Sechs Tage später saß Parker um halb neun Uhr morgens in Nashville auf der Orange Street in dem Taurus, schräg gegenüber von AAAAcme Check Cashing. Es war noch geschlossen, deshalb sah man im Erdgeschoss des schmalen dreistöckigen Gebäudes, eines in einer Reihe ähnlicher Bauten, nur das graue Metall des Rollgitters, das bei Nacht vor der Fassade heruntergelassen war. Wurde es hochgezogen, sah man dahinter lediglich eine Eisentür mit einem kleinen Fenster in der Mitte einer Backsteinmauer und zwei kleinen, breiten Fenstern auf beiden Seiten, in denen in roter Neonschrift »Scheckeinlösung« stand.
Parker war schon den vierten Morgen hier, und inzwischen kannte er den Ablauf genau, wenn AAAAcme öffnete. Die Geschäftszeiten waren Montag bis Samstag von neun bis achtzehn Uhr. Jeden Morgen gegen acht Uhr fünfundvierzig hielt vor dem Geschäft ein roter Jeep Cherokee mit zwei Männern auf dem Vordersitz. Der Fahrer, ein massiger Typ, der bei jedem Wetter einen Anorak trug, was auf eine kugelsichere Weste darunter schließen ließ, stieg aus, schaute sich aufmerksam um und ging hinüber, um das Rollgitter aufzuschließen und hochzuschieben. Dann schloss er die Vordertür auf, machte sie auf und hielt sie offen, während er die Straße hinauf- und hinunterschaute. Der andere Mann, ebenfalls massig und im Anorak, stieg aus, öffnete die Hecktür des Jeeps, nahm zwei schwere Metallkisten mit Metallgriffen auf der Oberseite heraus und schleppte sie über den Bürgersteig zu dem Laden. Der erste Mann wartete, bis die Tür zugefallen war, ging zu dem Jeep zurück, schloss die Hecktür, die sein Partner offengelassen hatte, und fuhr zweihundert Meter zu einem Privatparkplatz, der für Pfandleiher, Secondhand-Musikalienhändler, Spirituosenhändler, Zahnärzte und Passfotografen reserviert war, die sich hier niedergelassen hatten. Nachdem er den Jeep auf seinem gekennzeichneten Platz abgestellt hatte, ging er zum Laden zurück, klopfte an und wurde eingelassen. Eine Viertelstunde später machte das Geschäft auf.
In dem Viertel war spätnachts mehr los als frühmorgens. Um diese Tageszeit herrschte fast kein Verkehr, und vor zehn sah man auch nur selten einen Passanten. In den drei Tagen, die Parker das Geschäft nun schon beobachtete, hatte AAAAcme vor halb zehn keinen einzigen Kunden gehabt; offenbar öffneten sie nur als alter Gewohnheit so früh.
An dem Morgen lief alles genauso ab wie an den anderen Tagen. Als Parker im Rückspiegel den Cherokee herankommen sah, stieg er aus, schloss den Taurus umständlich ab und ging die Straße hinunter Richtung AAAAcme. Der Cherokee fuhr an ihm vorbei und hielt am Bordstein, und er ging zwischen dem Cherokee und dem Laden hindurch. Er ging weiter und passte seine Schritte dem normalen Tempo ihrer alltäglichen Routine an. Der Cherokee überholte ihn erneut, unmittelbar bevor er die Einfahrt zu dem Parkplatz erreichte.
Er trug ein graues Sweatshirt über schwarzen Chinos. Den Sentinel hatte er in der rechten Hosentasche, und vorn im Hosenbund unter dem Sweatshirt steckte ein 45er Colt aus Kentucky. Als er auf den Parkplatz abbog, steckte er die rechte Hand in die Hosentasche.
Der Fahrer stieg aus dem Cherokee aus. Er sah Parker ohne Neugier an, drehte sich um und schloss den Wagen ab. Parker machte ein paar rasche Schritte auf ihn zu, zog den Sentinel aus der Tasche und zielte noch im Gehen mit gestrecktem Arm. Er feuerte einmal, und das .22er Geschoss durchschlug den linken Oberschenkel des Fahrers und prallte dann an der Tür des Cherokee ab, wo es eine sternförmige schwarze Delle hinterließ.
Der Mann sackte überrascht zusammen, fiel gegen den Cherokee und sah über die Schulter Parker an: »Was ist? Was ist los?«
Parker trat ganz nahe an ihn heran und zeigte ihm den Sentinel.
»Ich hab auf dich geschossen«, sagte er. »Die Weste schützt dein Bein nicht. Und dein Auge auch nicht. Willst du eine Kugel ins Auge?«
»Wer zum Teufel sind Sie?« Der Mann stand unter Schock, und alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Er betastete sein linkes Bein.
Parker hielt ihm den Sentinel unter die Nase. »Antworte gefälligst.«
»Was hab ich Ihnen getan? Ich kenn Sie ja nicht mal.«
»Ich bin dabei, Sie zu berauben«, sagte Parker.
»Mein Gott! Sie wollen meine — verdammter Mist!« rief er und schaute auf seine blutrote Hand. »Wegen einer Scheiß-Brieftasche?«
»Das Geschäft«, sagte Parker. »Wir gehen da hin, und wir gehen zusammen rein.«
»Mein Partner —«
»Wird tun, was du ihm sagst. Wenn du spurst, bist du in ein paar Minuten auf dem Weg ins Krankenhaus. Wenn nicht, bist du in ein paar Minuten auf dem Weg in die Leichenhalle.«
Der Fahrer keuchte und versuchte zu begreifen, was passiert war. »Die kriegen Sie, das wissen Sie doch, oder?« sagte er.
»Also kein Grund, sich aufzuregen«, sagte Parker. »Es ist bloß Geld, ihr seid versichert, und mich kriegen sie. Gehen wir.«
»Ich kann nicht gehen.«
»Dann nützt du mir nichts«, sagte Parker und hielt ihm den Sentinel wieder vors Gesicht.
»Ich versuch’s.«
Er konnte gehen, hinkte aber. Immer wieder schaute er ungläubig auf seine rote Hand. »Das ist Wahnsinn«, sagte er. »Man schießt doch nicht einfach auf Leute.«
»Ich schon«, sagte Parker. »Wie heißt du?«
Der Fahrer sah ihn blinzelnd an, schon wieder aus der Fassung gebracht. »Was?«
»Wie du heißt.«
»Bancroft. Aber was —«
»Vorname?«
»Jack. John — Jack, die meisten sagen Jack.«
»Okay, Jack. Und dein Partner, wie heißt der?«
»Vorname?«
»Vorname.«
»Oliver.«
»Ollie?«
»Nein, nix Ollie, er heißt Oliver.«
Sie näherten sich dem Laden. »Sag ihm: ›Ich bin angeschossen worden, der hier hat mir geholfen‹«, sagte Parker. »Sonst nichts. Zeig ihm deine Hand.«
Jack nickte. Er keuchte ziemlich und hinkte jetzt stärker. Sein Gesicht war immer noch aschfahl.
An der Ladentür steckte Parker den Sentinel weg und holte den Colt heraus. Jack klopfte auf das Fenster in der Tür, und Oliver öffnete die Tür zu einem Drittel, hielt aber inne, als er Parker sah. »Jack?« sagte er.
Jack hielt seine rote Hand hoch. »Ich bin angeschossen worden, Oliver, der hier hat mir geholfen.« Er zeigte auf sein Bein.
»Was?« Oliver schaute auf Jacks Hosenbein, das jetzt blutdurchtränkt war. »Um Gottes willen!«
Oliver wich zurück, und Jack humpelte hinein, gefolgt von Parker, der die Tür hinter sich zumachte, Jack zur Seite stieß und Oliver den Colt zeigte. »Keine Bewegung, Oliver.«
Oliver wirkte brutal und wütend, aber er war nicht angeschossen worden. »Sie Mistkerl, Sie —«
Er setzte zu einer Bewegung an, doch Jack rief: »Er weiß von den Westen!«
Oliver hielt inne und sah seinen Partner stirnrunzelnd an.
»Stimmt«, sagte Parker. »Deine Brust ist vor mir sicher. Oliver, hilf Jack, sich auf den Boden zu legen, mit dem Gesicht nach unten.«
Oliver zögerte. Jack sagte: »Oliver, ich hab Schmerzen. Mach schon, überlass es den Cops.«
Oliver nickte. Zu Parker sagte er: »Die kriegen Sie, verlassen Sie sich drauf.«
»Hat mir Jack schon gesagt. Beweg dich, Oliver.«
Oliver half Jack, sich mit dem Gesicht nach unten vor der Theke auf den Linoleumboden zu legen. Die Theke war aus gebeizten Holzplatten, brusthoch, darüber kugelsicheres Plexiglas mit kleinen Öffnungen, durch die Schecks und Bargeld geschoben werden konnten. Am einen Ende der Theke führte eine fensterlose graue Stahltür in den hinteren Bereich.
Als beide Männer mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen, die Arme auf dem Rücken, steckte Parker den Colt ein und zog eine kleine Rolle Klebeband aus seiner Gesäßtasche. Er fesselte ihnen die Hand- und Fußgelenke, zuerst Oliver, dann nahm er Jack die Schlüssel aus der Tasche. Er vergewisserte sich, dass er den richtigen Schlüssel hatte, um wieder in den Laden zu kommen, und ging zu dem Taurus.
Noch immer herrschte hier fast kein Verkehr. Parker fuhr mit dem Taurus vor die Tür von AAAAcme, ging wieder hinein und fand Oliver und Jack, wo er sie zurückgelassen hatte. Jack schnaubte wie ein Walross. Als er Parker herumlaufen hörte, sagte er: »Rufen Sie jetzt endlich 911 an, verdammt noch mal?«
»Das wird schon wer machen«, sagte Parker und ging durch die Stahltür in den hinteren Teil, wo die beiden Metallkisten ungeöffnet auf dem Boden standen. Er hob die Deckel hoch und fand wie erwartet die Geldscheinbündel.
Er schaute sich um und entdeckte einen offenen Safe — Oliver musste ihn vorhin gerade aufgeschlossen haben. In dem Safe waren noch weitere Banknotenbündel, und obendrauf stand ein verschließbarer grauer Geldsack aus Segeltuch. Parker legte das Geld aus dem Safe in den Sack, zog dann die Schubladen unter der Theke auf und fand noch mehr Scheine. Das Wechselgeld ließ er liegen.
Die beiden Kisten und der Sack waren jetzt voll. Parker trug alles durch die Vordertür. Oliver verdrehte sich dauernd den Hals, um ihm hasserfüllte Blicke zuzuwerfen, Jack lag einfach nur da, die Augen geschlossen, die Wange auf dem Boden, den Mund offen, und atmete keuchend.
Parker musste zweimal gehen, um alles aus dem Laden in den Taurus zu schaffen. Er ließ die Ladentür angelehnt, damit der erste Kunde hineingehen, Jack und Oliver finden und die Notrufnummer wählen konnte. Um sieben Minuten vor neun fuhr er los und hielt Ausschau nach den Schildern für die Interstate 65.