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Inspektor Elliott nahm sich noch am Abend im Smuggler’s Rest ein Zimmer. Wahrscheinlich wusste zu diesem Zeitpunkt eh schon das halbe Dorf über den Mord in der Schule Bescheid. Und wer nicht, der wurde beim Betreten des Pubs sofort von Nicolas Pears, der nicht nur sein Besitzer, sondern auch noch der Vater meines treulosen Finns war, über jedes kleine Detail informiert.

Der zweite Mord in Ashford-on-Sea innerhalb von ein paar Monaten! Und so verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es zaghaft an die Tür vom Little Treasures klopfen würde und die Damen des Ashford-Crime-and-Murder-Clubs eine nach der anderen in unseren Tearoom getrippelt kämen.

Die Standuhr zeigte halb neun, als es so weit war. Wie immer, wenn sich in Ashford ein Verbrechen ereignet hatte, wollten alle Tante Clarissas Meinung dazu hören. Doch die schwieg jetzt bestimmt schon seit zehn Minuten. Ihre Augen starrten auf irgendeinen Punkt in der Ferne, der Tee in ihrer Tasse musste längst kalt geworden sein und ihre rechte Hand ruhte auf Percys Fell, der sich, so gut es ging, neben sie in den geblümten Sessel gequetscht hatte, um sie zu trösten.

»Also, ich schließe mich Amys Theorie an«, wagte Calinda einen vorsichtigen Vorstoß. »Der Gral der Erkenntnis muss so viel Sprengstoff beinhalten, dass man mit ihm das Parlamentsgebäude in die Luft jagen könnte.«

So betroffen und geschockt sie alle von Olivias Tod waren, meinem Bericht hatten sie mit sensationslüsterner Faszination gelauscht.

»Die arme Mrs Wilkins!« Mitfühlend schüttelte Lydia Scott den Kopf. »Und dieser arme Anthony. Obwohl … für ihn war das ja noch Glück im Unglück. Wäre er ein besserer Schauspieler, dann wäre er jetzt … na ja … nicht direkt ein Mörder … denn er wusste ja nicht, dass … also … versteht ihr, was ich meine?«

Ungeduldig verdrehte Sophie Campbell die Augen. »Ich glaube, jede von uns kann sich vorstellen, was jetzt in dem armen Jungen vor sich geht, Lydia. Und auch in den anderen Kindern.« Sie warf einen mitfühlenden Blick zu mir hinüber. Während ich hinter der Kuchentheke eine frische Kanne Tee aufgoss, spürte ich meinen Gefühlen nach. Ich war dabei gewesen, hatte alles ganz genau gesehen und trotzdem wollte mein Kopf nicht verstehen, dass es kein Film, sondern Realität war.

»Mr Plunkett hat schon alle Maßnahmen ergriffen, die in so einem schrecklichen Fall nötig sind. Bis auf Weiteres finden weder Workshops und Vorträge noch normaler Unterricht statt. Eben hat er Matthew angerufen und ihn darum gebeten, in seiner Funktion als Vikar die Schulpsychologen und Seelsorger zu unterstützen.«

»Clarissa, meine Gute!« Dorothy Pax beugte sich auf dem Queen-Anne-Sofa zu meiner Tante vor und tätschelte ihr den Unterarm. Die vielen bunten Armreifen, die sie heute zu ihrem wild gemusterten Pullover trug, klimperten scheppernd. »Ich weiß, dich trifft die ganze Sache von uns allen am härtesten, aber darf ich dich trotzdem fragen: Hast du schon eine Theorie, wer der Mörder gewesen sein könnte?«

Ich schob den klappernden Deckel auf die Teekanne mit dem Rosenmuster, ging zur Sitzecke hinüber und setzte mich, die Kanne in den Händen, neben Tante Clarissa auf die Armlehne ihres geblümten Lieblingssessels. Tante Clarissa atmete tief ein, kraulte Percy gedankenverloren die Ohren und straffte die Schultern.

»Der Mörder muss gefasst werden! Und wenn ich dabei helfen kann, werde ich es tun.« Kampfgeist sprühte aus ihren Augen. »Olivias Verhängnis waren die Worte, die sie beim Mittagessen gesprochen hat. Wäre sie nicht so geschwätzig gewesen, würde sie jetzt noch leben! Davon bin ich überzeugt.«

»Gebrüllt hat, trifft es eher«, warf ich ein.

»Umso schlimmer«, seufzte Tante Clarissa und legte mir eine Hand aufs Knie. »Als sie sagte, dass sie den Gral der Erkenntnis schon geöffnet und hineingelinst hätte, war der Mörder alarmiert. Als sie dann noch zu allem Überfluss ausplauderte, dass der Inhalt wirklich ganz unglaublich sei, genauso wie Neal es prophezeit hatte … da musste der Mörder davon ausgehen, dass sie sein Geheimnis kannte. Ab da kam es auf jede Minute an. Er musste sie zum Schweigen bringen und zwar schnell. Sie durfte keine Gelegenheit mehr haben, sein Geheimnis auszuplaudern.«

»Ich weiß nicht«, meldete sich Meredith zaghaft zu Wort, während sie mir ihre leere Teetasse hinhielt.

Ich schüttelte den Kopf. »Der muss noch ziehen«, flüsterte ich ihr zu.

»Dann später«, flüsterte sie lächelnd zurück und stellte die Teetasse wieder auf dem Tisch ab. »Was ich sagen wollte: Geheimnisse von Schülern?« Sie breitete fragend die Hände aus. »Wie schlimm können die sein?«

»Wie es scheint, schlimm genug«, antwortete Sophie. Schon wieder linste sie verstohlen zur leer geräumten Kuchenauslage und zum Kühlschrank hinüber. Das war mir heute Abend schon mehrfach aufgefallen. Sicherlich vermisste sie die Leckereien, die Tante Clarissa normalerweise auftischte. Nur heute war außer Sophie niemandem nach Essen zumute. Am allerwenigsten Tante Clarissa. Ich glaube, sie hatte schlicht und ergreifend vergessen, etwas vorzubereiten, und ich muss gestehen: ich auch.

»Was wissen wir?«

»Warte kurz, Tante Clarissa!« Schnell stellte ich die Teekanne auf dem Tisch ab, sprang auf und raste die Treppe in mein Zimmer hinauf. Ich riss die oberste Schreibtischschublade auf, in der seit dem Abschluss des Falls Rubinia Redcliff mein Detektiv-Notizbuch einstaubte. Plötzlich war die Erinnerung an Finn wieder da. An diese kristallblauen Augen. Daran, wie … Ach, würde das denn nie aufhören? Als könnte ich vor den Gefühlen weglaufen, raste ich in Tante Clarissas Zimmer und schnappte mir auch ihr Notizbuch. Sie würde es haben wollen, das wusste ich.

»Kann gleich losgehen«, keuchte ich und drückte meiner Tante ihr Schreibzeug in die Hand. Schon hockte ich wieder neben ihr, überblätterte all die Seiten der Vergangenheit und schlug die nächstfreie Seite in meinem Notizbuch auf. Mein Kugelschreiber schwebte schreibbereit über dem unberührten Blatt.

»Sechs Freunde. Sechs Geheimnisse«, setzte Tante Clarissa an und strich die aufgeschlagene Seite in ihrem Notizbuch glatt. Die anderen lauschten gespannt. »Einer der Freunde, Neal Hillman, ist vor einigen Wochen verstorben. Er war der Einzige, der darüber Bescheid wusste, welche Geheimnisse im Gral der Erkenntnisse schlummern. Die anderen kennen nur ihr eigenes Geheimnis. Bis auf Neal lebten alle in der Annahme, dass er diese Geheimnisse vor vielen, vielen Jahren vor ihren Augen verbrannt hätte. Seit circa einer Woche wissen sie, dass das eine Fehlannahme war. Denn da flatterte bei jedem von ihnen dieser Brief von Neal ein. So erfuhren sie auch von seinem Tod. Seit ebenfalls ungefähr einer Woche …« Sie nickte Dorothy zu, die ahnte, was kam, und gequält den Kopf senkte. »… machen Dorothys Hunde nachts einen Aufstand, dass halb Ashford nicht mehr schlafen kann. Und das wegen des oder der Gespenster, die in der alten Kirchenruine umgehen. Im geheimen Treffpunkt der Freunde, den sie Camelot nannten und wo der Gral versteckt war. Da mag an Zufall glauben, wer will. Ich tue es nicht.« Tante Clarissa hob die Teekanne hoch, schenkte reihum und zuletzt sich selbst ein. »Einer oder sogar mehrere wollten sichergehen, dass ihr Geheimnis nicht in falsche Hände gerät.«

»Mrs Hartcastle fällt da wohl weg.« Als Sophie die entsetzten Gesichter der anderen sah, hob sie abwehrend die Hände. »Was habe ich denn jetzt Schlimmes gesagt? Es ist nur eine logische Schlussfolgerung. Sie ist schließlich ermordet worden.«

Eilig blätterte ich zur nächsten Seite um. »Damit bleiben als Verdächtige … Betty O’Donald, Luke Portland und Reginald Travers.«

»Hmm …«, brummelte Calinda unzufrieden. »Mit Betty O’Donald bin ich ja völlig einverstanden. Aber die beiden anderen kommen wohl nicht so wirklich infrage. Die waren doch meilenweit vom Geschehen entfernt.«

»Gibt es dafür Beweise?«, konterte Tante Clarissa, woraufhin Calinda überfragt die Schultern hob.

»Vergesst Maud Wilkins nicht«, meinte Meredith. Mit ausdrucksloser Miene rührte sie ihren Tee um.

»Mrs Wilkins? Aber es war ein Unfall!« Diesmal war Sophie genauso geschockt wie alle anderen.

»Meredith hat schon völlig recht«, kam meine Tante ihr zu Hilfe. »Maud ist genauso verdächtig wie alle anderen auch. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass sie ihre Freundin nicht vorsätzlich ermordet hat. Wir müssen trotzdem objektiv bleiben. Zunächst ist jeder der ehemaligen Ritter verdächtig. Erst wenn wir ihr Geheimnis kennen, können wir sie unter Umständen von der Liste der Verdächtigen streichen.«

»Gut und schön, aber wie willst du ihr Geheimnis herausbekommen?« Lydia zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen wie Gewitterwolken. »Du könntest sie natürlich einfach fragen.«

»Und sie könnte lügen. Nein, was wir brauchen, ist dieser Gral«, entschied meine Tante und führte ihre Tasse zum Mund, um ein Schlückchen zu trinken. »Haben wir die Kiste, haben wir den Mörder!«

Calinda bohrte sich die Zunge in die Wange, dass es aussah, als würde sie ein sehr dickes Ei darin verstecken wollen. »Schwierig. Denn den hat sich ja wohl der Mörder unter den Nagel gerissen.«

»Stimmt genau!« Tante Clarissa pflückte ihre Brille aus dem Haar und kritzelte ein paar Worte in ihr Notizbuch, dabei murmelte sie: »Viele Wege führen nach Rom, wie es so schön heißt. Deshalb schlagen wir einen Umweg ein und suchen die Antwort auf die Frage …« Sie tippte mit ihrem Kugelschreiber auf das Notizbuch. »Wer hatte die Gelegenheit, die Pistolenattrappe gegen eine echte auszutauschen?«

Alle guckten mich an, als müsste ich die Antwort wissen.

»Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern.

Als wäre ihr gerade ein Eisklümpchen über den Bauch geschliddert, kreischte Sophie mit weit aufgerissenen Augen: »Wer war denn für die Requisite zuständig?«

»Keira aus der zehn und ein paar andere«, antwortete ich irritiert. Ich kannte weder Keira noch die anderen sonderlich gut, trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen zu einem Mord fähig wäre. »Diese Pistolenattrappe hat doch in den Pausen während der Probe einfach irgendwo rumgelegen. Jeder, wirklich jeder, hätte sie mit einer echten vertauschen können. Dazu musste man noch nicht mal zur Theatergruppe gehören. Jeder konnte rein- und rausgehen, wie er wollte.«

»Es wäre auch zu schön gewesen, wäre es so einfach.« Calinda zog eine enttäuschte Schnute.

»Vertrackt. Sehr vertrackt!«, murmelte meine Tante und drehte sich zu mir um. »Weißt du, ob der Inspektor die Waffe noch gefunden hat?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Und die Attrappe? Ich meine, die Theaterpistole«, wunderte sich Calinda. »Bin ich eigentlich die Einzige, die sich fragt, was aus der geworden ist?«

Ich zumindest hatte sie ganz vergessen und wenn ich Tante Clarissas aufgeschreckten Blick deuten sollte, dann hätte ich getippt, dass es ihr da ähnlich ging.

»Ach, die! Das kann ich euch sagen«, rief Dorothy, als sei die Information, die jetzt folgen sollte, ein alter Hut und völlig unwichtig. Dabei war es ihr an der Nasenspitze anzusehen, dass sie die allgemeine Aufmerksamkeit sehr genoss. »Die hat der Inspektor hinter der Bühne gefunden. Achtlos weggeworfen.«

»Woher weißt du das?«, schnaubte Sophie Campbell neidisch.

»Von Meghan. Sie hat es mir vorhin erzählt. Und sie weiß es natürlich von ihrem Mann, der es wiederum vom Inspektor persönlich erzählt bekommen hat«, gab Dorothy ihre Informationsquelle bereitwillig preis.

Meghan ist Meghan Pears, die Frau von Nicolas Pears und damit die Mutter von meinem Ex, Finn. Ach, Mann …!

»Die Waffe wird von der Spurensicherung auf Fingerabdrücke untersucht«, trällerte Dorothy weiter, während sie fröhlich mit dem Fuß wippte. »Ich bin schon sehr gespannt, was dabei wohl herauskommt.«

»Nichts!«, zerschmetterte Tante Clarissa jede Hoffnung. »Zehn zu eins, dass der Mörder entweder Handschuhe getragen oder alle Fingerabdrücke abgewischt hat. Wer sich so einen durchtriebenen Plan ausdenkt, der vergisst seine eigene Tarnung nicht.«

Das vermutete ich auch.

»Dass unser unfähiger Sergeant Oaks die Tatwaffe nicht gefunden hat, will nichts heißen. Der sieht ja einen Elefanten nicht, wenn er vor ihm steht. Warten wir also ab, ob die Waffe noch auftaucht oder nicht. Ansonsten … gebt mir etwas Zeit zum Nachdenken«, bat meine Tante.

Das war das Signal zum Aufbruch.

»Wenigstens scheint dieser Inspektor Elliott ja deutlich mehr auf Zack zu sein als der, den sie uns das letzte Mal geschickt haben«, sagte Tante Clarissa, als wir fröstelnd in der Tür vom Little Treasures standen und den anderen hinterherwinkten. »Ich bin schon sehr gespannt darauf, ihn kennenzulernen.«