Es kam mir fast unmöglich vor, sich gegen den Lauf der Dinge zu wehren, gegen die Zwangsläufigkeit der Gewalt. Doch ich fasste den Vorsatz, es zumindest zu versuchen, ein Vorsatz, der mich immer mehr vereinnahmte.
Anna hat mich oft damit aufgezogen, dass meine Wohnung wie die Zelle eines Zen-Mönchs anmutet, das einzige Licht spendet eine Glühbirne, und meine Matratze liegt auf dem blanken Boden. Die wenigen Kleider, die ich besitze, hängen an einer Haselrute, die ich zwischen die Streben eines Billy-Regals geklemmt habe, und als Schreibtisch dient mir eine alte aufgebockte Arbeitsplatte. Nichts in diesem Zimmer ist zur Zierde da, alles ist entweder Gebrauchsgegenstand oder Bekenntnis: die drei in Aludosen eingetopften Sukkulenten auf dem Fenstersims, anspruchslose Wüstengewächse mit gummiartigen Blättern, die ihnen in der Dürre als Wasserreservoir dienen, der ultramarinblaue Wirbelknochen eines wilden Tiers, den mir ein früherer Liebhaber zum Abschied geschenkt hat, memento mori. Zu der Zeit, als ich noch in WGs lebte, sprachen meine Mitbewohnerinnen mich oft erstaunt darauf an, dass ich nur zum Schlafen die Schuhe ausziehe, innerlich immer die Koffer gepackt hätte. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie bin ich immer davon ausgegangen, dass alles um mich herum nur provisorisch ist, jedes Bett, in dem ich schlafe, jeder Körper, den ich nachts umfange, ich bin immer davon ausgegangen, dass ich in meinem eigenen Leben nur ein Gast bin. Nach den vergangenen Wochen klingt diese fixe Idee für mich fast vermessen, schließlich habe ich, wenn ich will, ein Bett zum Schlafen und kann entscheiden, wer mein Zuhause mit mir teilt. Immer wieder drängt sich mir nun die Frage auf, ob sich hinter dieser Vorstellung nicht eigentlich ein Mangel verborgen hat, eine Leere, die ich insgeheim mit den Geflüchteten zu füllen versucht habe. Nachdem ich jenen Vorsatz gefasst hatte, in der Unterkunft mehr Widerstand zu leisten, nahm ich meine Arbeit jedenfalls immer öfter mit nach Hause, sie schlich sich allmählich auch in meine Abende und Nächte.
Es war Herr Rahim, in dem mein Vorsatz Gestalt annahm. Wenige Tage nach jenem Polizeieinsatz kam er zu uns ins Büro, ein Weißes Papier in der Hand, das er mir wortlos überreichte. Angesichts des Dokuments, das schwarz auf weiß auf seine Ausreisepflicht hinwies, erschrak ich, auch über die Leichtgläubigkeit, mit der ich wie selbstverständlich von seiner Verschonung ausgegangen war, obwohl ich das Regelwerk des Asylsystems inzwischen doch in- und auswendig kannte, für alle Fälle durchdeklinieren konnte – vielleicht war ich derart leichtgläubig gewesen, weil ich auf den Glauben an ein gutes Ende seiner Geschichte angewiesen war.
Über den Rand des Dokuments hin, dessen biometrisches Lichtbild ihn, von mit kalter Eleganz formulierten Anordnungen umsäumt, wie einen Straftäter inszenierte, suchte ich verstohlen sein Gesicht, es wirkte härter, verhärmter, als ich es in Erinnerung hatte. Ich registrierte, dass der samtige Flaum auf seinen Wangen verschwunden war. Er ließ sich auf meine einladende Geste hin im Sessel nieder, den Blick ins Leere gerichtet, berichtete mit einer Stimme, die wie losgelöst von seinem Körper schien, dass er sich nun jede Nacht in einem Spalt zwischen den Kabinen verstecke, so zusammengekauert erst in den Morgenstunden einnicke, kurz bevor die Schichtleitung den Generalschalter umlege und er wieder erwache von den Leuchtstoffröhren. Im Deutschkurs sinke ihm der Kopf regelmäßig auf die Brust, und immer öfter könne er sich nicht mehr entsinnen, was all diese Worte, die doch dem Wienerischen verwandt seien, bedeuteten. Mir fiel wieder ein, wie er bei unserer letzten Unterhaltung das »Servus« in verschiedenen Ausformungen nachgeahmt hatte, und ich sagte, vielleicht in der Hoffnung auf seine frühere Heiterkeit: »Ihre Expertise in Wienerisch ist mir in Erinnerung geblieben.« Er lächelte müde, doch dann verschloss sich sein Gesicht wieder, man hörte das Surren des Ventilators in der Stille.
Schließlich sagte er, manchmal komme es ihm nun so vor, als sei alles Leben um ihn herum künstlich wie im Fernsehen, die Menschen spielten nur ihre Rollen und würden von unsichtbaren Regisseuren dirigiert, und auch er selbst lächle zwar, aber sehe sich gleichzeitig dabei zu, unbeteiligt, als sei dieser Lächelnde ihm fremd, und dann fürchte er, dass er sich in nichts auflösen würde. Technische Termini gingen mir durch den Kopf, während ich zuhörte, Nicht-Existenz-Wahn, Derealisation, ich versuchte, sein Leiden Symptomen zuzuordnen, um es greifbarer zu machen. Doch sorgte nicht auch ich für sein Verschwinden, indem ich seine Wahrnehmungen jenen Begriffen unterwarf?
In Fahrt gekommen, fuhr Herr Rahim nun ohne mein Zutun fort: Einer der Küchenangestellten habe ihm gestern erst kein Essen ausgegeben. Obwohl die Marken für den Monat rationiert waren, habe der Angestellte behauptet, dass er sich bereits zum zweiten Mal anstelle. Erst auf das Drängen eines Sozialarbeiters hin habe er eingestanden, dass er ihn vielleicht mit einem anderen irakischen Jungen verwechselt habe, ihm widerwillig eine letzte Kelle aus dem Topf gekratzt. Ich runzelte die Stirn und sagte, es tue mir leid, dass das Personal so mit ihm umgegangen sei, wenn so etwas wieder vorkomme, solle er mir Bescheid geben. Doch insgeheim fragte ich mich, ob es nicht auch mir schon unterlaufen war, dass ich Gäste auf ähnliche Weise miteinander verwechselt, verkannt hatte.
Nun fuhr Herr Rahim sich mit beiden Händen über die Wangen, sagte, sein Gesicht würde sich abschälen. Erst fasste ich seine Worte als Sinnbild auf, doch dann wies er mich auf kahle Stellen hin, die zwischen den Stoppeln seines Bartflaums klafften. Diese Stellen würden immer weiter um sich greifen, obwohl der Bart ihm doch gerade erst gewachsen sei, bis zu den Ohren hinauf würden die Haare ihm ausgehen. Damit man es nicht gleich sehe, rasiere er sich nun täglich, diesen Rat habe ihm ein Arzt gegeben, den er deswegen aufgesucht habe. Der Arzt habe auf seinen kahlen Kopf gezeigt und gemeint, dass er das gleiche Leiden habe, dabei habe er nach wie vor einen Bart gehabt und bestimmt dreimal so viele Jahre wie er gezählt. Er schüttelte den Kopf. Erst fand ich es zum Lachen, doch dann kam mir, dass auch diese vermeintliche Gemeinsamkeit gewissermaßen eine Art der Verkennung war.
Herr Rahim war nun hörbar in Rage, seine Stimme bebte beinah: »Die Leute auf der Straße hier schauen mich an wie einen Schatten.« Mir war zuvor schon aufgefallen, dass in den blechernen Ring an seinem Zeigefinger das Auge der Fatima eingelassen war, ein dunkles Zentrum, umgeben von einer Iris aus Türkis. Soweit ich wusste, hieß es, das Auge schütze vor dem bösen Blick. Er verlange nicht, gemocht zu werden, es sei wahnsinnig, Fremde zu mögen, die Menschen an sich, wer das tue, der wisse nichts über sie. Er verlange aber, gesehen zu werden. Unvermittelt streckte er seine Hand über den Tisch: »Können Sie sie kurz drücken? Nur, um mir zu zeigen, dass ich noch da bin?« Vermutlich blickte ich ihn an, als sei ich schwer von Begriff. Im Büro war ich den Wechsel vom Wort in die Berührung nicht gewohnt, das Überschreiten dieser Schwelle war höchst unprofessionell. Dabei waren wir ja für uns, auch vor dem Fenster war kein Security zu sehen. Zögerlich fasste ich nach seiner Hand, hielt sie eine Weile und sagte dann, als könnte er sich so vergewissern: »Sie ist warm.«
Nachdem er zur Tür hinausgegangen war, hatte ich das Gefühl, ich hätte ihm mit diesem Händedruck ein Versprechen gegeben. Vielleicht rührte dieses Gefühl aus der Verbindung, die wir bereits miteinander hatten, vielleicht rührte es auch aus einer Empfindung von Schuld, weil mir während des Gesprächs bewusst geworden war, inwieweit ich selbst einen Anteil daran hatte, dass sich ihm das Gesicht abschälte, wie er sagte, daran, dass er zunehmend seine Existenz anzweifelte. Vor allem aber waren es doch die Razzien der Polizei, die ihn dazu zwangen, seinen Körper nun nächtlich zum Verschwinden zu bringen, indem er sich in einem Spalt verbarg, dort möglichst regungslos und unscheinbar verharrte. Mir schien, dass vor allem dieses Verschwinden, das er sich selbst antun musste, für seine Dissoziationen verantwortlich war. Dabei war er noch so jung, gerade erst ausgewachsen; wenn er sich nicht rasierte, war der Bart auf seinen Wangen ja eher noch ein Flaum, und doch gaben die Flecken darin ihm den Anschein einer Versehrung, ließen ihn abermals altern wie zuvor sein neuer Pass, dem zufolge er bereits volljährig war und auch hier nun keinen Anspruch auf Schonung hatte.
Schon als mir Herr Rahim in der Halle von der Änderung seines Geburtsdatums durch die österreichischen Behörden erzählt hatte, hatte ich mich gefragt, was sich an den Knochen eigentlich ablesen ließ. Immer wieder in der Geschichte hatte das Unrecht die Medizin in seinen Dienst genommen – einer der Gründe für mein tiefes Misstrauen gegenüber Dopaminspiegeln, Tabletten, der Psychiatrie.
Um mich nach den Möglichkeiten einer Altersänderung zu erkundigen, rief ich im Sozialarbeitsbüro an, doch es war schon nach sechs Uhr und das Büro anscheinend nicht mehr besetzt. Kurz überlegte ich, mich an Ines zu wenden, die jederzeit aus der Halle zurückkommen musste, ließ es dann aber doch, ich hatte Sorge, sie würde die Arztbriefe Herrn Rahims als Beleg für seine Volljährigkeit heranziehen. Schließlich sagte ich die abendliche Verabredung mit Anna für das Theater ab, die wir einige Tage nach ihrem Vortrag vereinbart hatten, recherchierte stattdessen zu Hause im Netz, eine Styroporschachtel mit gebratenem Reis auf meinem Schoß, klickte mich durch sämtliche Foren zu minderjährigen Geflüchteten, führte im Lesen die Gabel zum Mund. Ich durfte keine Zeit verlieren: Jede Nacht wuchs die Gefahr, dass die Polizei beim Durchkämmen der Kabinen ihr Augenmerk auf Herrn Rahim richtete, sein Gesicht mit den Kopien der Ausweise abglich.
Während allmählich der rötliche Schein über den gegenüberliegenden Giebeln erlosch, die Dämmerung sich in die Straßenschlucht herabsenkte, der libanesische Imbiss hinter dem Ladenfenster Spülwasser in den Pfannen schwenkte und schließlich die Rollläden herunterließ, starrte ich unentwegt auf meinen Rechner, machte auf einem Collegeblock ab und zu eine Notiz, bis meine Au-gen vom Blenden des Bildschirms wie entzündet waren. Ich hatte in der aufkommenden Dunkelheit in meinem Zimmer keine Lampe angeknipst, und als ich nun an mir herabblickte, war mein Körper in bläuliches Licht getaucht, ein Phantom. Ich öffnete und schloss die Hände wie seltsame Blüten, sog den Atem tief ein, bis mein Bauch sich wölbte über dem Hosenbund, fühlte an den Gelenken meinen Puls. Sobald ich das Pochen zwischen den Sehnen spürte, rückte ich den Stuhl wieder an den Tisch heran, fuhr umgehend mit meiner Liste fort, Revidierung der amtlichen Altersfestsetzung: 1) vor Gericht Antrag stel-len auf Vormundschaftsperson, 2) Jugendhilfe beantra-gen, 3) durch Altersvormund Altersfeststellungsverfahren einleiten, 4) durch Jugendhilfe Altersfeststellungsverfahren einleiten, 5) Erstellung medizinischer Altersgutachten, 6) sämtliche Dokumente und medizinische Altersgutachten bei der Ausländerbehörde einreichen, durchschnittliche Bearbeitungsdauer: 6–12 Monate.
Mein Handy leuchtete hell auf; Anna hatte mir geschrieben, das Stück sei nun vorbei, sie würde mit ein paar Freunden von der Uni noch weiterziehen auf einen Drink. Ob ich mich nicht anschließen wolle? Ich zog meine Beine auf den Stuhl und legte das Handy auf dem Tisch ab, umklammerte mit den Armen meine Knie. Während ich so dasaß, stellte ich mir die Runde vor, die Studierenden in Secondhand-Kleidern, denen man zugleich die Feinheit des Textils ansah, im behaglichen Licht von Schirmlampen versammelt um einen Tisch. Ich stellte mir vor, wie sie einander zuprosteten, das Glas erhoben, wie sie dann die Inszenierung besprachen, herzlich lachten über dies und das. Lange schon war ich nicht mehr aufgegangen in einem Gespräch. Die wichtigsten Stichpunkte des Verfahrens zur Altersfeststellung hatte ich vermerkt, es würde mir sicher guttun, etwas unter die Leute zu gehen, mit ihnen über die Aufopferung der Iphigenie zu diskutieren, die Besetzung der Figur, die Rolle der Frau, es würde mir sicher guttun, auf andere Gedanken zu kommen.
Doch dann schien mir wieder, dass mir diese Themen im Moment fremd waren, und das, was mich nun umtrieb, war in einer Bar im Zentrum, an mit kristallenen Aschenbechern bestandenen Mahagonitischen womöglich etwas schwer zu vermitteln. Ich legte den Kopf auf meine angewinkelten Knie, spürte an meinem Kinn den groben, aufgeriebenen Stoff der Jeans. Sie war verschlissen, aber dabei in keiner Weise ausgefallen, lange hatte ich keine Gedanken mehr darauf verwendet, welche Kleidung ich trug, hatte zur Jeans ein schlichtes T-Shirt angezogen, nichts Besonderes. Ich warf einen Blick auf den Collegeblock, ging über die Liste, Altersfeststellungsverfahren, Gutachten, Bearbeitung: Was mich umtrieb, schien mir nicht feingeistig genug, als dass ich es in diese Abendrunde tragen könnte, statt der intellektuellen Aura eines Theaters haftete ihm die Aura staubiger Beamtenstuben an, und ich fürchtete, dass sie bereits auf mich übergegangen war. Weiter starrte ich auf die Liste, merkte, dass meine Augen glasig waren und brannten, auch der Wein würde ihnen ihren Glanz vermutlich nicht mehr zurückgeben. Mir fiel auf, dass zwischen der Einleitung der Altersfeststellung und dem medizinischen Gutachten noch ein Verfahrensschritt fehlte. Ich zog eine leichte Windjacke über, holte mir beim Kiosk vor dem Haus ein Bier und nahm mir vor, die Lücken in der Liste zu füllen bis morgen früh.
»Muss ich meine Geschichte dafür noch einmal erzählen?« Am nächsten Morgen hatte ich Herrn Rahim in seiner Kabine aufgesucht, kopierte gerade seine beiden Pässe für den Antrag, den ich gleich darauf mit der Sozialarbeit zu besprechen plante. Ich wiegte den Kopf, in den meisten Foren hatte ich gelesen, dass es auch eine Anhörung gab, auch wenn ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob es sich dabei nicht um die übliche Anhörung im Rahmen des Asylverfahrens handelte. Ich nahm die Pässe vom Kopierer, drückte sie ihm in die Hand: »Ich fürchte, ja.« Er presste die Lippen so stark zusammen, dass in ihrem Umfeld das Blut aus der Haut entwich: »Lieber verstecke ich mich, als meine Geschichte noch einmal zu erzählen.« Er starrte an mir vorbei in eine unbestimmte Ferne: »Ich kann sie auch gar nicht noch einmal erzählen, sie ist mir davongeflogen.« Ich nickte, doch es versetzte mir einen Stich. Verübelte ich ihm, dass er sich nicht von mir helfen ließ?
Während er die Pässe in seine Hosentasche schob, sagte ich, ich könne gleich im Sozialarbeitsbüro anrufen und überprüfen, ob ein solches Altersfeststellungsverfahren nicht auch ohne eine Anhörung möglich sei, aber obwohl ich doch vor ihm stand und deutlich sprach, hatte ich den Eindruck, ihn nicht zu erreichen, er war wie weggetreten: Allein das Wort Altersfeststellungsverfahren drängte ihm nun scheinbar seine Vergangenheit auf, und wenn ich es noch einmal sagte, das war mir plötzlich klar, würde ich ihn nicht wiedersehen. Im Nachhinein gewinnt Herrn Rahims Sträuben an Bedeutung, auch wenn seine Vergangenheit ein Rätsel bleiben wird; ihre Unsäglichkeit machte eine Rückkehr für ihn wohl undenkbar.
Ich weiß nicht, ob es noch um ihn oder nicht schon längst um mich ging, ob ich meinte, ihm helfen zu müssen, weil auch mir selbst sonst nicht mehr zu helfen war. Jedenfalls beschloss ich, Ines den Fall darzulegen; selbst wenn sie die Radiographie seiner Hand zum Beleg seiner Volljährigkeit nehmen sollte, befand er sich doch noch an der Schwelle zum Erwachsenen, war noch ein halbes Kind. Als Protokollantin hatte ich ein Gespräch über einen kleinen Jungen mitbekommen, ich wusste, wie stark Ines auf Kinder reagierte, und hoffte, sie damit zu ködern.
Ein Paar aus Moldawien war mit seinem Sohn ins Büro gekommen, dessen Augen in den letzten Jahren schleichend erblindeten; sie waren nach Deutschland geflohen, da sie sich Hilfe erhofften vom hiesigen Gesundheitssystem. Der Arztbrief bemerkte jedoch, die Erblindung sei keine akute, sondern chronisch; da sie kein Bleiberecht hatten, stand ihnen nur im Notfall eine Behandlung zu. In beiden Augen des Jungen war die Iris milchig, doch er trug keine Brille, blinzelte mit verschleiertem Blick ins Licht, während die Mutter uns ein Bild über den Tisch schob, das, wie sie sagte, ihr Sohn gemalt habe: Menschen in verschiedenen Farben waren darauf zu sehen, in beige und lila, in braun und grün, jeder in eine Wolke bizarrer Buchstaben eingehüllt, ein Wirrwarr der Sprachen, und über dieser Versammlung war der Himmel aufgespannt als eine blaue Haut, die alle Menschen vereinte wie in einem Leib. Als Ines auf das Bild blickte, zog etwas Weiches in ihre Züge ein, die Falten um ihren Mund wurden milder, ihre Lippen öffneten sich leicht. Sie gab der Mutter das Bild zurück und sagte, sie werde sehen, was sich machen lasse, und in der Tat erstellte ein mit ihr befreundeter Arzt dem Jungen einige Tage später ein Attest, in dem »akute Erblindung« vermerkt war. Nachdem sie die Tür hinter der Familie geschlossen hatte, sagte Ines, die Klinke noch in der Hand: »Kinder können mich präfrontal ausschalten.«
Doch als Ines nun zurück ins Büro kam, musste ich mich mit dem Gespräch über Herrn Rahim zunächst gedulden, da Uwe gerade bei ihr war und ihr den neuesten Kriminalfall unterbreitete. Er hielt ihr eine Ausweiskopie vors Gesicht und erzählte, in der Wäsche dieses Gasts habe man in der Abteilung Hygiene einen mit feinem Pulver befüllten Beutel gefunden, von dem der Besitzer behaupte, dass es sich dabei um Natronpulver zur Kurierung seines Refluxleidens handele. Uwe schüttelte ungläubig den Kopf: »Meinst du, der Gast ist vielleicht wirklich so zurückgeblieben, dass er noch immer diese Steinzeitmedikamente einnimmt, oder soll ich Direktion 17 verständigen?« Mich fragte er nicht nach meiner Meinung; vielleicht erinnerte er sich noch an den vergeblichen Versuch, mit jenem Polizeieinsatz vor mir zu glänzen, bei dem er den vermeintlichen Al-Qaida-Terroristen überführt hatte.
Als er endlich verschwunden war, setzte ich Wasser für einen Tee auf und erzählte Ines von Herrn Rahim. Ich fragte, ob wir wegen seines Alters nicht eine Ausnahme machen könnten. Mit einem Seitenblick zur Tür, durch die Uwe soeben das Büro verlassen hatte, fügte ich hinzu: »Wir könnten ihm doch eine andere Kabine zuweisen, natürlich nur vorübergehend, das müsste man ja nicht unbedingt aufnehmen ins System.« Ines legte den Stift an ihre Lippen, als würde sie es bedenken. Ich fixierte eine Postkarte, die neu über ihren Rechner gepinnt war. Unter dem Schriftzug »Many Greetings from Costa Brava« sah man bunte Fischerkähne in einem azurblauen Hafenbecken, die an der Kaimauer einer Promenade vertäut waren.
Ines seufzte und nahm den Stift von ihren Lippen: »Wenn wir ihm vorsätzlich ein anderes Bett geben und das System nicht aktualisieren, ist das ein Eingriff in das politische Verfahren, also illegal. Die Leitung muss Rechenschaft ablegen vor den Behörden, vor der Stadt.« Mit dem Stift fuhr sie durch die Luft, als diktierte sie ein Amtsschreiben: »Wir bekommen einen Eintrag im Führungszeugnis, werden vielleicht sogar entlassen bei einer solchen Gesetzeswidrigkeit.« Sie ließ den Stift sinken. Mir fiel wieder ein, dass sie vor Antritt dieser Stelle ein Jahr lang arbeitslos gewesen war.
Ich hörte, wie das Wasser im Kocher siedete, sich dann wieder beruhigte, als der Schalter umsprang. Der Earl Grey war leer, doch Ines hatte das Teefach anscheinend mit neuen Sorten gefüllt: Neben der alten angebrochenen Packung Weihnachtszauber standen nun eine Packung Wohlfühltee, Rooibos-Vanille und Sweet Kiss. Ich entschied mich, lieber heißes Wasser zu trinken, brühte für Ines einen Rooibos-Tee auf und reichte ihn ihr: »Gibt es denn keine Lücken im Gesetz?« Mit spitzen Fingern nahm sie die Tasse entgegen: »Wir dürfen den Gästen zwar nicht empfehlen, vor der Polizei einen Suizid zu inszenieren, aber wir dürfen sie sehr wohl darüber aufklären, dass man bei Selbstgefährdung als reiseunfähig gilt.« Sie fischte den Teebeutel aus dem Wasser, drückte ihn am Tassenrand aus: »Vom Sozialarbeitsbüro habe ich auch eine Liste mit Anlaufstellen für besonders junge Geflüchtete. Leider haben die zurzeit kaum Kapazitäten und können selten etwas gegen eine Rückführung ausrichten, aber du kannst sie ja zumindest mal anrufen.« Sie pustete in das dampfende Teewasser, und ich musste unwillkürlich daran denken, dass man auf diese Weise die aufgeschürften Knie eines beim Spielen gefallenen Kindes kühlt.