Am Freitag rief Parker aus einem anderen Motel in Corpus Christi Norte an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Poco Repro. Norte rief umgehend zurück. »Alles fertig, Mr. Lynch«, sagte er.
»Ich komme gleich vorbei.« Parker fuhr zu Nortes Haus, doch als er um die Ecke bog, sah er einen schwarzen Chevy Blazer davor stehen, aus dessen Auspuff weißer Qualm kam. Parker hielt nicht an, sondern fuhr vorbei und sah, dass in dem Blazer nur der Fahrer saß, ein untersetzter Mann in einem weißen Hemd, mit dem dichten schwarzen Haar und dem flachen Gesicht eines Maya-Indios. Er schaute geradeaus, hatte die Hände auf dem Lenkrad und wartete geduldig.
Ein anderer Kunde war bei Norte. Parker fuhr weiter und bog um die nächste Ecke. Er wollte nicht, dass Nortes andere Kunden ihn sahen, und wahrscheinlich wollten sie auch ihm nicht begegnen.
Er fuhr zehn Minuten in der Gegend herum, aber als er zurückkehrte, stand der Blazer noch immer vor Nortes Haus. Doch diesmal war der Motor abgestellt, und der Fahrer saß nicht mehr drin.
Parker fuhr langsamer und spähte zu dem Haus hinüber. Das Schild »Klingeln und reinkommen«, das vorhin noch über der Klingel gehangen hatte, war verschwunden.
Etwas war faul. Parker fuhr bis kurz vor dem nächsten Block, parkte und ging zu Fuß zu dem Haus zurück.
Blazer immer noch da, Schild immer noch weg. Durch die Fenster niemand zu sehen. Er ging auf das Haus zu und links herum zu dem Carport. Der Infiniti stand da, wie beim letztenmal. Zwischen dem Auto und dem Haus war gerade so viel Platz, dass er sich hindurchzwängen und durch das hohe Fenster über Bobbys Schreibtisch schauen konnte.
Norte saß an seinem eleganten Schreibtisch und telefonierte. Bobby stand mitten im Zimmer, einen automatischen Revolver locker in der Hand. Drei Männer lagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, Handgelenke, Fußgelenke und Mund mit Klebeband umwickelt. Einer von ihnen war der Maya-Fahrer.
Das einzig Richtige war jetzt, wegzufahren und anzurufen. Parker trat von dem Fenster zurück und schob sich seitwärts an dem Infiniti vorbei, doch als er an die vordere Hausecke kam, stand Bobby da und zielte mit dem Revolver auf seine Brust. Mit der anderen Hand machte er eine Bewegung: Mitkommen.
Parker zuckte die Achseln. Er ging an Bobby vorbei zur Haustür und hinein, Bobby dicht hinter ihm.
Norte telefonierte nicht mehr, sondern stand hinter seinem Schreibtisch und wirkte verärgert. »Schlechtes Timing, Mr. Lynch«, sagte er.
»Geben Sie mir die Papiere, und ich bin weg«, sagte Parker.
Zwei der Männer, nicht der Fahrer, verrenkten sich, um zu Parker hinaufzuschauen, nicht als könnte er helfen, sondern als könnte er zusätzlichen Ärger machen. Norte schüttelte mit traurigem Lächeln und gestresstem Blick den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er. »Sie sehen doch, was hier los ist, oder?«
»Unzufriedene Kunden«, mutmaßte Parker.
Aber Norte wehrte ab. »Nein, ich habe keine unzufriedenen Kunden. Was ich habe, ist ein Kunde, der nicht möchte, dass irgendein Mensch weiß, wer er jetzt ist und wie er jetzt aussieht. Und dieses Arschloch hat diese Arschlöcher losgeschickt, damit sie mich und Bobby umlegen.«
»Da hat er die falschen Arschlöcher geschickt«, sagte Parker.
»Jedenfalls muss ich die jetzt aus dem Weg schaffen«, sagte Norte mit einer angewiderten Geste zu den Männern auf dem Boden, »und ich muss ihren Boss erledigen, weil ich diese Scheiße nicht brauchen kann.«
»Das ist nicht mein Problem«, sagte Parker. »Geben Sie mir einfach die Papiere, und ich bin weg.«
»Ich wollte, ich könnte es«, sagte Norte, und es klang, als meinte er es ehrlich. »Aber Sie sind hier Zeuge, oder?«
»Ich bin nie Zeuge«, sagte Parker.
Norte fand das nicht witzig. Er kaute auf der Innenseite seiner Wange herum, dann sagte er: »Ich sag Ihnen was. Wenn ich die Scheiße hier beseitigt habe, rufe ich Ed Mackey an, schildere ihm die Sachlage und frage ihn, was ich seiner Meinung nach tun sollte.«
Parker sah ihn an.
Norte versuchte zu lächeln, während er noch an seiner Wange kaute. Er sagte: »Das geht doch, oder? Ed Mackey kennt Sie.«
»Er kennt mich.«
»Inzwischen«, sagte Norte, »legen Sie sich einfach hier auf den Boden.«
»Klar«, sagte Parker, und im Bücken griff er in sein Hemd. Er verdrehte das Holster nach unten, hob den linken Arm und schoss durch sein Hemd.
Die Kugel traf Bobby irgendwo, es spielte keine Rolle, wo. Das konnte ihn nicht aufhalten, ihn nur für eine Sekunde verwirren; vielleicht lange genug, dass Parker in die Knie gehen, sich umdrehen, den Sentinel hervorziehen und den lauten Knall des Revolvers in diesem geschlossenen Raum hören konnte, was bedeuten würde, dass der Schuss ihn verfehlt hatte. Er riss den Arm hoch, während Bobby zielte, und schoss dem Wachhund ins Gesicht.
Auch das gab ihm noch nicht den Rest, aber er ließ immerhin den Revolver fallen, während seine beiden Hände an sein zerschmettertes Gesicht fuhren. Er torkelte, Parker ließ den Sentinel fallen, schnappte sich den Automatic und sprang auf.
Norte zog einen Revolver mit kurzem Lauf aus einer Schublade, duckte sich tief hinter seinen Schreibtisch und rief: »Fallen lassen!«
»Leck mich«, sagte Parker und zerrte Bobby zu sich, so dass dieser Nortes drei erste Schüsse abbekam. Er hielt den toten Bobby aufrecht vor sich und bewegte sich auf den Schreibtisch zu. Norte, immer noch dahinter versteckt, rief: »Also gut! Ich gebe auf!«
»Legen Sie den Revolver auf den Tisch«, befahl Parker.
Norte blieb hinter dem Schreibtisch außer Sicht. »Wir müssen uns nicht gegenseitig umbringen«, sagte er.
»Wir werden uns nicht gegenseitig umbringen.«
»Ich war nervös, ich war durcheinander, ich war vorschnell. Ed Mackey sagte, Sie wären in Ordnung, daran hätte ich denken sollen.«
»Legen Sie den Revolver auf den Tisch.«
Er war immer noch nicht zu sehen. »Man braucht mich«, sagte er. »Es wird den Leuten nicht gefallen, wenn Sie mich umlegen. Ed Mackey wird es nicht gefallen.«
Parker wartete.
»Ich hab einen Fehler gemacht«, sagte Norte. »Ich war vorschnell.«
Parker wartete.
»Es gibt keinen Grund weiterzumachen.«
Parker wartete.
Nortes Hand tauchte auf, mit dem Revolver. Er legte die Waffe auf die grüne Schreibunterlage und schob sie ein Stück vor.
Parker ließ Bobby auf die Männer am Boden fallen. Er ging um den Schreibtisch herum, hinter dem Norte kauerte und zu ihm aufsah. Mit etwas zittriger Stimme sagte Norte: »Sie brauchen gar nichts zu tun. Ich hab Ihre Papiere. Mittlere Schublade. Sie werden sehen, sie sind perfekt.«
»Her damit.«
Norte stand zögernd auf und sah auf den Revolver, der noch auf dem Schreibtisch lag. »Wollen Sie den nicht einstecken?«
»Wozu? Weil Sie ihn sich sonst grapschen?«
»Nein!«
»Also zeigen Sie her.«
Norte zog die mittlere Schublade auf, nahm einen gelben Umschlag heraus und schüttelte zwei Dokumente auf die Schreibunterlage. Er achtete darauf, dass er dem Revolver nicht zu nahe kam. Mit dem Umschlag in der Hand trat er an die Wand zurück und bedeutete Parker, sich die Papiere anzusehen.
Er hieß Daniel Parmitt, war in Quito, Ecuador, als Sohn amerikanischer Eltern geboren, und seine Geburtsurkunde war in Spanisch. Laut seinem texanischen Führerschein hatte er seinen Wohnsitz in San Antonio. Auf dem Führerscheinfoto wirkte er dank Brille und Schnurrbart nicht so hart.
Er steckte die Dokumente ein und sah sich im Zimmer um. Was hatte er angefasst? Den Teppich, Bobby. Nichts, worauf er Spuren hinterlassen hatte. »Kommen Sie her«, sagte er.
Norte rührte sich nicht. Er befingerte den Umschlag, in dem die Papiere gewesen waren, und sagte: »Es ist ein Missverständnis, es ist alles vorbei. Bobby und ich, wir wollten diese Scheißkerle wegbringen, wir wollten nicht das Büro versauen, und plötzlich waren Sie da — das war zuviel auf einmal, da ist bei mir die Sicherung durchgebrannt.«
»Kommen Sie her«, sagte Parker.
Endlich merkte Norte, dass er noch am Leben war und dass das nicht so bleiben musste. Mit kleinen Schritten kam er an den Schreibtisch, und Parker nahm ihm den Umschlag aus der Hand. »Nehmen Sie den Revolver«, sagte er.
»Nein!«
Parker hielt Norte den Revolver an die Stirn. »Sie werden ihn nicht gegen mich richten«, sagte er. »Sie werden die drei da erledigen.«
»Hier? Wir wollten doch nicht —«
»Bobby versaut Ihnen sowieso schon den Teppich. Die andere Möglichkeit wäre, ich erledige Sie und dann die, und dann geh ich.«
»Aber was —«
»Ed sagt, Sie sind nützlich. Ich sage, Sie sind zu nervös, um zuverlässig zu sein, aber Sie machen gute Arbeit. Wenn Sie vernünftig sind, helfe ich Ihnen, am Leben zu bleiben. Nehmen Sie die Waffe.«
»Und — ich soll sie erschießen?«
»Dafür ist sie da.«
Norte starrte auf die drei Männer hinab. Der Fahrer rührte sich nach wie vor nicht, aber die anderen beiden sahen jetzt zu Norte auf, in der Hoffnung, dass es doch noch anders kommen würde.
Nein. Ganz plötzlich, als wollte er es hinter sich bringen, bevor er darüber nachdenken musste, packte Norte den Revolver, beugte sich über die Männer und schoss jeden in den Kopf. Der Teppich musste mit Sicherheit ausgewechselt werden.
»Weiterschießen«, sagte Parker.
Norte verzog das Gesicht. »Die sind tot. Glauben Sie mir, die sind tot.«
»Schießen Sie weiter.«
Norte schaute auf die Leichen hinunter und schoss ihnen aufs Geratewohl in den Rücken. Eins, zwei, klick; der Revolver war leer.
Parker hielt ihm den Umschlag hin. »Tun Sie ihn da rein.«
Norte runzelte die Stirn und sah Parker prüfend an. »Sie wollen was gegen mich in der Hand haben.«
»Wieso, was denn? Sie können das doch alles hier verschwinden lassen. Mir ist nur eins wichtig: Ich war nie hier.«
Norte brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Wenn’s nur wahr wäre!«
»Wir können es wahr werden lassen. Tun Sie die Waffe hier rein.«
Norte zuckte die Achseln, beugte sich vor und ließ den Revolver in den Umschlag gleiten.
»Stellen Sie sich wieder da drüben an die Wand«, befahl Parker.
Gehorsam zog sich Norte dorthin zurück, wo er zuvor gestanden hatte. Er ließ die Arme hängen, die Handflächen nach vorn, um zu zeigen, dass er nichts probieren würde, aber das wusste Parker bereits.
Parker legte den von der Waffe ausgebauchten schweren Umschlag auf die grüne Schreibunterlage. Er ging um den Schreibtisch herum, fand seinen Sentinel neben Bobbys Füßen und steckte ihn in das Holster zurück. Dann nahm er wieder den Umschlag. Den automatischen Revolver in der einen, den Umschlag in der anderen Hand, ging er rückwärts zur Tür, während Norte sich die Bescherung ansah, die er beseitigen musste. Von seinem Gesicht konnte man nach den vielen Schönheitsoperationen keine Emotionen mehr ablesen, aber man sah sie in seinen Augen.
Etwas mühsam drehte Parker den Türknauf mit der Hand, in der er den Umschlag hatte. Er trat hinaus, ließ die Tür einschnappen, schob den Revolver unter sein Hemd und legte die Hand darauf, wie Napoleon. Doch Norte kam ihm nicht nach, als er wegging. Er hatte genug andere Sorgen.