
Unzertrennlich wie ein Spiegelbild.