Als mir am Nachmittag nach jenem Gespräch erneut Anna schrieb, beschloss ich, dieses Mal zuzusagen, verabredete mich mit ihr für den späteren Abend in einer Bar. Ich zog ein ärmelloses Top aus Kunstseide und eine abgewetzte Lederjacke an, überprüfte im Spiegel, ob ich ausgehen konnte mit diesem Gesicht; ich war beruhigt, wenn ich mir etwas Mühe gab, war mein Blick noch kühn.
Als ich in der Bar ankam, saß Anna bereits am Tresen, ich erspähte sie über die Köpfe der Trinkenden hinweg. Sie trug noch immer ihr halblanges, weißes Haar, so weiß, dass kaum auszumachen war, ob die Bleiche vom Wasserstoff oder doch bereits vom Alter kam. Dass sie sich der Zuordnung entzog, hatte ihr schon immer eine seltsame Erhabenheit verliehen. Als ich ihren Blick einfing, rief sie so laut meinen Namen, dass mehrere Gäste sich irritiert umdrehten, es klang, als wäre ich gerade überraschend aus dem Krieg zurückgekehrt, oder zumindest, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Sie schloss mich stürmisch in die Arme und bestellte mir ein Bier, meinte, sie hoffe doch, dass ich wenigstens noch trinke, wo ich doch sonst gerade ein Leben wie Mutter Teresa führe.
»Aber jetzt mal im Ernst, wie ist es?«
Ich merkte, wie der kühne Ausdruck mich verließ, den ich noch zuvor im Spiegel erprobt hatte, fragte Anna stattdessen nach ihrem Vortrag, doch sie winkte ab: »Das ist so meta, deine neue Arbeit ist doch viel wichtiger.« Ich kratzte das von den Kerzen geperlte Wachs vom Tresen und formte es zu einer Kugel, schnipste sie wie einen alten Zigarettenstummel weg und erzählte von der versuchten Abschiebung, von Ines’ Zuckerdepot und Frau Camaras Selbsteinlieferung, von Feierabendbieren und davon, dass ich nachts immer öfter nicht in den Schlaf fand. All das brach aus mir heraus, als ob es mir schon lange auf der Zunge gelegen hätte. Auf Annas teilnehmendes Nicken hin fuhr ich fort, dass ich vieles zwar schon aus dem Fernsehen, der Zeitung gewusst hätte, dass all diese Nachrichten mir nun jedoch so unzutreffend vorkämen in ihrer Faktizität. Die Statistik abgelehnter Asylgesuche, die man im Radio verkündete, sei sicher richtig, scheine mir nun aber zugleich auch falsch: Zwar bilde sie eine korrekte Anzahl ab, täusche dadurch jedoch auch über den Einzelnen hinweg, der sich einwies, sogar Hand an sich legte.
Ich nippte an der Schaumkrone meines Biers, das der Barkeeper soeben über den Tresen geschoben hatte. Anna schwieg und fuhr mit einem Finger den Rand ihres Glases nach. Schließlich hob sie den Kopf, ihr Blick war offen: »Ich nehme deine Arbeit ernst, ich habe großen Respekt davor.« Sie streckte ihre Hand nach mir aus, legte mir eine Strähne hinters Ohr: »Aber ich mache mir auch Sorgen.« Sie lächelte verschmitzt: »Um auf deine Frage zurückzukommen: In meinem Vortrag ging es darum, wie Frauen in sozialen Berufen nach wie vor zur Selbstausbeutung gedrängt werden.« Ich lachte trocken: »Zumindest habe ich keine Wanzen im Bett.« Anna rückte etwas näher an mich heran und fasste nach meiner Hand: »Trotzdem, lass dich nicht fertigmachen.«
Die Erinnerung an die Abende und Nächte mit ihr kam zurück, und ich vertiefte mich wieder in ihr Gesicht, die hohe Stirn, der von feinen Falten eingerahmte Mund, auf den dunkler Lippenstift aufgetragen war. Ich merkte, wie das Schuldgefühl von mir abfiel, die Last meiner Taten, des überreichten Zettels am Vormittag, die Last meiner Versäumnisse, der missglückten Altersänderung und Vermittlung Herrn Rahims, es kam mir vor, als nehme Anna mit ihren Worten das Gewicht von mir. Um anzustoßen, hob sie mit ihren muskulösen Fingern nun das Glas, und unwillkürlich erinnerte ich mich, wie geschickt sie mit ihnen war. Ich nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zurück auf den Tresen, fuhr die Linie ihrer Wangenknochen, ihre Lippen nach.
Am nächsten Morgen rieb ich mir mit dem Ärmel über den Mund und kämmte mir mit den Fingern durch das zerzauste Haar, bevor ich in den U-Bahn-Schacht hinunterstieg, betrachtete in der Reflexion des Fensters mein übernächtigtes Spiegelbild, das durch die Tunnel raste, und in seinem Anblick kam die Nacht noch einmal zu mir zurück: Wie in der Bar noch jemand aufgelegt hatte und Anna beim Tanzen den Kopf wild in den Nacken warf, dann, als ich die Lederjacke überstreifte, vor mich hintrat und einen Knopf nach dem anderen durch das Knopfloch schob, mir mit diesem zurückhaltenden Übertritt anzeigte, sie gehe mit mir heim.
Sie hatte nicht jene unpersönliche Professionalität im Bett, auch wenn sie gewandt war, ihre Zuwendung machte mich glauben, wir könnten uns durch die Berührung wieder herstellen. Immer war es mit ihr gleichzeitig brutal und zärtlich: Während die Knochen in der Umarmung knackten, synchronisierte sich der Atem, die koronale Taktung, als teilten wir einen Kreislauf, ein Lungensystem. Ihr salziger Schweiß rann an mir herab, und als ich aufblickte, sah ich an der Wand unseren Schatten, den die niedrige Nachttischlampe warf, ein bizarres Wesen mit gespreizten Fingern und Zehen, vielgliedrig. Dann setzte die Schwerkraft kurz aus, ich löschte das Licht.
Während ich im Fenster der U-Bahn mein dem All-tag ausgeliefertes Spiegelbild betrachtete, wurde mir die Begrenztheit meines Körpers wieder bewusst, vor der ihre vor Wärme strahlende Haut mich beschützt hatte. Kurz wünschte ich mich in ihre Umarmung zurück, ich hatte das Gefühl, in die falsche Richtung zu fahren. Es war das einzige Mal, dass ich ernsthaft durchspielte, zu kündigen: Ich überlegte, mich vorerst mit Jobs in Cafés und Callcentern durchzuschlagen, mir dann auf längere Sicht eine sozialversicherte Anstellung zu suchen, beispielsweise in einer Klinik irgendwo in der Stadt, ich hätte jedem neuen Arbeitgeber erklären können, dass der Weg an den Stadtrand auf Dauer zu weit und die psychologische Arbeit unter den dort gegebenen Umständen ein Kampf gegen Windmühlen gewesen sei.
Doch irgendetwas zog mich zurück auf die andere Seite, und als die Endstation näher kam, fuhr ich mir noch einmal mit dem Ärmel über die Lippen und unterzog den Stoff des Sweatshirts einem prüfenden Blick, keine neue Farbe haftete daran.