Ross führte sie ins Wohnzimmer, wo Melander mit dem Rücken zum Meer am Tisch saß. Die Waffen lagen nicht mehr auf dem Tisch, statt dessen waren da jetzt eine Schachtel Doughnuts, eine Kaffeekanne, eine Packung Zucker, ein Liter Milch, weiße Porzellantassen, Kaffeelöffel, Pappteller und Papierservietten. Die Schrotflinten lehnten in einer Ecke an der Wand. Die Revolver waren nicht zu sehen, wahrscheinlich trug jeder der drei seinen am Körper. Auf einem Beistelltisch lagen drei schwarze, an Gürteln befestigte Netzbeutel; durch das Gewebe schimmerte es golden. Carlson war nicht zu sehen.
Ross war als erster hineingegangen, gefolgt von Lesley und dann Parker; deshalb konnte Parker nicht mehr eingreifen, als Melander auf den Stuhl links neben sich zeigte und sagte: »Setz dich, Claire. Es macht dir doch nichts aus, wenn wir hier auf Formalitäten verzichten, oder?«
Sie ging mit kleinen Schritten und angehaltenem Atem, die Arme an den Seiten. »Nein, schon okay«, sagte sie und setzte sich dorthin, wo Parker den Sentinel versteckt hatte.
»Setz dich«, sagte Ross zu Parker.
Melander sagte zu Lesley: »Freut mich. Wir können alle Kumpels sein. Ich bin Boyd, und das ist Jerry. Hal ist in der Küche und versucht, mit dem Herd klarzukommen. Vielleicht kannst du ihm nachher helfen.«
Parker setzte sich auf den Stuhl rechts von Melander, Lesley gegenüber, und sagte: »Claire hat’s nicht so mit Herden.«
»Nein?« Melander grinste und zuckte die Achseln. »Auch gut. Entweder kommt Hal damit klar, oder wir fliegen alle in die Luft.« Er zeigte auf die Sachen auf dem Tisch. »Mehr gibt’s nicht zum Frühstück. Bedient euch.«
Lesley warf Parker einen unsicheren Blick zu. Er schob ihr die Doughnutschachtel hin und sagte: »Nur zu.«
Die Kaffeekanne stand vor Parker. »Warum schenkst du ihr nicht ein?« fragte ihn Melander.
»Claire macht das lieber selbst«, sagte Parker und schob ihr auch die Kaffeekanne hin. Womöglich hätten sie es seltsam gefunden, dass er nicht wusste, ob Claire Milch oder Zucker in den Kaffee nahm.
Sie trank ihn schwarz, wie Parker, und jeder nahm sich ein Doughnut. Melander setzte das Gespräch fort: »Also, Parker, was machen wir jetzt mit dir?«
»Mich hierbehalten, bis ihr geht«, anwortete Parker und spürte im selben Moment, dass sich hinter ihm etwas bewegte. Das musste Carlson sein, der aus der Küche hereinkam. Parker sah Melander an, beobachtete aber Lesley aus dem Augenwinkel; an ihrer Reaktion würde er merken, ob Carlson etwas im Schilde führte. »Dann kriegt ihr euer Geld von den Hehlern, ihr schickt mir, was ihr mir schuldet, und die Sache ist gegessen.«
»Vergeben und vergessen, meinst du?« sagte hinter ihm Carlson.
»Nein«, sagte Parker, immer noch zu Melander. »Ich vergebe nicht, und ich vergesse nicht, aber ich verschwende auch keine Zeit auf die Vergangenheit. Ich werde nie wieder mit euch zusammenarbeiten, aber wenn ihr mich auszahlt, werde ich auch nie wieder an euch denken.«
»Das wäre nett«, sagte Melander. »Wir haben gestern abend darüber gesprochen, Hal und Jerry und ich — dass uns nicht wohl bei dem Gedanken ist, dass du an uns denkst.«
»Und dass du hier aufgetaucht bist«, ergänzte Carlson. Er stand immer noch hinter Parker, kam nicht in sein Gesichtsfeld.
Parker hielt den Blick weiter auf Melander gerichtet. »Mein Geld ist hier«, sagte er.
Melander lachte. Er nahm Parker seine Geschichte ab, Carlson dagegen möglicherweise nicht. Er sagte: »Dein Geld ist hier?«
»Stimmt.«
»Was wäre, wenn wir den Job versiebt hätten? Wenn wir hierhergekommen wären, und irgendwas wär schiefgegangen?«
»Dann wäre ich trotzdem hier und würde versuchen, soviel wie möglich zu kriegen.«
»Und uns helfen?« fragte Carlson hinter ihm.
»Nie und nimmer«, sagte Parker.
»Wenn du doch nur ein bisschen lockerer wärst«, sagte Melander, und da läutete es an der Tür.
Alle zuckten zusammen. Carlson trat von rechts vor Parker hin, sah ihn an und fragte: »Hast du Freunde hier?«
»Nur euch.«
»Sieh mal nach, Jerry«, sagte Melander.
Ross ging rasch hinaus, Carlson ging in die Ecke, nahm zwei der drei Schrotflinten und gab eine Melander. Keine der Flinten war direkt auf jemanden gerichtet.
Vor Angst wie betäubt, starrte Lesley Parker mit offenem Mund an, und Ross kam wieder ins Zimmer: »Bullen!«
»Wieso denn das, verdammt?« jammerte Carlson und sah Parker finster an.
»Die durchsuchen die ganze Insel«, sagte Parker. »Hallo, Herr Haushaltsvorstand, haben Sie irgend jemanden gesehen, der Ihnen verdächtig vorkam?«
Melander stand lachend auf, gab seine Flinte Carlson zurück und sagte: »Jeder, den ich hier sehe, kommt mir verdächtig vor. Ich bin der Haushaltsvorstand.« Im Hinausgehen strich er sich übers Haar.
Carlson und Ross stellten sich rechts und links neben der Wohnzimmertür auf, wo sie mithören konnten. Parker schwenkte die Hand, um Lesley auf sich aufmerksam zu machen, und zeigte dann auf ihre Seite des Tischs. Sie sah ihn verständnislos an. Er tippte sich an die Schläfe: Denk nach. Carlson und Ross würden nicht ewig abgelenkt sein.
»Hallo, die Herren, was kann ich für Sie tun?«
»Mr. George Roderick?«
»Ja, Sir, der bin ich.«
Parker hielt beide Hände unter die Tischplatte und berührte mit den Handflächen die Unterseite, dann zeigte er wieder auf ihre Seite des Tischs.
»Dürfen wir reinkommen?«
»Natürlich. Darf ich fragen —«
»Ziehen Sie ein oder aus, Sir?«
Endlich griff sie unter den Tisch, und ihre Augen weiteten sich.
»Ich ziehe ein. Nach und nach.«
»Dann ist das wohl die Erklärung.«
Parker bewegte sacht die Hände auf und ab, mit den Handflächen nach unten: Noch nicht rausholen.
»Erklärung wofür?«
»Sie wissen von dem Raubüberfall gestern abend?«
»Raubüberfall? Nein. Was für ein Raubüberfall?«
»Mr. Roderick, gestern abend hat gar nicht weit von hier an Ihrer Straße ein großer Raubüberfall stattgefunden, und Sie wissen nichts davon?«
»Nein, tut mir leid, ich habe hier keinen Fernseher, ich habe noch nicht mal ein Radio. Gestern abend war ich zu Hause und habe gelesen. Woher —«
»Und Telefon haben Sie auch keins?«
»Nein — ist noch nicht gelegt worden.«
»Wir rufen die Ortsansässigen an und fragen sie, ob ihnen irgendwas aufgefallen ist, aber Sie haben kein Telefon.«
»Nein, noch nicht.«
»Sie haben noch nicht mal einen Anschluss beantragt.«
»Nein, da bin ich noch nicht —«
»Hier draußen steht ein Abfallcontainer, aber Sie haben noch keinen Bauunternehmer beauftragt. Niemand arbeitet auf Ihrem Grundstück.«
»Officer, ich lebe überwiegend in Texas. In letzter Zeit hatte ich geschäftliche Probleme. Dadurch hat sich alles verzögert.«
»Wer hält sich momentan noch hier auf, Mr. Roderick?«
»Im Augenblick bin ich allein hier. Meine Familie ist noch —«
Ein anderer Polizist sagte: »Jemand anders ist ins Wohnzimmer gekommen und wieder gegangen. Ich hab’s durchs Fenster gesehen.«
»Das war ich«, sagte Melander, immer noch verbindlich, während Carlson und Ross zusehends nervöser wurden und an den Schrotflinten herumfingerten. »Ich hatte meine Kaffeetasse in der Hand und bin noch einmal zurück —«
»Das waren nicht Sie«, sagte der zweite Polizist. »Es war jemand kleinerer.«
Barscher und nicht mehr so höflich sagte der erste Polizist: »Mr. Roderick, wie viele Personen halten sich zur Zeit in dem Haus auf?«
»Nur ich, ich sage doch —«
»Mr. Roderick, es tut mir leid, aber ich muss das Haus durchsuchen.«
»Aber warum denn? Ich bin doch nur ein Mann aus Texas, der dieses Anwesen wieder auf —«
»Und wir müssen damit anfangen, dass wir Sie durchsuchen, Sir.«
»Mich? Sie wollen mich durchsuchen?«
»Sir, bitte lehnen Sie sich mit gespreizten Armen an die Wand …«
Jetzt oder nie. Parker schnippte mit den Fingern, damit Lesley zu ihm hersah, und bedeutete ihr, dass sie ihm den Revolver herüberwerfen sollte. Carlson hörte das Schnippen, sah die Geste, sah den Sentinel, den Lesley plötzlich in den Händen hielt, noch mit einem Rest Klebeband daran, richtete die Flinte auf Lesley und drückte ab, doch es machte nur klick.
Lesley zuckte zusammen, schrie auf und feuerte den Sentinel ab. Der Schuss krachte in dem kleinen Raum, die Kugel verfehlte Carlson und flog irgendwo ins Wohnzimmer, wo die Cops und Melander waren.
Parker war aufgestanden, drehte sich rasch nach links, von der Tür weg, und griff mit der linken Hand hinter sich nach der Stuhllehne. Die Schmerzen in seinem Oberkörper waren wie Messerstiche, Blitze zuckten vor seinen Augen, und Schweißperlen traten auf seine Stirn, aber er drehte sich weiter, packte den Stuhl mit der linken Hand und schwang ihn in hohem Bogen gegen Ross, der bereits zweimal vergeblich mit seiner Schrotflinte auf Parkers Kopf geschossen hatte. Der Stuhl brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er fiel nach rechts in die Tür.
Draußen wurde auch geschossen. Melander hatte wahrscheinlich seinen Revolver gezogen, als er sah, dass alles den Bach runterging, hatte den Abzug betätigt, der nichts bewirkte, und war selbst niedergeschossen worden.
Ross fiel in den Durchgang zum Wohnzimmer, die Schrotflinte an sich gedrückt, und geriet in einen Kugelhagel, der ihn nach hinten schleuderte, ihm die Flinte aus der Hand riss und ihn zu Boden warf.
Lesley hatte den Sentinel beidhändig in Carlson geleert, der jetzt auf dem Boden hockte, mit dem Rücken zur Wand, und sie benommen anstierte.
Parker klatschte in die Hände, damit sie zu ihm hinschaute. Als Lesley ihn mit glasigen Augen ansah, zeigte er rasch und dringlich auf sich selbst und schüttelte dann heftig den Kopf. Ich bin nicht hier, ich existiere nicht, ich hab nichts damit zu tun. Sie brachte ein Nicken mit offenem Mund zustande, und er drehte sich um, packte die drei Beutel mit dem Schmuck und rannte los.
Aber er konnte nicht rennen. Sein Körper machte nicht mit; er taumelte schon von der Anstrengung, die hinter ihm lag. Er war den anderen ein Zimmer voraus, konnte aber nicht mehr viel weiter.
Er schaffte es bis zur Terrasse. Die gleißende Morgensonne direkt vor ihm zog zusammen mit der Luftfeuchtigkeit die letzte Kraft aus seinem Körper.
Die Polizisten verfolgten niemanden; sie wussten nicht, dass noch jemand da war, den sie hätten verfolgen können. Sie mussten sich um den Schlamassel im Haus kümmern. Aber er konnte nicht einfach über den Strand laufen, völlig erschöpft und mit der Beute aus dem Raubüberfall.
Links von ihm war der Maschendrahtzaun, über den er beim erstenmal geklettert war und der praktisch mit der Seetraube auf dem Nachbargrundstück verwachsen war. Parker ging bis zur Ecke der Terrasse, steckte die drei Beutel in seinen Gürtel und stieg auf der anderen Seite des Zauns hinab.
Es war ein langwieriges Unterfangen, aus vielerlei Gründen. Um keine Spur zu hinterlassen, wollte er verhindern, dass viele Zweige abbrachen. Er war massig und schwerfällig, und die Schmuckbeutel verfingen sich immer wieder in den Zweigen. Außerdem wollte sein Körper sich ständig ausblenden.
Am unteren Ende erinnerten die dünnen, verschlungenen Stämme an einen misslungenen Pfadfinderknoten. Das Laub vieler Jahre war auf dem Boden zu weichem Kompost verrottet. Die Luft war kühler hier, aber genauso feucht. Einen halben Meter vom Zaun entfernt konnte man den Zaun nicht mehr sehen, sowenig wie das Meer dahinter.
Parker spürte, wie sich seine Augen schlossen, und ließ sich langsam auf Zweige und in Astgabeln sinken, bis sein ganzes Gewicht auf dem Baum ruhte, als hätte er schon immer da gehangen und der Baum wäre um ihn herumgewachsen. Er hatte getan, was er konnte. Die Arme um einen Stamm gelegt, die Wange an einem Ast, ließ er es zu, dass die Dunkelheit sein ganzes Gesichtsfeld ausfüllte.