Jack hatte wirklich viel übrig für seine neue (alte) Frau Alice, er war ihr herzlich zugetan und wusste außer ihrem Geld auch anderes an ihr zu schätzen, obwohl das Geld natürlich an erster Stelle gestanden hatte. Anfangs war es sogar nur ein Scherz gewesen, als er Alice Prester Habib oben in New Jersey kennengelernt hatte, wo er als Schadensregulierer für die Versicherung Utica Mutual gearbeitet hatte. Als er merkte, dass diese spezielle Versicherungsnehmerin scharf auf ihn war, hatten sie zunächst im Büro nur Witze darüber gerissen.
Den Floh ins Ohr gesetzt hatte ihm eine ältere Frau in der Firma, eine Datentypistin namens Maureen. »Du könntest es schlechter treffen«, hatte sie gesagt, und als Jack es sich überlegte, kam er darauf, dass er es tatsächlich schlechter treffen konnte. Um ein Haar war ihm das schon zwei- oder dreimal passiert.
Es war damals fast ein Jahr her gewesen, dass er mit seiner letzten festen Freundin Schluss gemacht hatte, oder genauer gesagt, sie mit ihm. Sein Leben war ein bisschen langweilig, immer dasselbe, tagaus, tagein, und der Gedanke, ihm auf diese wirklich ungewöhnliche, ja unerhörte Weise eine ganz neue Richtung zu geben, sagte ihm immer mehr zu. Das Geld nicht zu vergessen.
Tatsache war aber: Alice war in Ordnung. Klar, sie war älter als seine Mutter, fast älter als seine Großmutter, aber sie hielt sich in Form wie ein Footballspieler der Nationalliga, und sie war in einem Alter, in dem sie keinerlei Hemmungen im Bett mehr hatte. Dieser Teil war also wirklich nicht übel, und was den Rest anging … Dass die Leute sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten und das Wort »Gigolo« ständig in der Luft zu liegen schien — selber schuld, wenn die keinen Spaß verstanden.
Tatsache war auch: einmal Versicherungsmensch, immer Versicherungsmensch, und Jack wusste genau, dass er a) laut Ehevertrag Alices Alleinerbe war und sie b) wahrscheinlich um vierzig bis fünfzig Jahre überleben würde. Vierzig bis fünfzig reiche Jahre.
Er musste also nur aufmerksam sein, im Bett und außerhalb, und im übrigen Diskretion walten lassen. Als beispielsweise er und Alice am Donnerstag abend, dem Abend vor der Auktion, den großen Ballsaal im Breakers betraten, mit den hohen glitzernden Spiegeln, in denen sich die vornehme Gesellschaft spiegelte, den strahlenden Kronleuchtern, den swingenden Oldies der Band, die von der hohen Decke widerhallten, und dem Gewühl der feiernden Menschen in ihren Kaskaden bunter Farben, ihrem schimmernden Gold- und blinkenden Silberschmuck und ihren glitzernden Juwelen, war die erste Person, die er wahrnahm, Kim Metcalf, und doch hatte er für sie kaum ein Lächeln übrig. Auch sie mit ihren intelligenten blauen Augen unter einer Wolke toupierten Blondhaars nickte nur kurz und unpersönlich, ein Nicken, das Alice ebenso galt wie ihm, bevor sie weiterging, am Arm ihres Ehemanns Howard, eines Steueranwalts im Ruhestand, den sie als Stewardess auf einem Erster-Klasse-Flug von New York nach Chicago kennengelernt hatte. (Sie war im Grunde ihres Herzens noch immer so sehr Stewardess, dass sie nach wie vor die Bezeichnung »Flugbegleiterin« vorzog.)
Während die Metcalfs weitergingen, löste Jack heroisch den Blick von Kims wippendem Hinterteil in dem schimmernden hellblauen Satin, aber insgeheim sagte er sich: Samstag. Das Apartment in einer der Eigentumswohnanlagen, von dem Alice nie erfahren würde und wo Kim und er sich ein- bis zweimal die Woche trafen, tauchte plötzlich vor seinem inneren Auge auf. Kim hatte einen weicheren Körper als Alice, was auch nett war, doch inzwischen ging es ihnen beiden hauptsächlich darum, sich mit jemandem unterhalten zu können, dessen Gedächtnisspeicher nicht schon voll gewesen war, bevor man selbst geboren wurde.
Jack wandte sich von der Versuchung ab und Alice zu und fragte: »Möchtest du tanzen, Liebste, oder zuerst mit Leuten reden?«
»Wir tanzen, Liebster«, entschied sie. »Mit Leuten reden können wir immer noch.«
Wo sie recht hatte, hatte sie recht.
Die frische rote Farbe auf den Türen des Löschzugs war trocken, und nun stand auf den Türen nicht mehr
Feuerwehr Crystal City
Wagen Nr. 1
Gut, dass Crystal City, ein dünnbesiedeltes Gebiet drunten bei Homestead, auch einen Wagen Nr. 2 hatte, sonst wären die guten Leute dort in den Arsch gekniffen gewesen, wenn in den nächsten zwei Tagen irgendwo in der Stadt ein Brand ausgebrochen wäre. Es war eine freiwillige Feuerwehr, wie so oft in der Pampa, deshalb befand sich nie jemand in oder in der Nähe der kleinen Backstein-Feuerwache, außer wenn es brannte oder eine Versammlung stattfand. Es war daher um fünf Uhr früh ein Klacks gewesen, die Alarmanlage kurzzuschließen, sich in die Feuerwache zu schleichen und mit dem alten Wagen Nr. 1 auf die Straße hinauszudonnern. Bis irgend jemand den Löschzug vermisste, würden Melander, Carlson und Ross ihn nicht mehr brauchen.
Um neun Uhr abends, als oben im Breakers der Ball schon in vollem Gang war, stand Ross neben der Fahrertür von Wagen Nr. 1, eine offene Dose goldfarbenen Lack in der linken Hand und einen feinen Pinsel Nr. 5 von M. Grumbacher in der rechten, und Melander leuchtete ihm mit der Taschenlampe. Der Löschzug stand jetzt auf dem Rasen rechts vom Haus, von außerhalb des Grundstücks nicht zu sehen. Ross, der sich während des ersten seiner beiden Aufenthalte im Knast zu einem passablen Schildermaler hatte ausbilden lassen, beugte sich zu der Tür vor und malte den ersten senkrechten Strich, dann die Schleife nach rechts:
P
Farleys Frau hatte gelernt, bei den nächtlichen Anrufen weiterzuschlafen, und Farley hatte sich antrainiert, gleich beim ersten Klingeln aufzuwachen. Seine Hand kam unter der Bettdecke hervor und nahm den Hörer ab, bevor seine Augen sich vollständig auf die Nachttischuhr fokussiert hatten: 1:14. Es hatte schon Schlimmeres gegeben.
»Farley.«
»Higgins hier, Sergeant.« Einer der Hilfssheriffs, die im Büro Nachtschicht machten. »Wir haben hier einen Bericht, dass im Krankenhaus ein Patient abgängig ist.«
»Parmitt«, sagte Farley.
»Richtig, Daniel Parmitt. Der Nachtdienst hat eben angerufen. Die haben den üblichen letzten Kontrollgang durch alle Zimmer gemacht, und der Mann ist verschwunden.«
Wie? Parmitt konnte nicht einfach rausgehen, dazu war er gar nicht in der Lage. Jemand hatte ihm geholfen. Die Immobilientante? »Haben Sie jemand hingeschickt?« fragte Farley.
»Jackson und Reese.«
»Rufen Sie sie an, sagen Sie ihnen, ich bin unterwegs.« Sie würden dort nichts finden. Trotzdem, er musste es sich ansehen.
Verdammt. Wir hätten doch gestern die Fingerabdrücke nehmen müssen.
Um zwei Uhr morgens fuhr er mit dem gemieteten Buick Regal nach Snake River hinein. Er würde in einer Stunde fertig sein, dann zum Miami International zurückfahren, frühstücken, mit der Morgenmaschine nach Westen fliegen und am Nachmittag in seinem eigenen Pool schwimmen.
Die Frau, von der er ein- bis zweimal im Jahr seine Aufträge bekam, war Anwältin in Chicago. Am Telefon sprachen sie vorsichtig miteinander, trafen sich so gut wie nie persönlich, und wenn er nicht gerade einen Auftrag zu erledigen hatte, führte er ein sehr zurückgezogenes Leben und schrieb gelegentlich Plattenkritiken für Musikzeitschriften. Wenn er einen Auftrag ausführte, hatte er einen anderen Namen, andere Papiere, eine andere Kreditkarte, alles anders. Ein anderer Mensch. Er hörte nicht einmal Musik, als er von Miami in südlicher und westlicher Richtung fuhr.
Die Anwältin in Chicago hatte ihm gesagt, es sei zwar kein brandeiliger Auftrag, aber wozu es auf die lange Bank schieben? Fliegen Sie hin, machen Sie’s, fliegen Sie zurück. »Ich muss mich nur darauf verlassen können«, hatte die Anwältin gesagt, und er hatte »Können Sie« gesagt, denn wenn man ihn anheuerte, heuerte man den Besten an. Das war in den letzten zwölf Jahren jedes einzelne Mal so gewesen.
Offenbar hatte der Klient, wer immer es war, beim erstenmal eine Niete gezogen, Leute hingeschickt, die die Sache versiebt hatten, so dass die Zielperson zwar im Krankenhaus lag, aber noch am Leben war. Und der Klient wollte unbedingt, dass die Zielperson nicht einfach bloß krank war; er wollte, dass aus dieser Zielperson eine verblassende Erinnerung wurde.
Er hatte noch nie ein Zielperson gehabt, die im Krankenhaus lag. Und das ohne Bewachung rund um die Uhr, ohne ständige Polizeipräsenz. Es war fast zu leicht, fast war es ihm peinlich, das volle Honorar dafür zu nehmen. Allerdings nur fast. Trotzdem, es sah kaum nach einer Arbeit für einen erwachsenen Mann aus, und er musste sich selbst gut zureden, als er in einer Seitenstraße drei Häuserblocks von dem Krankenhaus parkte, um den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass alle Aufträge ernst zu nehmen waren, auch wenn dieser eine ihm so schwierig vorkam wie auf Enten in einer Regentonne zu schießen. Er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass jeder Fehler ernste Folgen haben konnte und dass die meisten Fehler passierten, weil man sich seiner Sache zu sicher war. Er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass er auch bei diesem Auftrag so vorgehen musste, als könnte die Sache gefährlich werden.
Er näherte sich dem Krankenhaus schräg von der Seite, über die Parkplätze. Er war schlank und hochgewachsen und ganz in Schwarz. Eine Beretta befand sich in einem Holster, das er sich hinten in den Gürtel gesteckt hatte, die andere hatte er in seinem linken Stiefel. Der rechte Stiefel barg sein Wurfmesser. Darüber hinaus war er unbewaffnet, abgesehen von den Kampfsportarten, die er beherrschte; er nahm nie mehr Waffen mit, als für den jeweiligen Auftrag nötig waren.
Der Haupteingang des Krankenhauses und die Notaufnahme links um die Ecke waren hellerleuchtet, aber der Liefereingang auf der rechten Seite war dunkel bis auf eine kleine kugelförmige Lampe über der Tür. Die Tür war nicht verschlossen — notfalls hätte er das Schloss geknackt. Er ging hinein und über die Betontreppe in den ersten Stock, bevor er einen Gang betrat. Als erstes brauchte er einen Operationssaal.
Er mied die hellerleuchteten Schwesternstationen, lief durch die Gänge und fand schon bald, was er suchte. Im Waschraum nebenan waren mehrere Garnituren grüner Operationskittel und -hosen. Er nahm die größte und zog sie über seine Sachen an; so konnte er sich ungehindert bewegen, obwohl er Leuten trotzdem aus dem Weg gehen würde.
Es war nicht möglich gewesen, im voraus die Zimmernummer der Zielperson zu ermitteln, also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Gänge abzulaufen und nach den Patientennamen auf den Schildern neben den Türen zu schauen. Wie lange konnte das dauern? Eine halbe Stunde?
Weniger. Eine Viertelstunde nachdem er das Krankenhaus betreten hatte, kam er im zweiten Stock an die Tür mit dem Schild »Parmitt« und ging hinein, ohne seinen Schritt zu verlangsamen oder sich umzusehen. Nie stehenbleiben und unschlüssig wirken, das erregt Aufmerksamkeit.
Die Zielperson schlief vermutlich; wahrscheinlich würde das Messer reichen. Er ging durch das halbdunkle Zimmer zum Bett und wollte sich gerade bücken, um das Messer aus dem Stiefel zu ziehen, als er merkte, dass das Bett leer war.
Bad? Irgendwelche Untersuchungen oder Anwendungen konnten es um diese Uhrzeit nicht mehr sein. Er schaute sich um, sah die geschlossene Badezimmertür und ging um das Bett herum.
Er war fast schon beim Bad, als hinter ihm jemand hereinkam und sagte: »Doktor, es wär uns lieber, wenn hier nichts angefasst wird — was soll das eigentlich, wir können doch Licht machen.«
Er fuhr herum, während die Neonlampen an der Decke angingen, sah den schlaksigen Mann in der hellbraunen Sheriffuniform in der Tür stehen und dachte: Ich kann ja ein Arzt sein. In dreißig Sekunden bin ich hier raus.
»Wie Sie meinen, Sheriff«, sagte er verbindlich lächelnd und ging auf die Tür zu.
Doch der Sheriff runzelte plötzlich die Stirn. »Was tragen Sie denn da unter Ihrem Kittel?«
Auf eine genaue Betrachtung war er nicht gefasst. »Nur mein Hemd, Sheriff«, sagte er, bückte sich bereits zu dem Stiefel mit der Beretta und redete lässig weiter: »Abends friere ich leicht.«
»Halt«, sagte der Sheriff. Er hatte ganz plötzlich seine Waffe hervorgeholt und hielt sie im klassischen beidhändigen Anschlag mit gebeugtem Knie. »Wieder hochkommen, mit leeren Händen«, befahl er.
Er wagte es nicht, sich noch tiefer zu bücken, aber er richtete sich auch nicht auf. »Was soll das, Sheriff?«
»Ich treffe mein Ziel immer«, sagte der Sheriff. »Und im Moment ziele ich auf Ihr Knie.« Dann rief er laut: »Reese! Jackson!«
Er hörte Schritte, die sich rasch näherten. »Sheriff?« sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie für ein Problem —«
Zwei uniformierte Hilfssheriffs erschienen in der Tür, der eine weiß, der andere schwarz; beide versuchten, nicht aufgeregt zu wirken. Der Schwarze fragte: »Sergeant? Wer ist das?«
»Beweisstück eins«, sagte der Sheriff. Die Hände, die seinen Automatic hielten, waren starr wie ein Fels. »Durchsucht ihn nach Waffen.«
Er dachte: Kann ich durchs Fenster springen? Dickes Glas. Entweder pralle ich ab, oder ich sterbe an meinen Schnittwunden. Zweiter Stock. Die sind zu dritt; was tun?
Die Hilfssheriffs näherten sich ihm, aber so, dass sie ihrem Sergeant nicht in die Schusslinie gerieten. Der Sergeant sagte: »Falls ihr auf das Arschloch schießen müsst, zielt auf die Beine. Den brauchen wir lebend.«