In diesem Teil von Memphis herrschte vollständige Integration. Es gab in dem Viertel genauso viele weiße wie schwarze Junkies. Auch einige altmodische Betrunkene wanderten hier umher, und als solchen gab Parker sich aus.
Die neun Tage, in denen er sich mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht hatte, hatte er in einem kleinen kahlen Zimmer in einer schäbigen Pension logiert, sich den Außenseitern und Losern angepasst und tageweise in bar bezahlt. Der Taurus, in dessen Türen der größte Teil der siebenunddreißigtausend Dollar von AAAAcme versteckt war, stand auf dem Langzeit-Parkplatz draußen am Memphis International Airport. Parker hatte stets eine Flasche gespriteten Wein in der Gesäßtasche und saß mit den anderen Schnapsbrüdern auf den Gehsteigen herum, obwohl er nicht gerade der kontaktfreudige Typ war. Er gehörte zu der Sorte, die lieber für sich blieb.
Das Problem beim Herumschnüffeln in so einem Viertel ist nicht, dass die Leute einen für einen Dieb halten, sondern dass sie denken, man ist ein Polizist. Was immer auf höheren Ebenen vor sich gehen mochte, auf Straßenniveau taten die Cops hier ihre Arbeit, ohne die Hand aufzuhalten. Die Drogendealer hatten Aufpasser, die ihnen Bescheid sagten, wenn Polizei in der Nähe war, und dann verschwanden die Basare allesamt blitzartig in Gassen und Hauseingängen und auf die Rücksitze verrosteter Autos.
Wenn diese Leute zu dem Schluss gekommen wären, dass Parker ein verdeckter Ermittler war und sie hinhängen wollte, hätten sie ihn nicht am Leben gelassen. Aber er musste neugierig sein, musste ihnen nachspüren, sie identifizieren, denn er musste dem Geld folgen.
Wieder war es der Mangel an Bargeld. AAAAcme war in Ordnung gewesen, ein Kinderspiel, aber das konnte er nicht noch ein paarmal machen. Wenn er im Südosten eine Scheckeinlösungsfirma nach der anderen überfiel, würde ihn die Polizei schnappen, bevor er auch nur annähernd die Summe beisammenhatte, die er brauchte. Jeder Job musste anders sein, damit er keine Spuren legte, keine Muster hinterließ. Niemand sollte auch nur auf die Idee kommen, dass da draußen vielleicht immer derselbe Mann am Werk war und seine Arbeit machte, mit einem ganz bestimmten Ziel.
Er lebte also jetzt in Memphis auf der Straße, ließ sich den Bart wachsen und sah aus und verhielt sich wie ein Penner im Dauersuff. Jetzt wollte er an Drogengeld ran. Die Dealer schwimmen in Bargeld, das sich an und um ihren Körper konzentriert. Aber sie werden ständig beraubt, manchmal auch umgebracht, weil soviel Bargeld Aufsehen erregt und weil jeder weiß, dass ein beraubter Drogendealer nicht zur Polizei gehen wird. Und deshalb kommt man nicht leicht an sie ran.
Auf diesen Straßen hatte man den Eindruck, dass es genauso viele Dealer wie Konsumenten gab, und während die Dealer überwiegend jung waren und Frechheit mit Heimlichtuerei paarten, gab es die Konsumenten in allen Spielarten, von Obdachlosen, die mit zitternder Hand die zerknitterten Dollarscheine abgaben, die sie gerade erbettelt hatten, bis zu Männern in Anzügen, die im Lotus oder Lexus in das Viertel fuhren und für ein Gespräch durchs Fenster und den Tausch eines Päckchens gegen Bargeld anhielten.
Aber Parker interessierte sich nicht für Geld auf dieser Ebene. Er wollte höher hinauf.
In den letzten neun Tagen hatte er ansatzweise herausbekommen, wie das Liefersystem funktionierte. Zwei Autos waren ihm aufgefallen, das eine ein schwarzer TransAm mit auf die Motorhaube gemalten Flammen, das andere ein silberner Blazer, auf dessen Reserveradhülle Yosemite Sam seine Revolver schwang. Beide kamen zwei- bis dreimal pro Nacht vorbei und hielten mehrmals kurz an, die Dealer kamen aus ihren Löchern, und diesmal lief der Tausch Päckchen gegen Bargeld andersherum: Geld ins Auto, Päckchen heraus.
In jedem dieser Autos saßen mindestens drei Leute, und Parker war überzeugt, dass es auch noch andere gab, Späher, die dem Lieferanten voraus- und hinterherfuhren und nach Polizisten und anderen Störenfrieden Ausschau hielten. Manche dieser Scouts hatten Walkie-Talkies, und allesamt misstrauten sie jedem, den sie sahen, einschließlich ständig betrunkener Penner.
Der Blazer war es, dem Parker in der neunten Nacht folgte. Dabei entfernte er sich aus der Gegend, in der er herumgehangen hatte, schlurfte sechs Häuserblocks weit bis zu der Stelle, wo der Blazer in eine Seitenstraße eingebogen war, und ging dort einen Block weit.
Es war zwar ein etwas besseres Viertel, aber um halb zwölf Uhr nachts wirkte er trotzdem nicht völlig deplaziert. Er setzte sich auf den Bürgersteig, mit dem Rücken an der Mauer eines geschlossenen Drugstores, und eine halbe Stunde später fuhr der Blazer mit mäßiger Geschwindigkeit vorbei. Parker sah ihm nach; er fuhr mindestens ein Dutzend Blocks geradeaus und verschwand dann über eine kleine Kuppe.
Ein anderes Viertel, also von nun an ein anderer Stil. Parker schlurfte in seine Absteige zurück, rasierte sich bis auf den Schnurrbart, der noch kaum zu sehen war, und zog sich etwas bessere Sachen an — gut genug, dass er ein Taxi anhalten konnte. Dann packte er alles in die kleine, schmutzige Sporttasche aus Segeltuch, die er in einer Pfandleihe erstanden hatte, verließ das Hotel, ging knapp einen Kilometer und nahm sich ein Taxi zum Memphis International. Er holte den Taurus ab, checkte in ein Airport-Hotel ein und zahlte für eine Nacht. Nach einem Abendessen auf dem Zimmer und einer langen Dusche fühlte er sich wieder wie ein Mensch.
Am nächsten Nachmittag checkte er in ein Motel ein, das näher an der City lag, und zahlte bar für eine Nacht. Um elf fuhr er nach Memphis und parkte dort, wo er den Blazer zuletzt gesehen hatte.
Der Wagen passierte ihn um zwanzig nach zwölf und fuhr weitere acht Blocks geradeaus, bevor er nach links abbog. Als er außer Sicht war, fuhr Parker hinterher, in der Annahme, dass der Wagen verschwunden sein würde und er am nächsten Tag wieder Posten beziehen müsste, doch als er um diese Ecke bog, stand der Blazer zweieinhalb Häuserblocks weiter am Randstein.
Er fuhr langsam vorbei. In dem Wagen saß nur der Fahrer, der Parker ausdruckslos ansah. Der Blazer hatte vor einer Ladenkirche gehalten. Die Fenster waren mit weißem Papier bespannt, das mit Bibelzitaten in großen Lettern bedruckt war. Über der Tür brannte ein helles Licht, und vor den Fenstern auf dem Gehsteig standen Bänke, auf denen fünf, sechs Typen saßen, die alles im Auge behielten; im Augenblick hatten sie Parker im Visier. Er fuhr weiter und kehrte zu dem Motel zurück.
Er stellte den Wecker auf fünf, stand auf und räumte das Zimmer, suchte sich einen durchgehend geöffneten Diner, um zu frühstücken, und fuhr dann zurück, um in dem Block vor der Ladenkirche zu parken. Sie war jetzt dunkel, die Bänke davor waren leer.
Um halb acht fand ein Gottesdienst statt; die Gemeinde bestand überwiegend aus gehbehinderten alten Frauen. Dann tat sich nichts mehr bis kurz nach elf, als ein dunkelblauer Ford Econoline-Transporter vor der Kirche hielt. Ein bulliger Mann stieg auf der Beifahrerseite aus, schaute gleichzeitig in mehrere Richtungen und ging in die Kirche.
Nach einer Minute kam er wieder heraus und öffnete die Schiebetür des Transporters. Ein zweiter Mann kam nach ihm heraus, mit zwei ziemlich vollen schwarzen Müllsäcken. Die Säcke wurden in den Transporter gehievt, der zweite Mann ging in die Kirche zurück, und der erste schob die Tür zu. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, und der Transporter fuhr los.
An den nächsten drei Tagen kam Parker dem Transporter zuvor, so wie er es schon mit dem Blazer getan hatte. Jeden Abend checkte er in einem anderen Motel ein und zahlte jeweils bar für eine Nacht. Dann, am vierten Tag, beobachtete er, wie der Transporter in die Tiefgarage unter einem Bürogebäude in der City fuhr. Es war eine öffentliche Garage, also fuhr er ebenfalls hinein, zog an der Schranke einen Parkschein und sah, wie der Transporter in der Nähe der Aufzüge hielt. Als er vorbeifuhr, telefonierte der Beifahrer gerade mit einem Handy. Diese Leute trugen also das Geld nicht hinauf; jemand würde herunterkommen und es holen. Wahrscheinlich in etwas edleren Behältnissen als Müllsäcken.
Auf der ersten Ebene war kein Platz frei. Er fuhr auf die zweite hinunter, fand einen Platz, verließ den Taurus und fuhr mit dem Aufzug in den Eingangsbereich hinauf. Er blieb am Bordstein stehen, als wartete er auf jemanden, und behielt die beleuchteten Anzeigen an den Aufzügen im Auge. Drei fuhren gerade nach oben. Keiner fuhr in den nächsten fünf Minuten zur ersten Parkebene, also hatte der Austausch bereits stattgefunden, während er den Taurus abgestellt hatte. Er fuhr mit dem Aufzug zur ersten Ebene hinunter — der Transporter war weg. Zu Fuß ging er zu seinem Taurus.
Am nächsten Tag war er frühzeitig zur Stelle und stand auf dem Gehsteig vor dem Gebäude, als der Transporter hineinfuhr. Er wartete im Eingangsbereich und sah nach einer Minute, dass der Aufzug zur ersten Ebene hinabfuhr. Dort blieb er eine Minute stehen. Parker ging währenddessen zu den Aufzügen hinüber und drückte auf AUFWÄRTS.
Der Aufzug kam, und Parker trat hinein. Zwei weiße Männer in Anzügen mit einem großen schwarzen Rollkoffer standen bereits darin. Der Knopf für den achten Stock war gedrückt. Parker drückte auf die Zehn.
Beim Hinauffahren beobachtete er, wie die Nummern über der Tür aufleuchteten. Als die Sieben kam, zog er den Sentinel, schoss den zunächst stehenden Mann in den Arm und stieß ihn gegen den anderen. »Das ist nicht euer Geld«, sagte er und hielt den Revolver hoch, damit sie ihn sehen konnten. Sie stierten ihn fassungslos an, zu überrascht, um zu wissen, was sie tun sollten, beide noch mit der Verarbeitung der Tatsache beschäftigt, dass einer von ihnen angeschossen worden war.
Parker wartete darauf, dass die Tür im achten Stock aufging. Wenn sie dort oben einen Dritten hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu erschießen, aber er würde lieber darauf verzichten. Tote erzeugen bei der Polizei mehr Hektik als Verletzte.
Der Gang im achten Stock war leer. Parker drückte auf TÜR SCHLIESSEN, und der Mann, der nicht verletzt worden war, sagte: »Wissen Sie, wem das Geld gehört?«
»Mir«, sagte Parker.
»Die werden Ihnen Ihre Eier ins Maul stopfen und Sie zuschauen lassen, wie Ihre Kinder krepieren.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte Parker, und die Tür ging im zehnten Stock auf. Er stieg aus und zeigte mit dem Sentinel auf den Rollkoffer: »Raus damit.«
Sie traten auf den Gang. Der Verletzte hielt sich den Arm und sah Parker argwöhnisch an, der andere zog den Koffer und wartete auf seine Chance, etwas zu unternehmen.
Der Gang war leer. Ein Schild wies nach links zur Treppe. Parker sagte: »Ihr wisst, dass ich euch nicht umbringen will, denn sonst wärt ihr schon tot, aber ihr wisst auch, dass ich es tue, wenn es sein muss. Ihr habt beide eine Knarre unter der Jacke. Lasst sie dort. Und jetzt gehen wir zur Treppe.«
Sie gingen zur Treppe. Ein Schild an der Tür verkündete »Nur Ausgang«. Als Parker am Morgen das Gebäude überprüft hatte, war ihm diese Sicherheitsvorkehrung schon aufgefallen. Im Brandfall konnten die Leute auf jedem Stockwerk ins Treppenhaus gelangen, aber nur die Tür im Eingangsbereich ließ sich auch von außen öffnen.
Außerdem hatte er sich die Firmennamen auf den Schildern im Eingangsbereich angesehen: Vestro Financial Services im achten Stock war ihm als möglicher Kandidat erschienen. »Ihr könnt bald wieder zu Vestro zurück«, versprach er den beiden, »und dann habt ihr was zu erzählen. Lasst den Koffer in der Tür stehen.«
Sie taten es, so dass die Tür halb offenblieb, und alle drei stellten sich auf den betonierten Treppenabsatz. Das Treppenhaus war hellgelb gestrichen und hallte.
Parker zog ein Paar noch von ihrem Papierstreifen zusammengehaltene Schnürsenkel aus der Tasche und gab sie dem Mann, der nicht verletzt war. »Damit bindest du jetzt deinem Kumpel die Daumen zusammen. Hinter seinem Rücken.«
Der Angeschossene sagte: »Tun Sie das nicht, Mann. Ich kann den Arm nicht bewegen.«
»Er hilft dir«, sagte Parker.
Der andere wog die Schnürsenkel auf der Handfläche. »Sie können hier immer noch weg«, sagte er.
»Ich hab’s eilig«, antwortete Parker. »Muss ich es auf die ganz schnelle Art machen?«
Der Typ zuckte die Achseln und sagte: »Tut mir leid, Artie.«
»Ach Scheiße«, sagte Artie und zischte durch die Zähne, als der andere seinen Arm nahm.
Parker schaute zu. Der, der nicht verletzt war, band den Knoten fest genug. Dann drehte er sich zu Parker um und sagte: »Das hier wollen Sie bestimmt zurückhaben.« Er hielt den anderen Schnürsenkel hoch, aber er rutschte ihm durch die Finger.
Er hatte erwartet, Parker würde sich dadurch ablenken lassen, denn seine Hand fuhr blitzschnell unter seine Jacke, aber seine Erwartung trog. Parker trat einen Schritt vor und schoss ihn in den Bauch, knapp über der Gürtelschnalle.
Der Mann grunzte und sackte zusammen, und der Revolver rutschte in Zeitlupe aus seiner Jackentasche. Parker nahm ihn ihm aus der Hand und stieß ihn gegen die Brust. Während der Mann rückwärts die Treppe hinunterfiel, wandte sich Parker Artie zu und sagte: »Das vereinfacht die Sache.«
»Ich hab doch nichts getan! Ich mach Ihnen keinen Ärger!«
Parker legte seinen neuen Revolver auf den Koffer, griff in Arties Jacke und fand den Zwilling. Er steckte sich beide Knarren in den Gürtel, unter dem Hemd, und schob den Sentinel wieder in sein Holster.
Artie sah ihn an, angstvoll, aber nicht flehentlich. Parker wandte sich von ihm ab und rollte den Koffer wieder auf den Flur hinaus, dann schloss sich die »Nur Ausgang«-Tür mit einem Klicken hinter ihm.