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Als Herr Rahim das nächste Mal ins Büro kam, erzählte er, dass er am Tag zuvor zur Stoßzeit in einen Bus in Richtung Stadtzentrum gestiegen sei. Er habe den einzigen alleine sitzenden Fahrgast gefragt, ob er sich neben ihn setzen könne, doch dieser habe erwidert: »Wie Sie sehen, ist hier schon besetzt«, sich dann den Sitzenden vor sich zugewandt, mit denen er anscheinend schon bekannt war. Sie hätten sich halblaut unterhalten und zwischendurch kurz und scharf aufgelacht, ihm über die Lehnen hinweg Blicke zugeworfen. Noch mehrmals habe er, die Haltestange fest umklammernd, das Wort »besetzt« vernommen, und auch Herr Rahim wiederholte nun halblaut: »besetzt, besetzt«. Diese Wiederholung ließ mich aufmerken, sie schien mir etwas paranoid. Aber legten seine Umstände die Paranoia nicht auch nahe? Er war ja tatsächlich permanent in Gefahr, und es gab keine schützende Instanz, an die er sich wenden konnte. Wo war hier also die Grenze zu ziehen zwischen gesundem Argwohn und paranoidem Wahn?

Auch mir begegneten die Gäste öfter argwöhnisch, selbst ein kleines Mädchen, das beim Mittagessen einmal zu mir auf die Bierbank geklettert war und sich zunächst zutraulich an mich geschmiegt hatte: Während ich gerade eine Gabel mit Möhrenraspeln zum Mund führte, blickte sie von meinem Schoß her zu mir auf, schielend, wie mir aus dieser Nähe auffiel. Ihre Augen waren unterschiedlich ausgerichtet, als erfasse sie gleichzeitig Verschiedenes. Drei Fragen richtete sie aus dieser scheinbar zugeneigten Haltung heraus an mich: Kurdisch oder Arabi? Wohnst du drüben oder hier? Und zuletzt, eine Mandarine in ihrer kleinen Hand emporhaltend: halal oder haram? Der arabische Sprachmittler, der mir gegenüber saß, nickte anerkennend: Das Mädchen, das mir kaum bis zur Hüfte reichte, habe in einem Zug Religion, kulturelle Gruppe und Zugehörigkeit zum Personal abgefragt. Sobald das Mädchen ausfindig gemacht hatte, welcher Seite ich angehörte, tastete sie meine Hosentasche nach dem Dienstschlüssel ab, bettelte: »Darf ich ihn haben? Nur ein einziges Mal?«

Während hinter Herrn Rahim ein Flugzeug aufstieg, erzählte er mir nun, was sich in seinen Augen in der Unterkunft zutrug: Er behauptete, die beiden Securitys an Tor C hätten es auf jene Gäste abgesehen, denen man das Weiße Papier zugestellt hatte, steckten unter einer Decke mit der Polizei. Seit auch er nun das Weiße Papier erhalten habe, registrierten sie jede seiner Bewegungen, ihre schneidenden Blicke verfolgten ihn bis in den Schlaf; er träume, vor einem Tribunal zu stehen, wie er es in Serien gesehen habe, doch niemand erkläre ihm, für welches Vergehen man ihn anklage. Bei diesen Worten kratzte er mit seinem Daumennagel an seinem Bart, so heftig, dass ich fürchtete, die Stoppeln würden ihm dort ebenfalls ausfallen.

Ich erinnerte mich, dass sich diese beiden Securitys, wenn ich vorbeikam, gegenseitig Verwünschungen zuwarfen, während sie einander auf den Screens ihrer Handys in Kampfmontur mit Schusswaffen nachstellten. Auf ihren Tischen standen Proteinshakes, und wenn sie sich gerade nicht die Köpfe wegbliesen, machten sie an den freiliegenden Rohren längs der Wände Klimmzüge. Einer der beiden hatte mir einmal zugerufen, ob er nicht gut trainiert sei, und auf mein Augenrollen hin zwinkernd »Frau Doktor« hinzugefügt; trotz ihres Getues waren sie immer freundlich zu mir gewesen.

Herr Rahim fuhr fort, als er vor ein paar Tagen abends an ihrer Position vorbeigegangen und dann linkerhand in jenen Trakt abgebogen sei, der nicht zu seiner im System verzeichneten Kabine, sondern zu jenem Spalt führe, in dem er Zuflucht suche in der Nacht, hätten eben jene Securitys die Köpfe zusammengesteckt und der eine habe mit dem Zeigefinger auf ihn gewiesen. Stirnrunzelnd nickte ich, als folgte ich ihm gedanklich, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass jene Securitys hinterrücks gegen jemanden vorgingen; ihr zur Schau gestelltes Kräftemessen hatte doch auch etwas Aufrichtiges. Von anderen Securitys hatte ich schon alles Mögliche gehört, dass sie weibliche Gäste nötigten, mit ihnen heimzugehen, ihnen ansonsten den Schutz verwehrten, Ärgeres noch. Andere Securitys taten meinetwegen alles Mögliche, dachte ich mir, aber doch nicht sie.

Er habe sich an den Schichtleiter gewandt, sagte Herr Rahim, doch der Schichtleiter habe nur gemeint, es sei ein Missverständnis, dass die Securitys der Polizei zuarbeiteten. Zwar würden sie diese nachts zu den Kabinen begleiten, jedoch nicht, um die Gäste aufzuspüren, sondern ganz im Gegenteil zu ihrem Schutz, und auch die Polizei wolle ihnen keinen Schaden zufügen. »Der Schichtleiter hat zu mir gesagt, er ist nicht für und nicht gegen die Polizei, er hat gesagt, die Polizei erfüllt wie er nur ihren Auftrag.« Die letzten Worte sprach Herr Rahim gestochen aus, mit der Präzision eines Bürokraten. Ich kniff die Augen zusammen, als ob das Folgen mich anstrenge. Herr Rahim lachte trocken auf, und ich sagte, dass der Schichtleiter es sich damit aber etwas leicht mache. Dabei hatte ich gut reden, schließlich war ich genau wie Uwe verpflichtet auf das von den Polizisten ausgeführte Gesetz.

Warum also sollte Herr Rahim mir vertrauen, insbesondere wenn er sich fast schon wahnhaft hintergangen fühlte? Bildete ich mir ein, wir müssten besonders verbunden sein durch unsere Unterhaltungen in der Halle, durch die Berührung seiner Hand? Nach dem Gespräch mit Ines hatte ich beschlossen, ihn in Kenntnis zu setzen, dass er bei Selbstgefährdung reiseunfähig sei. Zum Rasieren seines Bartes verfügte er sicher über eine Klinge; ich musste sie ihm nicht selbst in die Hand drücken, die schon einmal für einen Verrat verwendet worden war und in die ich ihm zuvor versprochen hatte, etwas gegen sein Gefühl des Verschwindens zu tun. Schließlich überwand ich mich: »Wenn Sie vorgeben, sich etwas anzutun, zum Beispiel mit einer Rasierklinge, dann darf die Polizei Sie nicht abschieben.« Auch wenn ich es gut meinte, stand mir das Bild mei-ner gereichten Hand vor Augen, in der eine Klinge verborgen war.

Gut möglich, dass Herr Rahim ohnehin längst darum wusste. Aus seinem Gesicht war nichts zu lesen, aber auf einmal schwieg er, obwohl er zuvor doch ohne jede Aufforderung von einem aufs andere gekommen war. Fast aufdringlich laut hörte ich die Rotorblätter des Ventilators durch die Luft schneiden. Damit dieses Schweigen nicht weiter zwischen uns stand, meinen Rat in einen Verrat verkehrte, legte ich nach, nannte ihm die Namen sämtlicher Beratungszentren und Anlaufstellen, die auf der Liste des Sozialarbeitsbüros vermerkt waren. Reihenweise hatte ich sie durchtelefoniert, doch die meisten hatten sich nur vielmals bei mir entschuldigt und darauf verwiesen, dass sie bereits ausgelastet seien.

So war es auch bei einem Verein gelaufen, der von Abschiebung bedrohte Minderjährige an Privatpersonen vermittelte, die sie in ihrer Wohnung aufnahmen bis zum Verstreichen des halbes Jahrs, nach dem eine erneute Antragstellung möglich war. Ich hatte der Frau am Apparat von Herrn Rahim erzählt und ihr erklärt, dass man sein Alter hochgesetzt hatte. Nun drückte ich ihm einen Zettel mit der Adresse der Anlaufstelle in die Hand, als machte ich so die zuvor empfohlene Klinge ungeschehen: »Zwar sind Sie im Moment noch auf Listenplatz 17, aber vielleicht bewirkt es etwas, wenn Sie persönlich dort vorbeigehen.« Höflich bedankte er sich, nahm dann die Papiere von seinem Schoß und schob sie mit den Innenflächen seiner Hände auf dem Tisch zusammen. Zeichnungen von Au-gen säumten den Rand. Ich fragte mich, ob er sie bereits zuvor gezeichnet hatte, oder beiläufig während unseres Gesprächs.

In der darauffolgenden Nacht ließ mir das Bild seines in einen Spalt gezwängten Körpers keine Ruhe, wie er da kauerte, mit flachem Atem, bis zum Anspringen der Leuchtstoffröhren im Morgengrauen. Ich hoffte und bangte zugleich, eine Notiz im Schichtbericht zu finden, dass man seine Karte geschreddert habe; nur die Uhrzeit hätte mir dann einen vagen Hinweis darauf gegeben, ob er der Polizei zuvorgekommen oder durch ihr Zutun verschwunden war. Und selbst, wenn seine Karte zu einer für die Razzien unüblichen Zeit geschreddert worden wäre, könnte ich mir nicht sicher sein, ob er nicht vielleicht bei jenem Verein untergekommen war oder doch untergetaucht im Park. Manche Geflüchteten überwinterten dort sogar; immer wieder wurde ein Zelt von Dienstkräften des Straßen- und Grünflächenamtes unter den ausladenden Fächern einer Kiefer, in einer dicht bepflanzten Föhrenschonung, ausgemacht und weitergemeldet an die Polizei, die auch hier mit der Hundestaffel fahndete.

Als ich am nächsten Morgen Herrn Rahims Code in das System eingab, sah ich, dass sein Bett nach wie vor belegt war. Während ich auf das Lichtbild starrte, das mit jenem auf dem Weißen Papier identisch war, sein noch in Flaum gehülltes Gesicht durch den Blitz seltsam entstellt, gespenstisch fast, entspannten sich meine Muskeln, ich verspürte Erleichterung. Und auch die kommenden Wochen vergewisserte ich mich morgens nach meiner Ankunft auf diese Weise, dass er noch immer zugegen war, dass es noch immer die Möglichkeit eines guten Ausgangs gab, auch wenn Herr Rahim sich meinen Blicken nun entzog und ich davon ausgehen musste, dass die von ihm gezeichneten Augen auf mich übergegangen waren, davon, dass er meiner Empfehlung misstraut hatte. Es sollte eine Weile dauern, bis ich ihn wiedersehen würde.

Eine Woche nach jenem Gespräch mit Herrn Rahim fand ich auf der Suche nach seinem Code im Schichtbericht eine Notiz, dass man den Securitys an Tor C gekündigt habe, da auf ihrem Tisch für Gäste mit Weißem Papier ein abweichender Belegungsplan entdeckt worden sei: Anstatt der Belegung gemäß System habe der Plan die Belegung gemäß dem tatsächlichen nächtlichen Aufenthaltsort einschließlich der Sanitärcontainer vermerkt. Zwar seien Securitys laut Gesetz befugt, den Aufenthaltsort der Gäste an die Polizei weiterzugeben, um einen so präzisen Plan zu entwerfen, hätte man ihnen jedoch nachstellen müssen. Die Securitys durften ihren Platz laut Vertrag aber nicht verlassen, waren gebunden an ihre jeweilige Position, hier Tor C. Mit dem Verstoß gegen diese Auflage rechtfertigte man ihre Kündigung.

Eines Abends machte ich auf dem Heimweg noch einen Abstecher ins Stadtzentrum. Ich nahm nicht wie sonst den Bus, sondern passierte die Brücke zu Fuß, bog hinter den Reihenhäusern in die Kleingartenkolonien ein, in denen Leute um diese Uhrzeit an ihren Schuppen werkelten und Planschbecken aufpumpten, Grills anfachten und auf den Feierabend anstießen. Die schwindende Sonne ließ den Sprühregen der Sprinkleranlagen glitzern und tauchte die Flugzeuge, die über mich hinwegschwebten, in goldenes Licht, wie aus der Anzeige eines Reiseveranstalters geschnitten.

Ich weiß nicht, wie lange ich so ging, die Gärten wichen ausgedehnten Wohnvierteln, es war, als könne die Entfernung mir nichts mehr anhaben; mit jedem Schritt wurde ich leichter, beschwingter, ließ das andere Ufer, die Unterkunft weiter hinter mir.

Zum Zentrum hin wurden die Mietskasernen von Bürokomplexen, Kaufhäusern abgelöst, ich stieß auf eine weitläufige Mall, die einen Mediamarkt, Textilwarengeschäfte und Drogerie-Shops zusammenschloss, und in deren unzähligen Flügeln und Etagen ich schon früher oft ziellos umhergeirrt war. Auch diesmal schaute ich durch Auslagen und Kleiderständer, ohne tatsächlich etwas zu sehen, während aus den Boxen ein dumpfer Bass an mein Ohr drang und ich den synthetischen Geruch des Elastans unter den schimmernden Pailletten einatmete. Wie ein Betäubungsmittel wirkte all das auf mich.

Auf einmal aber bemerkte ich die über der Kasse und den Umkleiden installierten Kameras, die mir zuvor nie aufgefallen waren. Obwohl ich wie sonst weiter wahllos Kleiderstücke aus den Regalen griff, setzte die sedierende Wirkung der Dämpfe und Klänge nicht mehr so recht ein. Ich konnte mich nicht mehr vergessen in der Anonymität dieses Komplexes, in dem niemand mich je angesehen oder wiedererkannt hatte, in dem ich meinte, keine Geschichte zu haben und kein Gesicht. Spätabends in meiner Wohnung bereute ich, dass ich vor den Fenstern, die zur Straße hinausgingen, keine Vorhänge angebracht hatte.