Von einem Münztelefon in Houston rief Parker einen Bekannten namens Mackey an, und es meldete sich dessen Freundin Brenda.
»Ist Ed da?«
»Irgendwo«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass er Arbeit sucht.«
»Ich hab auch keine. Ich brauche einen Namen.«
»Für Sie oder für jemand anders?«
»Beides«, sagte Parker. »Vielleicht könnte er mich um — Moment mal —, um zwei Uhr Ihrer Zeit anrufen.«
»Sie sind in einer anderen Zeitzone?«
»Ja«, sagte er und gab ihr die Nummer eines anderen Münztelefons.
»Ich richte’s ihm aus«, versprach sie. »Wie geht’s so bei Ihnen?«
»Viel zu tun«, sagte er, legte auf und zog in seinem priesterlichen Habit los, um bei neun Banken die Bareinzahlungen des Tages vorzunehmen und anschließend weitere Beträge auf die Konten in Galveston zu transferieren.
Um drei zog er sich um und fuhr zu dem zweiten Münztelefon, das an einer Tankstelle auf einen Pfosten montiert war, nicht weit vom Druckluftbehälter. Er hielt vor der Druckluftanlage, stieg aus, ging zu dem Telefon, und es klingelte.
Ed Mackey klang munter, wie immer. »Brenda sagt, du brauchst einen Namen.«
»Du hast mal einen gekannt, in Texas oder so, der mir einen beschaffen könnte.«
»Ich weiß, wen du meinst«, sagte Mackey. »Ich glaube allerdings, er ist auf spanische Namen spezialisiert. Leute, die ihr Geld nach Norden bringen wollen.«
»Spielt keine Rolle«, sagte Parker.
»Okay. Er sitzt in Corpus Christi, steht dort im Telefonbuch, nennt sich Julius Norte.« Er sprach den Nachnamen spanisch aus.
»Julius Norte«, wiederholte Parker.
Mackey lachte. »Vielleicht war er selber sein erster Kunde.«
»Könntest du ihn anrufen? Und ihm sagen, dass Edward Lynch vorbeikommt?«
»Klar. Wann?«
»Irgendwann morgen.« Als Parker am nächsten Tag seine Bankgeschäfte erledigt hatte, fuhr er die dreihundert Kilometer nach Corpus Christi, zum südlichsten texanischen Hafen am Golf, in nächster Nachbarschaft zu Mexiko und Südamerika.
Der Corpus Christi International Airport liegt gleich westlich der Stadt, man erreicht ihn von der Interstate 37 über die Corn Products Road, und dort in der Nähe suchte er sich ein Motel für die Nacht. Ein örtliches Telefonbuch der Southern Bell befand sich in der untersten Nachttischschublade, und Julius Norte stand drin. Parker wählte die Nummer, und ein Anrufbeantworter meldete sich: »Sie haben die Nummer von Poco Repro gewählt. Das Büro ist zur Zeit nicht besetzt. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Wir rufen Sie zurück.« Dann dieselbe Ansage auf spanisch.
»Edward Lynch«, sagte Parker und rasselte seine Telefon- und seine Zimmernummer herunter. Dann fand er in dem Telefonbuch eine Karte, auf der die örtlichen Restaurants verzeichnet waren, hatte sich aber noch nicht entschieden, als das Telefon klingelte. Julius Norte war also doch zu Hause und hörte seine Anrufe ab.
»Ja.«
»Mr. Lynch?«
»Ja.«
»Ein Freund von Ihnen hat Ihren Anruf angekündigt.«
»Ed Mackey.«
»Genau der. Wo sind Sie?«
»Beim Flughafen.«
»Möchten Sie jetzt kommen?«
»Ja.«
»Wissen Sie, wo der Padre Island Drive ist?«
»Den finde ich schon.«
»Okay«, sagte Norte, gab Parker eine knappe, präzise Beschreibung, und Parker folgte ihr und fand sich in einem Viertel wieder, das überall im Süden oder Westen der Vereinigten Staaten hätte sein können, von Mobile bis Los Angeles: kleine, ebenerdige, in Pastellfarben getünchte Häuser ohne Garage und Veranda, ein bisschen schäbig, auf kleinen, verwilderten Parzellen ohne einen Baum oder einen größeren Busch weit und breit.
Das Haus, das Parker suchte, stand an einer Straßenecke und hatte einen Carport an der der Kreuzung abgewandten Seite. Die erste Überraschung war der Wagen in dem Carport: ein glänzendschwarzer Infiniti mit dem Wunschkennzeichen 1NORTE1, ein Wagen, der mehr kostete als alle anderen Fahrzeuge in dem Häuserblock zusammen.
Parker stellte den Taurus am Bordstein ab und ging über den rissigen Betonweg zu der kleinen Treppe am Eingang. Über dem Klingelknopf hing an einem kleinen Haken ein Schild mit der Aufforderung »Klingeln und reinkommen«.
Parker wusste jetzt mehrere Dinge. Norte wohnte hier nicht. Es war ihm egal, wer durch diese Tür kam. Und er war reicher als seine Nachbarn.
Er klingelte wie geheißen, öffnete die Tür und stand in einem Raum, der früher einmal das Wohnzimmer gewesen war, jetzt jedoch als Büro diente. An einem der beiden Schreibtische, dem hinten links, der mit der Seite an der Wand unter dem Fenster stand, einem schlichten grauen Metallrechteck, saß ein Mann, der eine fotonovela weglegte, um Parker von Kopf bis Fuß zu mustern. Er sah aus wie ein berühmter TV-Ringer: langes, fettiges, gewelltes schwarzes Haar, der Hals breiter als der Kopf, ein enganliegendes schwarzes T-Shirt über dem durch Gewichte aufgepumpten Oberkörper. Seine Nase war plattgedrückt, der Mund breit, die Augen klein und dunkel unter vorspringenden Augenbrauen. Der Blick, mit dem er Parker maß, war neutral, aber erwartungsvoll, wie der eines Wachhundes.
Der andere Schreibtisch, weiter rechts und näher an der Tür, war ein ganz anderes Kaliber, ein aufwendiges Stück aus hellem Mahagoni, das sanft im Licht schimmerte. Schreibunterlage aus grünem Filz, Tischlampe aus Messing und eine teure Schreibtischgarnitur, Familienfotos in Lederrahmen — alles da.
Und auch der Mann an dem Schreibtisch hatte alles. Er trug ein weißes Guayaberahemd, das seine Bräune zur Geltung brachte, und auf dem Kopf hatte er ein gutes Toupé, hellbraun, mittellang, hübsch gewellt. Sein höfliches, sympathisches Gesicht hatte den glatten, unverbindlichen Ausdruck, wie ihn mehrfache Schönheitsoperationen erzeugen, und als er aufstand, um seinen Besucher mit einem Lächeln zu begrüßen, war es, als lächelte er für jemand anders noch weiter. »Mr. Lynch«, sagte er.
»Mr. Norte«, sagte Parker und schloss die Tür hinter sich.
Norte kam um den Schreibtisch herum und reichte Parker seine kräftige Arbeiterhand, die durch keine Schönheitschirurgie veredelt worden war und deshalb ehrlicher war, was seine Herkunft betraf. Parker schüttelte sie, und Norte zeigte auf einen braunen Ledersessel vor dem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Mr. Lynch«, sagte er. »Erzählen Sie. Unserem Freund Ed geht es gut?«
»Das hat er mir nicht verraten«, sagte Parker.
Norte schenkte ihm ein rasches Lächeln, während sie einander gegenüber Platz nahmen. Der Wachhund las wieder in seinem Fotoroman. »Kommen wir gleich zur Sache?«
»Nichts dagegen«, sagte Parker, sah sich aber noch einmal um. Graue Auslegeware, ein paar beige Aktenschränke, eine geschlossene Tür gegenüber dem Eingang. An der Wand der Kalender einer Papierfabrik und ein paar Diplome. »Sie nennen Ihre Firma Poco Repro«, sagte er. »Was ist das?«
»Eine Druckerei«, erklärte Norte. »Überwiegend Jahrbücher, Geschäftsberichte, Bankettprogramme. Mehr Hispanisches als Englisches. Aber so etwas brauchen Sie ja nicht.«
»Nein«, bestätigte Parker. »Ich brauche eine Identität.«
»Wie gut?«
»Echt. Gut genug, um ein Auto zu kaufen oder ein Darlehen aufzunehmen. Ich brauche sie aber nicht ewig.«
Norte nickte. Ein dicker goldener Füller lag auf der grünen Schreibunterlage vor ihm. Er rollte ihn mit den Fingern hin und her und sagte: »Echt ist das Teuerste, müssen Sie wissen.«
»Ja, weiß ich.«
»Für wie lange Sie den Namen brauchen, spielt keine Rolle; Sie können ihn nicht weiterverkaufen, ja nicht einmal zurückgeben. Wenn Sie ihn einmal haben, gehört er Ihnen.«
Parker zuckte die Achseln. »In Ordnung.«
»Legen Sie Wert auf die Vorgeschichte?«
»Es reicht mir, wenn der Name in keinem Papier steht.«
»Wird er natürlich nicht.« Norte überlegte und schaute dabei an Parker vorbei zum Vorderfenster. »Die Sozialversicherung wird nicht echt sein«, sagte er. »Ich bekomme keine legitime Nummer, die in deren System funktioniert.«
»Das dürfte kein Problem sein«, sagte Parker.
»Ich denke an Freunde von mir«, sagte Norte, »Eingebürgerte. Wäre das okay?«
»Ich brauche einen Namen, der zu mir passt.«
»Ja, klar, das weiß ich. Könnten Sie Ire sein?«
»Ja, könnte ich.«
»Viele Iren sind nach Südamerika ausgewandert«, sagte Norte, »im neunzehnten Jahrhundert. Es ging ihnen gut, die Namen sind erhalten geblieben. In Bolivien und auch in anderen Ländern kann man einem José Harrigan oder einem Juan O’Reilly begegnen.«
»›Juan‹ kann ich nicht gebrauchen«, sagte Parker.
»Manche Vornamen sind hier wie dort gebräuchlich«, sagte Norte. »Oscar. Gabriel. Leon. Victor.«
»Gut.«
»Und bis wann würden Sie ihn brauchen?« fragte Norte, doch bevor Parker antworten konnte, lachte er und sagte: »Schon gut, das war keine intelligente Frage. Sie hätten ihn gern so bald wie möglich, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wohnhaft in Texas?«
»Das wär das beste«, sagte Parker.
»Und für mich am einfachsten. Sie brauchen also einen Führerschein und eine Geburtsurkunde. Pass auch?«
»Nein.«
»Jetzt überraschen Sie mich«, gab Norte zu. »Bei den meisten ist der Pass das Wichtigste.«
»Meine Probleme sind innenpolitisch«, sagte Parker.
Norte lachte. »Also gut, Mr. Lynch. In drei Tagen können Sie wahrscheinlich aufhören, Mr. Lynch zu sein. Ist das in Ordnung?«
»Ja«, sagte Parker.
»Andererseits«, sagte Norte, »so lange sind Sie ja gar nicht Mr. Lynch gewesen, stimmt’s? Foto haben Sie keins mitgebracht?«
»Nein.«
»Das können wir hier machen«, versicherte Norte. »Die andere Frage ist das Geld.«
»Ich weiß.«
»Führerschein, Geburtsurkunde, beides mit legitimen Quellen. Zehntausend. In bar natürlich.«
»Ich liebe Bargeld«, sagte Parker.
»Heutzutage ist so wenig davon in Umlauf«, sagte Norte. »Bezahlen müssten Sie im voraus. Tut mir leid, aber so ist es am besten.«
»Sind Sie in einer halben Stunde noch hier?« fragte Parker.
»Wenn Sie es auch vorhaben«, sagte Norte.
Parker stand auf. »Freut mich, Sie kennengelernt zu haben«, sagte er.
»Ganz meinerseits, Mr. Lnych.«