Die Uhr im Armaturenbrett des Voyager zeigte 7:21 an, als Lesley auf den Besucherparkplatz des Elmer Neuman Memorial Hospital in Snake River fuhr. Perfektes Timing.
Lesley hatte Daniel bisher dreimal besucht und dabei alles erfahren, was sie über die Abläufe in dem Krankenhaus wissen musste. War es das, was Kriminelle als »ausbaldowern« bezeichneten? Beispielsweise wusste sie, dass mit Rücksicht auf Berufstätige bis acht Uhr abends Besuchszeit war. Außerdem wusste sie, dass auf demselben Gang wie Daniel eine alte Frau namens Emily Studworth lag, die offenbar ständig bewusstlos war und nie Besuch bekam. Und des weiteren wusste sie, dass die Belegschaft in diesem Krankenhaus um sechs Uhr abends wechselte.
Lesley stellte den Motor des Voyager ab und schaute im Rückspiegel nach Loretta. »Okay, Loretta«, sagte sie. »Wir gehen da jetzt rein, machen es und kommen gleich wieder raus.«
Loretta saß bereits in dem Rollstuhl, den Lesley in einem Geschäft in Riviera Beach mit Namen Benson’s Sick Room and Party Supplies gemietet hatte. Ihre verdrossene Miene passte perfekt zu dem Rollstuhl; sie war die Idealbesetzung für die Rolle.
Lesley stieg aus, öffnete die Schiebetür, zog die Rampe heraus und bugsierte Loretta mit dem Rollstuhl langsam rückwärts auf den Asphalt. Dann machte sie die Tür zu, schloss den Wagen ab und schob den Rollstuhl über den Parkplatz und die Behindertenrampe zum Haupteingang des Krankenhauses.
Da sie das Krankenhaus zum erstenmal nach sechs Uhr betrat, hatte die für die Besucher zuständige Frau am Empfang sie noch nie gesehen und konnte deshalb nicht wissen, dass sie bis jetzt immer einen Patienten namens Daniel Parmitt besucht hatte. »Emily Studworth«, sagte Lesley.
Die Frau nickte und trug das in ihre Liste ein. »Sind Sie Angehörige?«
»Wir sind ihre Großnichten. Loretta wollte ihre Tante Emily unbedingt noch einmal sehen.«
»Viel Zeit haben Sie nicht. Die Besuchszeit endet um acht Uhr.«
»Das ist schon in Ordnung, wir möchten nur ein paar Minuten bei ihr sein.«
Lesley schob Loretta durch den Gang zu den Aufzügen, und sie fuhren in den zweiten Stock hinauf. Die Leute in der Schwesternstation warfen ihnen nur einen kurzen Blick zu, als sie aus dem Aufzug kamen. Lesley lächelte ihnen zu und schob den Rollstuhl den Gang entlang zu Daniels Zimmer, das im Halbdunkel lag, weil nur ein kleines gelbes Licht an der Wand über dem Bett brannte. Als sie drinnen waren, schloss sie die Tür bis auf einen kleinen Spalt.
Er hatte geschlafen, aber als sie hereinkamen, war er plötzlich wach. Seine Augen glitzerten in dem gelben Licht. Sie schob den Rollstuhl neben das Bett und flüsterte: »Kann’s losgehen?«
»Ja.«
»Hilf mir, Loretta.«
Folgsam stand Loretta aus dem Rollstuhl auf, zog den langen Mantel aus und nahm den Strohhut ab. Sie legte alles aufs Bett, zusammen mit ihrer Handtasche, die sie im Rollstuhl versteckt hatte. Dann halfen sie und Lesley Daniel aus dem Bett.
Er wurde von Tag zu Tag kräftiger, war aber trotzdem noch sehr schwach. Seine Kiefermuskeln spannten sich an und mahlten vor Anstrengung. Er hob die Füße über die Bettkante und kam dann, auf beiden Seiten gestützt, auf die Beine.
»Kannst du allein stehen?« fragte Lesley.
»Ja.« Er sagte es leise durch die zusammengebissenen Zähne.
Er stand unbeweglich, wie ein Baum. Sie zogen ihm den langen Mantel an, über das Krankenhaushemd, das sein einziges Kleidungsstück war, und halfen ihm dann in den Rollstuhl. Er faltete die Hände im Schoß, damit sie nicht auffielen, und Lesley setzte ihm den Strohhut auf.
Unterdessen hatte sich Loretta aufs Bett gesetzt, um ihre mit falschem Pelz besetzten halbhohen Schaftstiefel gegen weiche Pumps auszutauschen, die sie in ihrer Handtasche mitgebracht hatte.
Die Stiefel waren für Loretta zu groß gewesen, aber sie passten Daniel. Der Hut, der lange Mantel und die Stiefel bedeckten ihn von Kopf bis Fuß. Solange er den Kopf gesenkt und die Hände im Schoß hielt, sah er genauso aus wie die Person, die Lesley in dem Rollstuhl hereingefahren hatte.
Mit den blauen Pumps an den Füßen stand Loretta vom Bett auf. Sie trug ein formloses, blau und weiß gemustertes Kleid. »Soll ich jetzt rausgehen?« fragte sie.
Lesley musterte sie. »Vergiss deine Brille nicht.«
»Oh.« Loretta nahm ihre Brille mit der schwarzen Fassung aus der Handtasche und setzte sie auf. Jetzt war sie wieder so eulenhaft und linkisch wie immer.
»Du gehst einfach raus«, sagte Lesley. »Wir kommen in einer Minute nach.«
»Okay.« Nachdem nun nichts Schlimmes passiert war, hatte sich Lorettas Laune beträchtlich gebessert. Fast lächelte sie Lesley zu, und als sie Daniel im Rollstuhl ansah, trat ein besorgter Ausdruck auf ihr Gesicht. »Er sollte hierbleiben«, sagte sie.
»Er weiß schon, was er tut«, beruhigte Lesley sie. »Wir kommen gleich nach.«
Loretta ging hinaus, und Lesley schaute in den Schrank nach Daniels Sachen, doch da war nichts. »Wo sind deine Sachen?« fragte sie verwundert.
»Hat die Polizei behalten.«
»Aha. Tja, dann wollen wir mal.«
Der Weg zurück war einfach, und neben dem Voyager wartete Loretta auf sie. Während sie Parker über den Parkplatz schob, sagte Lesley: »Ich weiß nicht, was Sie morgen abend vorhaben.«
»Ein paar Leute umbringen«, flüsterte er.