13

Im Nachhinein hat der Fluss für mich beinah etwas Mythisches: Er ist nicht mehr nur ein Gewässer zwischen dem Zentrum der Stadt und ihrer Peripherie, sondern ein Fluss, der zwei Sphären voneinander trennt, ein Diesseits von einem Jenseits. Dieser Mythos hat meine Bilder von jenem Ort verzerrt. Ich frage mich, warum der Fluss für mich so mythisch, das andere Ufer für mich so surreal geworden ist – verkläre ich ihn, weil ich das Geschehene nicht wahrhaben will? Oder birgt diese Verklärung umgekehrt eine Wahrheit, die nicht offensichtlich ist, sich erst in der Erfahrung offenbart? Es wurde immer schwerer für mich, vom anderen Ufer zurückzukehren. Ich fuhr nach Hause, doch die Unterkunft folgte mir oft bis in den Schlaf.

Besonders eindrücklich erfuhr ich das bei Frau Camara, einer jungen Guineerin, die eines Morgens zu uns ins Büro kam, was in dieser Unterkunft eher eine Ausnahme darstellte; bis auf einige Familien waren hier vor allem alleinreisende Männer untergebracht. Schnell stellte sich heraus, dass wir keine Sprachvermittlung brauchten, da sie fließend Französisch sprach. Ich meinte, sie schon einmal auf der Heimfahrt durch das Fenster des Busses gesehen zu haben, wie sie in der Dämmerung an einer Ausbuchtung des Ufers stand und Schwäne mit einem der Pitafladen fütterte, die mittags an der Essensausgabe verteilt wurden. Die Tiere kamen nah heran, fraßen ihr beinah aus der Hand. Nun erkannte ich sie wieder an ihrer von Schnitten durchzogenen Leggins, die mir aus der Ferne ins Auge gefallen war und die sie auch jetzt über strassbesetzten Flipflops trug. Zwar waren solche Hosen vor ein paar Sommern in Mode gewesen, doch da sich um die Löcher herum Fasern lösten, wie mir nun auffiel, ging ich davon aus, dass sie diese Schnitte dem Textil eigenhändig zugefügt hatte. Sie verliehen ihr zugleich den Anschein von Verletzlichkeit wie auch einen Hauch von Punk, ein seltsames Zusammenspiel, das mich beschäftigte, während ich ihre Daten notierte. Als sie mir einen Brief über den Tisch reichte, sah ich ihren schwarzen Nagellack, der teils aufgesprungen und abgesplittert war.

Das von einem Bundesamt ausgestellte Schreiben vermerkte, Frau Camara habe angegeben, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Um Widerspruch gegen ihre Rückführung einzulegen, habe sie bis zum Beginn des Folgemonats (wir hatten den dreiundzwanzigsten) ein entsprechendes psychiatrisches Attest vorzuweisen, ansonsten werde gemäß aktuellem Aktenstand das Verfahren eingeleitet. Auf dem Poststempel war als Datum der achtzehnte eingeprägt. Frau Camara erklärte, sie sei bereits in der Klinik gewesen, habe der Psychiaterin dort das Schreiben gezeigt, doch die habe nur gesagt, sie dürfe keine Atteste ausstellen zur Vermeidung der Rückführung, sie dann nach Ort und aktuellem Wochentag befragt, nach ihren Essgewohnheiten und ihrem Schlaf. Frau Camara habe ihr erzählt, dass sie beinah jede Nacht schweißgebadet aufschrecke, doch die Ärztin habe ihr bloß Tabletten mitgegeben. Während sie sprach, kratzte sie am Lack ihrer Nägel, schwarze Splitter lösten sich, rieselten herab.

»Können Sie mir nicht bescheinigen, dass ich psychisch krank bin?« Ich gab ihr das Schreiben zurück: »Als Psychologin kann ich Ihnen leider kein Attest ausstellen.« Sie presste ihre Lippen zusammen, und um nur irgendetwas in Aussicht zu stellen, fügte ich hinzu: »Ich kann mit der Klinik telefonieren und darauf drängen, dass die Psychiaterin sie noch einmal begutachtet.« Sie nickte, doch ich zögerte, bevor ich weitersprach: »Meine Forderung ist natürlich dringlicher, wenn ich betone, dass Sie die entsprechenden Kriterien für eine Diagnose erfüllen. Ich müsste dann also einige Symptome abfragen.« Sie nickte wieder, diesmal ausdrücklich, als spüre sie mein Unbehagen.

Im Kopf ging ich das Arsenal der Begriffe durch, die ich in ihrem Fall zum Einsatz bringen konnte. Das allnächtliche Aufschrecken deutete auf rekurrierende Albträume hin, welche ein Kriterium für eine posttraumatische Belastungsstörung waren, in Kombination mit Flashbacks, Amnesien, Dissoziationen, Schlaf- und Aufmerksamkeitsstörungen, gesteigerter Vigilanz.

»Zumindest einige einschlägige Kriterien müssten Sie für eine Diagnose erfüllen«, sagte ich. Sie nickte, wippte nervös mit ihrem Fuß.

Ich nahm Stift und Block zur Hand: »Wie steht es momentan mit Ihrem Schlaf?« Trotz der verordneten Tabletten würde sie erst am frühen Morgen in den Schlaf finden, antwortete sie.

»Haben Sie eine ständige Wachsamkeit bei sich festgestellt, eine Art allzeit eingeschalteter Radar?« Frau Camara erwiderte, sie kenne ihren Körper, wenn sie sich nicht erhole, überkomme sie eigentlich Müdigkeit, doch nun sei sie trotz des Schlafmangels hellwach, so wach, dass sie sogar zu blinzeln vergesse.

»Ist Ihre Konzentration dennoch eingeschränkt?«

»Ich bin abwesend, obwohl ich anwesend bin«, antwortete sie bedacht. Ich staunte, wie gewandt sie die teils widersprüchlich wirkenden Kriterien zugleich zu erfüllen wusste. So konnte ich die Punkte für die Klinik ausführen, hakte sie nicht nur ab.

Während sie auf ihre Hände blickte, begann sie zu erzählen, dass sie sich mit ihrem Bruder von Guinea aus auf den Weg nach Libyen gemacht habe. Dort habe sie Schlepper für die Überfahrt bezahlt, doch sobald sie an Bord gegangen wären, hätten sie festgestellt, dass der Rumpf des Kutters marode war und leckte. Ein junger Mann sei zurück an Land geschwommen, wo die Schlepper ihn abfingen und mit einem Sack über dem Kopf auf die Ladefläche ihres Jeeps verfrachteten.

»Wir haben die Wahl gehabt zwischen dem Tod an Land und dem Tod zu Wasser. Wir haben Letzteres gewählt.« Sie sagte es dahin, als gehe es um etwas Belangloses, wie die Wahl zwischen passierten und gewürfelten Tomaten etwa, doch mich überkam unwillkürlich Traurigkeit angesichts der Vorstellung dieses ausweglosen Meers, dessen Salzatem für mich bisher Freiheit bedeutet hatte.

Frau Camara fuhr fort, dass der Kutter etwa einen halben Tag, nachdem er losgemacht habe, durch das hereinsickernde Wasser langsam gesunken sei. Sie hätten alle möglichen Rettungsdienste angerufen, sowohl die libysche als auch italienische Küstenwache kontaktiert, über Google ihren Standort durchgegeben, doch auch am darauffolgenden Tag hätte sich am Horizont nichts geregt. Das Trinkwasser sei zur Neige gegangen, vor Durst hätten sie mit Plastikflaschen, um die sie aneinandergeknüpfte Schuhbänder knoteten, das salzige Meerwasser geschöpft.

Bis zu diesem Punkt ihrer Erzählung hatte ich versucht, die Auslieferung an die schaukelnde See anhand eigener Eindrücke nachzuempfinden. Ich hatte wieder daran gedacht, wie mich die Ansicht eines Gebirges, eines Ozeans meine Verwandtschaft mit den flüchtigen Stoffen spüren ließ, die Angreifbarkeit meiner Substanz. Doch all das waren nur unbeholfene Abstraktionen gewesen, wie mir nun klar wurde, als sie auf das getrunkene Meerwasser zu sprechen kam und aus meinem blinden Inneren auf einmal Übelkeit aufstieg, eine Übelkeit, die mir die Sprache verschlug. Ich hatte von der Intelligenz der Eingeweide gelesen, den feinen Antennen der Schleimhäute. Handelte es sich bei meiner Übelkeit um eine brachiale Form der Einfühlung? Um das Ärgste zu verhindern, dachte ich zwanghaft an das ätherische Zitrusöl, das Ines abends nach dem letzten Gespräch versprühte, atmete tief ein und aus, ein und aus.

Der Bauch des Bootes sei immer weiter vollgelaufen, es habe sich immer gefährlicher geneigt, bis das Wasser schließlich durch die Bohlen des Decks gedrungen sei. Seite an Seite mit ihrem Bruder habe sie versucht, es herauszuschöpfen, er mit seinen zuvor in Tripolis gekauften Nikes, sie mit der Basecap, die er ihr gegeben habe, da ihre Schuhe zu klein waren. Doch gegen das Wasser seien sie nicht angekommen, immer weiter sei es gestiegen, habe ihnen am Ende bis über die Knie gereicht. Verstohlen musterte ich ihre Erscheinung über den Rand meines Blocks hinweg, knapp über ihren Kniescheiben befand sich der letzte Einschnitt ihrer Leggins.

»Wir haben keine Rettungswesten gehabt wie manche anderen, und da mein Bruder einige Jahre jünger gewesen ist als ich, hatte er in der Schule noch keinen Schwimmunterricht.«

Sie brach nun ab, und in ihrem Schweigen klang die Zeitform nach, die sie gerade verwendet hatte, im letzten Satz hatte sie dem »a« ein »été«, ein »gewesen«, hinzugefügt. Es kam mir vor, als ob ich sie in der Lücke zwischen diesen beiden Worten verloren hatte, noch immer starrte sie auf ihre Hände hinab, schwieg. Ich versuchte, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren, blickte auf den Block vor mir, die Liste der Symptome, Amnesie, doch ich wollte sie nicht fragen, ob sie sich an das Verschwiegene erinnern konnte.

Sie fuhr fort, dass sie wieder zu sich gekommen sei unter den Krananlagen eines Industriehafens. Erst als ihre Glieder zu schlottern begonnen hätten, hätte sie verstanden, dass sie nicht tot sei, dass die Kälte in ihrem Körper schlicht von der Unterkühlung kam. Sie pulte nun wieder an ihren Nägeln. An ihrem rechten Zeigefinger war der Lack nun vollständig abgekratzt: »Von meinem Bruder ist nur die Basecap übrig geblieben. Ich habe sie in meiner Jackentasche gefunden, nachdem ich bis tief in die Nacht den ganzen Hafen wieder und wieder nach ihm abgesucht hatte.« Sie hob die Augen: »Nun bewahre ich die Cap in meinem Spind auf.«

Auch von anderen Gästen hatte ich mitbekommen, dass sie in den Spinden neben ihren iPhones und Ausweisen Gegenstände von persönlichem Wert einschlossen, den Schlüssel ihres zerstörten Hauses, den von einem Angehörigen vermachten Ring, eine gelbstichige Landschaftsfotografie, als seien die Spinde Schreine zum Ertragen der Abwesenheit. Ein Gast bewahrte sogar das Verlobungskleid seiner Freundin darin, das er in Frischhaltefolie eingeschlagen hatte, um ihren Geruch zu konservieren, eine süßliche Mischung aus Schweiß und Jasmin, wie er mir verriet. Er war untröstlich, dass der Geruch sich jedes Mal, wenn er das Kleid zum Riechen hervorholte, um eine Spur verflüchtigte. Wie das Kleid war auch die Basecap ein totes und stummes Stück Textil, das aber anscheinend zum Träger der Erinnerung geworden war, ganz so, als verfüge es selbst über ein Gedächtnis.

Ich bekundete Frau Camara mein Beileid und blickte dann wieder auf meinen Collegeblock, ging dem letzten Symptomkriterium nach: »Sie haben vorher erwähnt, dass Sie nachts oft schweißgebadet aufwachen. Gehen Ihrem Aufwachen Albträume voraus?« Zwar kam es mir voyeuristisch vor, in diese Untiefen vorzudringen, doch falls ihre Träume von der Überfahrt handelten, fügten sie sich perfekt in den Symptomreigen der PTBS, ich würde der Klinik eine stimmige Diagnose liefern können. Fast war ich enttäuscht, als Frau Camara nun schlicht erwiderte, wenn sie denn schlafe, träume sie, sie würde aus dem Bett fallen – ein harmloser Traum gegen die Träume würgender Hände, aufgetischter Kadaver und mit Waffenbatterien umgürteter Militärs, die mir andere Gäste schon anvertraut hatten. Doch dann machte sie plötzlich eine kippende Bewegung mit ihrer Hand, als wolle sie mich auf etwas hinweisen, wohin die Worte nicht langten, und auf einmal wusste ich, dass das Boot gekentert war. Ich erschrak, es war mir, als würde auch ich kurz in diesen Abgrund blicken, der sich zwischen den Worten auftat.

Wie Ines gegen diese sprachlosen Zustände Wechselduschen empfahl oder Ammoniakampullen verabreichte, wollte auch ich Frau Camara nun trotz meines Auftrags, ihre Symptome abzufragen, etwas Hilfreiches an die Hand geben, abgesehen von Ammoniak oder Tavor. Da sie vom Schulunterricht erzählt und also Lesen und Schreiben gelernt hatte, riet ich ihr, das Geschehene, soweit es ging, zu verschriftlichen, immer weiter ins Sprachlose hineinzuschreiben. Ich erklärte, dass das Trauma unversprachlicht in einem von raum-zeitlichen Ordnungen abgekapselten Gehirnteil gespeichert sei, und sie daher im Hier und Jetzt, in ihren Träumen einholte, bis sie ihm durch die Versprachlichung die Form der Vergangenheit zuwies. Doch während ich mich so sprechen hörte, kamen in mir Zweifel auf, ob die Sprache nicht manchmal nur ein Deckmantel ist, das Schweigen dagegen die ehrlichere Erzählung des Geschehenen.

Frau Camara bedankte sich zwar, als ich ihr nun ein paar Bogen Papier aus meinem Block riss und einen Kugelschreiber gab, schielte dabei aber auf meinen eigenen Kugelschreiber und mein Blatt Papier, auf dem inzwischen sämtliche Symptomkriterien durch Stichpunkte ausgeführt und abgehakt waren.

»Wollen Sie noch mehr hören?« Sie wippte ungeduldig mit ihrem Fuß, der Strass auf ihren Flipflops funkelte in der hereinfallenden Sonne. Kurz meinte ich, dass sie nun zurückgefunden habe, doch etwas stimmte nicht, ich sah nun, dass sie tatsächlich nicht blinzelte, sie wirkte auf mich zu wach, unheimlich wach. Ich schüttelte den Kopf, versicherte, ich würde noch heute die Diagnose an die Klinik durchgeben und darauf drängen, dass man ihr ein Attest für die Behörde ausstelle – versprechen könne ich ihr aber nichts. Sie nickte, und ich fügte hinzu, am nächsten Morgen solle sie wieder ins Büro kommen.

Mehrmals schon hatte ich die Rezeptionistin der besagten Klinik angerufen, um für die medikamentöse Einstellung eines Gasts einen Termin zu vereinbaren; zwar meldete ich mich dort weit seltener als Ines, da ich die Gäste nur dann vermittelte, wenn sie Medikamente ausdrück-lich wünschten. Dennoch war die Stimme der Rezeptionistin mir bereits so vertraut, dass ich mühelos den Unter-ton, selbst tageszeitbedingte Schwankungen ausmachen konnte: Ich wusste, dass der forsche Klang des Morgens allmählich einer Erschöpfung wich, die sie am Abend beinahe sanftmütig erscheinen ließ. Nun war es halb sechs, ich hoffte auf ihr Verständnis. Doch als ich ihr den Sachverhalt erklärte, sagte sie mir bloß, was man auch Frau Camara gesagt hatte: dass die Psychiaterin in der Regel keine Atteste ausstelle, insbesondere dann nicht, wenn bereits ein Verfahren zur Rückführung eingeleitet worden sei. In ihrer abendlichen Erschöpfung klang diesmal nichts Sanftes an, sie schien schlicht fertig mit den Nerven, abgekämpft.

Ich gab nicht nach: »Natürlich hätte die Patientin aufgrund des Verfahrens einen sekundären Krankheitsgewinn, aber Frau Camara ist tatsächlich so vigilant, dass sie kaum blinzelt, beträchtliche Teile ihrer Erinnerung sind von Amnesien belegt, kommen in ihren Träumen zum Durchbruch, die beinah wie Intrusionen anmuten.« Ich fügte hinzu, all diese Symptome seien nur bedingt simulierbar und daher ein Indiz für eine schwerwiegende Traumatisierung, für die Frau Camara schleunigst ein Attest benötige.

Am anderen Ende der Leitung war es still. Vermutlich wusste die Rezeptionistin nicht um die genaue Bedeutung der psychiatrischen Termini, doch ich hoffte, dass ihre Wirkung sich in diesem Nichtwissen erst recht entfaltete. Als sie dennoch weiter schwieg, versuchte ich, an ihr Gewissen zu appellieren: »Eine Rückführung ist bei ihrer Symptomatik nicht nur kontraindiziert, sondern sogar lebensbedrohlich.« Endlich zeigte sie eine Reaktion: »Vielleicht kann Frau Camara einen anderen Psychiater aufsuchen, sie ist ja nicht verpflichtet, ihm den Brief vorzulegen, das beeinträchtigt nun mal ihre Glaubwürdigkeit.« Ich ließ nicht locker: »Die niedergelassenen Psychiater haben wochenlange Wartelisten und nehmen Geflüchtete ohnehin wegen der unklaren Kostenübernahme meist nicht auf. Es hat seine Gründe, dass wir sie an die Klinik überweisen.« Wieder schwieg sie. Ich erwischte mich dabei, wie ich an meinem Nagelbett kaute, ein Reflex, den ich mir eigentlich zu Beginn meines Studiums abtrainiert hatte, indem ich mit einem kleinen Pinsel ein Übelkeit erregendes Serum auf meine Fingerkuppen strich. Die Rezeptionistin seufzte nun und meinte: »Eigentlich überschreitet das meine Zuständigkeit, aber ich werde mich mit der Psychiaterin besprechen und schauen, ob sich in ihrem Fall doch etwas tun lässt.«

Ich dankte ihr und sagte, dass ich in der Leitung bleiben würde, lehnte mich erleichtert zurück und starrte zum Fenster hinaus. Eine Militärmaschine glitt in Richtung Flughafen, sie war bulliger als die Passagierflugzeuge und flog deutlich tiefer als sie, die stumpfen Flügel und die spitze Schnauze, die an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte, hoben sich vom Himmel, der nun abendlich leuchtete, schwarz ab.

Auf der anderen Seite der Leitung vernahm ich ein Krachen wie von einer schwungvoll ins Schloss fallenden Tür, dann meldete die Rezeptionistin sich zurück, fragte, ob ich noch immer am Apparat sei. Ich bejahte, während ich mit den Blicken dem dunklen Flugkörper folgte. Fast wie ein typographisches Zeichen nahm er sich aus, ein Buchstabe. Ich registrierte, wie sie nahe der Sprechmuschel Luft holte: »Die Psychiaterin bleibt bei ihrer Meinung, bei Verdacht auf Simulation stellt sie nach wie vor kein Attest aus. Falls eine akute Selbstgefährdung vorliegt, soll Frau Camara sich in der Notaufnahme vorstellen.« Mir fiel wieder ein, dass man aus dem Flug der Vögel früher die Zukunft gelesen hatte, ich fragte mich, wo genau die Grenze zwischen einem Sinn- und einem Wahnsystem zu ziehen war. Auf einmal war die Stimme der Rezeptionistin wieder sanft, »tut mir leid«, sagte sie. Ich glaubte es ihr. Die Militärmaschine fuhr das Fahrwerk aus, verschmolz mit dem anderen Ufer. Ich dankte für ihre Bemühungen, legte auf.

Zwar hatte ich Frau Camara nichts versprochen, aber ich hatte ihr Hoffnungen gemacht, sie mit der Aussicht auf einen vorläufigen Aufenthalt in diesem Land an jenen Abgrund gedrängt, der sich in ihrer Erinnerung auftat. Während ich mit dem Bus auf die andere Seite setzte, an der die Straßenlaternen bereits entflammt waren, sorgte ich mich, dass meine Absage sie ins Bodenlose stürzen würde. Das Wasser des Flusses war brackig und trüb, Algenwedel schwebten darin. Es floss zwar, aber schien dabei doch still zu stehen. Vielleicht war es die aussichtslose Zukunft, die dazu führte, dass auch mich nun ihre Vergangenheit einholte: der plötzliche Sturz im Weggleiten des Decks, das Zusammenschlagen der Wassermassen, durch die sie sich mit erschöpften Gliedern kämpfte, während der Kopf, der anfangs noch den Horizont absuchte, mit der Zeit immer öfter unter Wasser geriet. In meiner Vorstellung blickte ich von oben darauf, wie in Fernsehaufnahmen.

Bei manchen Gästen hatte ich erlebt, wie sie sich dagegen gewehrt hatten, dass man derartige Phantasien an ihnen entwarf, sie wie durch die Linse einer Kamera betrachtete. Ein Gast, der mir erzählt hatte, dass er über die Ägäis nach Europa gekommen war, hatte sogleich hinzugefügt, dass er die ganze Zeit über Selfies gemacht habe, vor den kargen, vom Wind geschliffenen Inseln, der aufgewühlten, der spiegelglatten See, er habe die beste Instagram-Story seines Lebens aufgenommen. Indem er die Kamera, und sei es nur in den Worten, selbst zur Hand nahm, kam er, so schien mir, ihrem objektivierenden Blick zuvor.

Doch vielleicht war dieser objektivierende Blick, die Kameralinse, die sich vor mein Bild von Frau Camara schob, auch ein Schutz, denn als sich später im Schließen der Augen die alten Geometrien und Ordnungen auflösten und alles in einem einzigen hypnotischen Strudel ineinanderfiel, konnte auch ich mich nicht mehr über der Oberfläche halten, spürte, wie es mich in die Tiefe zog. Ich glaube, ich fiel bis in die Morgenstunden nicht in den Schlaf, weil ich mich sorgte, nicht mehr aus ihm aufzutauchen. Immer wieder riss ich die Augen auf, schon bei Geringfügigem alarmiert. Ich vernahm das Rauschen von Abwasser in einem Rohr in der Wohnung über mir, hörte, wie jemand im Treppenhaus zu den oberen Etagen aufstieg, eine Amsel sang im Strommast, die Ladeklappe eines Lieferwagens wurde ausgefahren, vor dem Kiosk schlug einer den Kronkorken von seinem Bier. Es kam mir so vor, als verliere sich der Schall nicht mehr mit der Entfernung, als gebe es keine dämpfenden Wände mehr, als sei selbst mein Körper porös, könne der andrängenden Flut der Geräusche nichts entgegensetzen.

Als ich dann doch noch in den Schlaf fiel, während schon der Verkehrslärm anschwoll und der Himmel allmählich aufklarte, träumte ich, ich läge in der Luft auf einer Planke, zugleich schlafend und mich betrachtend in diesem vom Abgrund eingerahmten Schlaf: Nur die geringste Bewegung in die eine oder andere Richtung, und ich würde ins Nichts stürzen. Im Betrachten kam es mir vor, als hätte ich schon immer hoch oben auf dieser Planke gelegen, würde dieser Tatsache aber erst nun gewahr, während ich zugleich auch weiter schlafend auf ihr lag, ohne eine Ahnung davon zu haben. Von einem entsetzlichen Schwindel erfasst, erwachte ich, rücklings, mit geöffnetem Mund. Ich schaute auf mein Handy, es war halb sieben, noch eine Stunde, bis der Wecker klingelte, doch ich wusste, ich würde nun kein Auge mehr zu tun, ging in die Küche, setzte Kaffeewasser auf, machte mir ein Müsli. Ich fragte mich, ob auch Ines den Schlaf manchmal fürchtete oder ob sie in ihn fiel wie in ein warmes Tuch.

Als Frau Camara am Vormittag ins Büro kam, trug sie noch immer dasselbe Oberteil, dieselben Leggins. Vielleicht wechselte sie ihre Kleidung nicht mehr zur Nacht, da sie sich bereits auf das halbe Jahr gefasst machte, in dem sie jederzeit auf der Hut zu sein hatte. Sie übergab mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Erst dachte ich, es handle sich um jenes Blatt, das ich ihr gestern zur Verschriftlichung des Geschehenen mitgegeben hatte, aber als ich es entfaltete, sah ich, dass es ein Übermittlungsbogen des Arztes war, der einmal wöchentlich in die Unterkunft kam. Um den Kragen seines Kittels hing ein Stethoskop, das ihn als Mediziner von uns abhob, seine Wahrnehmung technisch über die Grenze der Haut hinaus erweiterte; er legte Hand an sie, um die dahinterliegenden Hohlräume auszuhorchen, auf das Echo des Pulsschlags hin, die Lungenfunktion. Der Bogen vermerkte, Frau Camara habe um 8 Uhr 15 einen Kollaps in der Halle erlitten, zwar seien alle Vitalparameter regelgerecht gewesen, psychisch scheine sie jedoch dekompensiert, man solle sie sicherheitshalber begutachten.

Auf meine Nachfrage hin erzählte sie, sie habe heute kaum geschlafen, am Morgen auf den Bierbänken gewartet, bis die Essensausgabe öffnete. Doch da die Vorbereitung des Frühstücks unvermutet lange gedauert habe, habe sie anders als sonst beschlossen, zunächst einen Çay zu trinken, ihre Tasse unter den Getränkespender gestellt. Als sie dann das glucksende Geräusch des Tees vernommen habe, der aus der Düse gesprudelt sei, habe sie sich unversehens wieder auf dem Deck des Boots befunden. Ihr Blick irrte durch den Raum: »Ich habe geschwankt und dann die Stimme meines Bruders gehört, wieder und wieder hat er meinen Namen gerufen, unverkennbar und ganz nah an meinem Ohr. Dann ist es schwarz um mich geworden.«

Ich stellte mir vor, wie ihr Körper seine Spannung verlor, die ihn im Wachzustand entgegen der Schwerkraft aufrichtete, wie er auf der Stelle schlaff in sich zusammensackte. Mir fiel wieder ein, wie Ines bei Herrn Estifanos, jenem gelähmten Gast, gesagt hatte, diese dissoziativen Zustände seien wie das Totstellen in der Tierwelt. Sie hatte sie mit der Ausschüttung von Stresshormonen und sympathischen Aktivierungen erklärt. Doch so, wie Frau Camara ihre Ohnmacht schilderte, kam es mir wider besseren Wissens fast so vor, als habe das Geräusch des sprudelnden Wassers die Grenze zwischen den Zeiten aufgehoben, wodurch auch die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten durchlässig geworden war. Es kam mir so vor, als ob Frau Camara auf den Ruf des Bruders hin ihren Körper verlassen hatte, in ihrer Bewusstlosigkeit zeitweilig zu ihm hinübergegangen war.

Als sie wieder zu sich gekommen sei, habe sie auf einer mit Papier bedeckten Liege im Zimmer des Arztes gelegen. Er habe sie abgehorcht und diesen Zettel ausgestellt. Dass alles in Ordnung sei, habe er gesagt, »dabei ist nichts in Ordnung«, sie warf die Hände in die Luft, dass sie schwer krank sei, habe sie erwidert, und dass er das als Arzt doch wissen müsse. Ich fühlte mich ertappt; auch ich hatte kurz den Impuls verspürt, sie zu beschwichtigen, dass ihre Ohnmacht auch schlicht von ihrer Übernächtigung rühren könne. Dabei fürchtete ich mich vermutlich insgeheim nur selbst: Zwar war es vor dem Hintergrund ihrer anderen posttraumatischen Symptome naheliegend, ihre Ohnmacht als Dissoziation zu lesen, die Stimme des verstorbenen Bruders intrusiv, doch der Übergang zum Wahn war bei solchen Phänomenen ein fließender.

Auch in der Psychose irrte sich vor dem Sehsinn als erstes Anzeichen das Gehör, auch sie schützte die Psyche durch Abspaltung vor dem Zusammenbruch, wenn ihre Architektur schwer angegriffen war. Ich blickte auf Frau Camaras eingeschnittene Leggins, auf ihre Nägel, von denen der Lack nun fast rückstandslos abgeblättert war. Bei Verdacht auf eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis musste ich eigentlich Ines in Kenntnis setzen, die sie bei einer so kniffligen Differenzialdiagnose womöglich in die Geschlossene einwies, auch, weil sie um ihre Stelle bangte. Schließlich war Frau Camara im Fall einer schizophrenen Erkrankung nicht zurechnungsfähig, und wir konnten nicht gewährleisten, dass sie sich nichts antat. Meine Mundhöhle wurde trocken, ich schluckte. Gestern noch hatte ich mich davor gefürchtet, ihr die Unerreichbarkeit eines Attestes mitzuteilen, nun fürchtete ich mich davor, ihr mitzuteilen, wie nahe sie ihm vielleicht schon war.

Ich beschloss, der Reihe nach vorzugehen, befeuchtete meine Lippen mit der Zunge, bevor ich zu sprechen ansetzte: »Ich verstehe, dass diese Symptome Sie beunruhigen und Sie sich ärgern, dass man Ihre Krankheit nicht anerkennt.« Nach einem prüfenden Blick in ihre Richtung fuhr ich fort: »Gestern habe ich mit der Klinik gesprochen, doch leider hat die Psychiaterin sich nicht bewegen lassen, stellt nach wie vor kein Attest aus, vor allem nicht, wenn ein Bescheid zur Rückführung vorliegt.« Ich holte Atem: »Ein entsprechendes Dokument bekommt man nur, wenn man so krank ist, dass man eingewiesen werden muss in die Psychiatrie.«

Sie nickte, fixierte mich mit diesen Augen, die nicht ein einziges Mal blinzelten, alles aufnahmen. Während ich noch überlegte, wie ich zu ihrer möglichen Einweisung hinführen könnte, kam sie mir zuvor, als habe sie es bereits vorausgesehen: »Bin ich denn noch nicht verrückt genug für die Psychiatrie?« Wieder warf sie die Hände in die Luft, wie sie es zuvor in ihrer Empörung über die Worte des Arztes getan hatte. Kurz fragte ich mich, ob sie vielleicht scherzte, ob mir durch die Fremdsprache nur der präzise Wortlaut, der zwinkernde Unterton entgangen war. Ich beschloss, sie beim Wort zu nehmen, sagte: »Sie können sich jederzeit selbst einweisen, wenn Sie wollen. Sie müssen nur in die Notaufnahme gehen und behaupten, dass Sie im Begriff sind, sich etwas anzutun.« Sie nickte, blickte mir geradewegs ins Gesicht. Mir fiel ein, dass man über die Entschlossenen sagte, sie würden nicht mit der Wimper zucken. Zuvor hatte ich gedacht, dass es sich dabei um ein Ding der Unmöglichkeit handeln würde, ein reines Sinnbild.

»Kann ich meinen Spind behalten?« Ich schüttelte den Kopf. Wie jedes Bett nach einem Auszug umgehend neu belegt wurde, knackte man auch umgehend jeden ungebrauchten Spind. Ein neuer Gast verstaute seine Dokumente, Andenken, die handfesten Überbleibsel der Vergangenheit darin. Ich sagte, dass sie aber alle Wertsachen, auch Kleidungsstücke mitnehmen könne auf die Station, nur das Ladekabel ihres Handys würde man vermutlich einbehalten.

Auf einem Reißzettel notierte ich ihr die Adresse der Notaufnahme, die zum Komplex der Klinik gehörte und sich im nächsten Umfeld jenes Gebäudes befand, in dem Frau Camara bereits die Psychiaterin konsultiert hatte; ich notierte sie vermutlich weniger als Wegweiser denn zur Übergabe der Verantwortung. Frau Camara nahm den Zettel rasch entgegen, als fürchte sie, ich könnte noch zurückziehen.