Wenn er sich nicht anstrengte, waren die Schmerzen in der Brust nur lästig, ein leises Grollen, wie ferner Donner. Doch wenn er sich bewegen musste, und sei es nur, um sich eine Hose anzuziehen, durchfuhr ihn der Schmerz wieder mit voller Wucht, als sei er ganz frisch, als hätte ihn die Kugel eben erst getroffen und nicht schon vor einer Woche. Aber schlimmer als der Schmerz war für ihn seine Schwäche, vor allem in den Beinen. Er war es nicht gewöhnt, derart erschöpft zu sein; immer wieder hoffte er, es gehe besser, und immer wieder versagten ihm seine Beine den Dienst.
Um in das Haus zu gelangen, musste er über den Fenstersims klettern, und das war der schlimmste Teil. Er fand den Saugnapf, wo er ihn versteckt hatte, zog damit das kreisförmige Stück Glas, das er aus der Fensterscheibe herausgeschnitten hatte, wieder heraus, griff durch das Loch und öffnete das Fenster. Er musste sich tief herabbeugen, um das Stück Glas innen an die Wand zu lehnen. Seine Atmung war ohnehin behindert wegen der Bandagen um seinen Brustkorb, und durch den plötzlichen Druck bekam er noch weniger Luft. Er atmete mit einem hörbaren Rasseln, das er nachher im Haus würde unterdrücken müssen.
Er hievte sich mit zusammengebissenen Zähnen über den Fenstersims, wurde nicht ohnmächtig, musste sich aber rücklings auf den Boden legen, bis der Schmerz nachließ und sein Atem sich wieder halbwegs normalisierte. Dann stand er auf, ließ den Saugnapf ins Gebüsch fallen, schloss das Fenster und setzte das Glasstück wieder ein.
Er hatte etwas Zeit, um das Haus zu durchsuchen, aber nicht viel. In der Garage gab es zwei Veränderungen: Der weiße Bronco war da, derselbe, den sie für den Bankraub benutzt hatten, und die Feldkiste, in der er die Waffen gefunden hatte, war geöffnet und leer. Hatten sie die Waffen mitgenommen?
Nein. Alle sechs lagen auf dem Esszimmertisch, die drei Revolver und die drei Schrotflinten. Der Sentinel klebte noch unter der Tischplatte. Er ließ ihn dort; was er erledigen musste, würde er auf andere Art erledigen.
Im Wohnzimmer war die Alarmanlage eingeschaltet worden. Die Warnleuchte glomm rot, doch Parker hatte sie so eingestellt, dass sie bei einem Einbruch nicht reagierte. Und in der Küche war der Kühlschrank jetzt voll, ebenso die Regale. Also hatten sie vor, ein paar Tage hierzubleiben, bis sich die Aufregung gelegt hatte, und das war schlau.
Parker ging langsam durch das Haus, registrierte alle Veränderungen und lehnte sich ab und zu an eine Wand, wenn ihm die Kräfte schwanden. Zum Schluss kam er in den großen leeren Raum mit dem Klavier in der Ecke und den Glastüren auf der Meerseite. Draußen auf dem Wasser bewegten sich jetzt Lichter hin und her, Polizeiboote mit Suchscheinwerfern, die in alle Richtungen ausschwärmten wie Hunde, die eine Witterung verloren haben. Die drei waren also auf dem Landweg an den Schauplatz gelangt, in einem Feuerwehrauto oder irgendeinem anderen Dienstfahrzeug, aber entkommen waren sie auf dem Wasserweg.
Bald würden sie hier eintreffen. In einem Boot? Oder als Taucher? Wahrscheinlich tauchten sie.
Er hatte nicht viel Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Er brauchte etwas, wo er sicher war, von wo aus er sich aber auch bewegen konnte. Er ging in den ersten Stock hinauf, probierte alle Türen und fand eine Treppe, die auf den Dachboden führte. Sie war mit schwarzem Nadelfilz belegt und knarrte nicht.
Der Dachboden war als Vorführraum eingerichtet worden, wahrscheinlich von den beiden Filmstars, doch später waren die Projektoren und sonstigen Geräte wieder ausgebaut worden, so dass nur noch zwei Dutzend gepolsterte Drehstühle vor einer an der Wand befestigten Leinwand standen. Der Raum hatte aussehen sollen wie ein Kino aus den dreißiger Jahren, mit Art-déco-Leuchten und dunkelroten Textiltapeten. Die drei hatten keinen Grund, hierherauf zu kommen, also würde Parker hier warten, bis sich eine Gelegenheit ergab, sie kaltzustellen.
Er stieg wieder in den ersten Stock hinab und ging durch eines der Schlafzimmer auf den Balkon hinaus. Immer noch bewegten sich Lichter in der dichten Dunkelheit hin und her, doch Parker wusste, dass die Polizeiboote zu weit draußen suchten, wahrscheinlich, weil sie ein Boot zu finden hofften. Aber die drei hielten sich auf ihrem Rückweg — ohne Boot — natürlich dicht am Ufer.
Er setzte sich auf eine der Liegen, legte die Beine hoch und sah den Lichtern draußen auf dem Wasser zu. Solange sie sich noch so ruhelos bewegten, waren Melander, Carlson und Ross noch nicht geschnappt worden. Sie hatten also gute Arbeit geleistet und waren jetzt mit Schmuck im Wert von zwölf Millionen Dollar auf dem Weg zu Parker.
Es tat gut, ein Weilchen hier zu sitzen, nach dem anstrengenden Gang durchs Haus, aber er wollte es sich nicht zu gemütlich machen und womöglich einschlafen. Schlafen konnte er später.
Die schwache Taschenlampe hatte sich schon ein, zwei Minuten über den Strand bewegt, als sein Verstand ihm sagte, was seine Augen sahen. Ein kleines Licht, schwächer und diffuser als die Suchscheinwerfer draußen auf dem Meer, näherte sich vom Wasser her diesem Strandabschnitt. Die drei?
Einer von ihnen. Und es war keine Taschenlampe, sondern eine Stirnlampe. Die Gestalt selbst war schwarz und kaum zu sehen, als sie sich über den Sand näherte. Der Mann mit der Lampe verschwand aus Parkers Blickfeld, wahrscheinlich, weil er schon fast die Mauer an der Grundstücksgrenze erreicht hatte, dann hörte er das laute Quietschen, als das Tor am Fuß der schmalen Betontreppe geöffnet wurde.
Da kam die Stirnlampe die Treppe zur Terrasse herauf. Und draußen näherten sich jetzt auch zwei weitere Lampen vom Meer her.
Sie hatten es alle drei geschafft. Parker stand auf und zog sich zur Tür zurück, bereit, wieder hineinzugehen.
Der erste Mann blieb unten auf der Terrasse stehen und nahm sich etwas Großes vom Rücken. Eine Pressluftflasche. Jetzt kamen auch die anderen beiden herauf und entledigten sich ebenfalls ihrer Pressluftflaschen. Der erste sagte etwas, es war Melander: »Habt ihr den Delphin gesehen?«
»Nein. Was für einen Delphin?« Das war Carlson, der Fahrer.
»Er ist direkt vor uns vorbeigeschwommen.«
»Du warst uns ein Stück voraus, hast irgendwie ein Wettrennen draus gemacht.«
»Ich wollte zurück.«
Ross, der dritte, sagte: »Morgen früh müssen wir den Sand da unten fegen.«
»Warum?« wollte Carlson wissen.
»Siehst du die Lichter? Die bleiben bis Tagesanbruch da draußen, und wenn sie sicher sind, dass wir nicht von einem Boot aufgenommen wurden, werden sie zurückkommen und die ganze Insel absuchen, und dabei werden sie vor allem nach Fußspuren suchen, die aus dem Wasser kommen.«
»Jerry, du hast recht«, sagte Melander. »Ich hätte da nicht dran gedacht, und dann wären wir morgen früh am Arsch.«
»Beim ersten Morgengrauen wird auch die Polizei ausschwärmen, und dann beobachten sie uns womöglich beim Kehren. Wir müssen es jetzt gleich machen.«
»Ich zieh mir nur den Taucheranzug aus«, sagte Melander. »Dann mach ich alles, was ihr wollt.«
Sie nahmen ihre Pressluftflaschen und gingen aufs Haus zu. Sie waren von Parkers Standort aus schon fast nicht mehr zu sehen, und er wollte gerade hineingehen, als plötzlich alle das Quietschen des Tors unten hörten, das gleich wieder verstummte.
Melander war schnell. Er hielt sich nicht lange mit der Treppe auf, sondern rannte einfach los, flankte über das Geländer und ließ sich die zwei Meter auf den Sand hinunterfallen.
Eine Frau schrie erschrocken auf, und Parker wusste sofort, dass es Lesley war. Sie wollte sichergehen, dass sie ihren Anteil bekam, wollte in der Nähe bleiben und beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, und hatte sich sofort verraten.
Ross und Carlson rannten die Treppe hinunter, um Melander zu helfen. Würden sie sie umbringen? Das wäre das einfachste, für Parker und für die anderen, sie umbringen, die Leiche ins Meer werfen und sie vergessen.
Nein. Sie brachten sie die Treppe herauf. Sie waren neugierig, wollten ihr Fragen stellen, die Sache noch ein bisschen komplizierter machen.
Die drei dunklen Männer kamen heran, mit wippenden Stirnlampen, zwischen ihnen die hellere Gestalt von Lesley, die sich wehrte. Sie protestierte in dümmlichen Halbsätzen, behauptete, zufällig in der Nähe gewesen zu sein und nichts mit irgendwas zu tun zu haben, aber die Männer glaubten ihr kein Wort. Sie waren gerade vom größten Raub in der Geschichte von Palm Beach zurück, und da versuchte eine Frau, sich in ihr Haus zu schleichen. Zufall? Nie und nimmer.
Was Parker aber nicht vorhersah, war die Schlussfolgerung, zu der Melander kam, so rasch und selbstverständlich, wie er vorhin von der Mauer gesprungen war. Während Lesley sich weiter wehrte und auf sie einredete, schüttelte Melander sie mit der Hand, mit der er sie am Arm gepackt hielt, und sagte: »Zwingen Sie mich nicht, Sie zu schlagen, okay? Halten Sie jetzt endlich die Klappe, damit wir reden können.«
Daraufhin wurde sie wirklich still und wirkte plötzlich ganz klein und hilflos, während sie zu den drei Männern in ihren schwarzen Anzügen aufschaute, deren Stirnlampen sie blendeten. Parker sah ihr Gesicht, das im Dunkeln unnatürlich hell leuchtete, während sie sich zwang, den Mund zu halten.
Melanders Stimme hatte einen Unterton von Schadenfreude, als er sagte: »Claire Willis, hab ich recht? Wir haben Ihrem Haus oben im Norden einen Besuch abgestattet. Leider waren Sie nicht da.«
Sie sah die drei an, ohne zu begreifen. »Was?«
»Das heißt wohl«, sagte Melander, »dass unser Freund Parker auch nicht weit sein kann. Es ist bestimmt in seinem Sinn, wenn wir gut auf Sie aufpassen, oder? Gehn wir rein. Sie könnten wertvoll für uns sein.«
Verdammt. Fast genauso verärgert über Lesley wie über die drei Männer, zog sich Parker lautlos ins Haus zurück und stieg zum Dachboden hinauf. Lesley hatte keine Handtasche bei sich und wahrscheinlich auch keinen Ausweis, konnte also nicht beweisen, wer sie war. Von ihm aus konnten sie ihr ruhig Löcher in den Bauch fragen. Früher oder später würden sie schlafen gehen.