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Nie zuvor war mir der Widerspruch unseres Auftrags so deutlich geworden wie bei Herrn Al-Azawi, den wir gegen seinen Willen einwiesen. Zwar sollten wir uns als Psychologinnen für das Wohl der Gäste einsetzen. Doch wurde ihr Wohl nicht nur gefährdet durch das Asylsystem, dessen Angestellte wir gewissermaßen waren, sondern unser Auftrag bedeutete zudem im Zweifelsfall, die Gäste zu entmündigen und an die Polizei auszuliefern, die Hand anlegen sollte, wenn ein Gast nicht gefügig war. Es war eine vertrackte Rolle, ich bin letzten Endes nicht davongekommen.

Dabei schien es einige Tage später, als könne sich alles noch zum Guten wenden: Es begann damit, dass Ines die Aufnahme eines der schwarzen Strände Teneriffas über ihren Computer pinnte, über dem schon der Konfettiregen und die Ansichtskarte der Costa Brava angebracht waren. Strahlend verkündete sie, dass sie mit ihrem Mann zum Monatsende einen Flug gebucht habe. Sie habe ihn mit den vergünstigten Mietwagenpreisen herumgekriegt, die eines der dortigen Autohäuser ihnen machen würde, weil ihr Mann doch bei Daimler tätig sei. Mit dem Daumen drückte sie den Reißnagel in den Rigips, trat dann einige Schritte zurück, um das Fenster in ihre nahe Zukunft zu begutachten, das nun in die Bürowand eingelassen war: aufgetürmtes, vulkanisches Gestein, von einem sattgrünen Teppich subtropischer Pflanzen überzogen, das an der Küstenlinie ringsum in azurblaues Wasser überging.

Noch immer in die Ansicht vertieft, fügte Ines hinzu, sie habe ja eigentlich gar kein Interesse an solchen Autotouren. Ihr Mann solle ruhig selber über die Insel fahren, den Krater des Teide und die spanischen Kolonialstädte anschauen. Sie wolle einfach nur am Strand liegen und alle Viere von sich strecken. Ich sah sie vor mir, wie sie mit diesen von sich gestreckten Gliedern ähnlich einem angespülten Seestern auf einer Strandliege lag und sich von den Palmenwedeln Wind zufächeln ließ, stellte mir vor, dass der Geruch von Sonnencreme sie einhüllte, dass der sanfte Aufschlag der Wellen sie beruhigte. Murmelnd zog das Meer sich zurück und bäumte sich auf, auf Ebbe folgte Flut.

Wie Ines versuchte auch ich, mir die Zukunft wie einen Schutzmantel umzulegen. In drei Wochen würden unsere Arbeitsverträge auslaufen, noch immer hatte die Stadtverwaltung die Unterkunft nicht bewilligt für das kommende Quartal. Vermutlich plante man eine Umverlegung der Gäste in die komfortableren Containerdörfer nördlich des Industrieparks, die zumindest über geschlossene Kabinen und eigene Küchenzeilen verfügten. Der Spuk dieses Ausnahmezustandes würde ein für alle Mal vorbei sein. Doch nicht nur Ines und ich, sondern das gesamte Personal schien gelöster, nun, wo das Ende der Unterkunft absehbar war; zudem würden alle mühelos eine andere Anstellung finden.

In der plötzlichen Gelöstheit wurden die Grenzen nicht mehr so klar gezogen, die Vorschriften nicht mehr so akribisch befolgt. An Position 3 wurden die Gäste vom Security durchgewinkt, und auch wir knöpften den Kittel nicht mehr bis oben hin zu, legten ihn immer öfter nur über die Schultern, als ob es sich bei ihm um einen leichten Sommermantel handelte. Das Küchenteam, dem immer wieder vorgeworfen worden war, es würde toxische Substanzen in die Ketchupbehälter spritzen und die Suppen mit Benzin und Klebstoff anrühren, machte nun einen Aushang neben dem Speiseplan, auf dem es die Gäste um Anregungen bat, und der ihnen neben einfallsreichen Beschimpfungen auch einige einfallsreiche Essensvorschläge einbrachte.

Etwa zwei Wochen vor der mutmaßlichen Schließung kam es eines Nachmittags sogar dazu, dass Personal und Gäste in der Halle um einen Tisch saßen, Tupperwaren voller Baklava, kandierte Früchte und Kuchen herumreichten. Einer der Securitys hatte zuvor eine Frau dabei beobachtet, wie sie nach der Mahlzeit mit dem Ärmel ihr Messer blank gerieben und in die Bauchtasche ihres Sweaters hatte gleiten lassen, sie beim Verlassen des Essbereichs dann gestellt und ihr wie im Fernsehen befohlen, die Hände hoch zu nehmen. Schließlich war jedoch herausgekommen, dass die Frau das Messer zum Anschneiden eines Kuchens entwendet hatte; ihre Tochter, ein asthmatisches Frühchen, wie mir erzählt wurde, das die ersten Wochen seines Lebens an Kanülen im Brutkasten gelegen hatte, war an diesem Tag gerade zwei Jahre alt geworden.

Hätte der Security die Vorschriften befolgt, hätte er der Frau eine Verwarnung aussprechen und das Messer konfiszieren müssen. Doch stattdessen erlaubte er ihr, unter seiner Aufsicht damit zu hantieren, woraufhin die Frau sich, umringt von einer Schar Geburtstagsgäste, die zartgliedrige Tochter in einem, den mit Zuckerguss überzogenen Blechkuchen im anderen Arm, an einer der Tischgruppen in der Halle niederließ. Vom Büroeingang aus sah ich, wie der Security, während die Gesellschaft Luftballons aufpustete, das Messer in die Mitte des Tischs reichte, dann umgehend, als gehörte auch er zur Einrichtung, neben einem der Pflanzenkübel in Stellung ging, betreten die vertrockneten Dolden aus dem Gewächs zupfte. Vielleicht lag es an diesen Händen, die nicht wussten wohin, dass er dank-bar das Kuchenstück, das die Frau ihm herüberreichte, entgegennahm.

Kurz darauf kam Heiko mit einer Gießkanne angelaufen, und während er die Blattfächer der Palmen zurückbog und den geschwungenen Kannenschnabel darunter hielt, sagte er weithin hörbar zum Security: »Ich hab ja gedacht, dass es mal wieder nur faule Äpfel zum Nachtisch gibt!« Daraufhin schnitt die Frau auch ihm ein üppiges Stück aus dem Kuchen, und so gesellten sich immer mehr Menschen, Personal wie Gäste, zu der Runde, stellten Schachteln voller Baklava, Datteln und Toffifee auf den Tisch.

Auch Heiko zauberte Lakritzstangen aus seiner Westentasche, von denen die Kinder jedoch beim ersten Bissen schon das Gesicht verzogen und angewidert ihre Servietten auf den Mund drückten. Heiko verschwand in einem Anbau und gab kurz darauf wie zur Entschädigung bonbonbunte Hütchen mit Gummizug aus, von denen auch er sich eines aufsetzte und dann sogleich, da die Tafel für die Gesellschaft inzwischen nicht mehr ausreichte, unter die im Boden verankerten Bierbänke bei der Essensausgabe kroch, in einer Hand den Schraubenschlüssel, in der anderen den kleinen Hut, der ihm ansonsten in den Nacken rutschte. Nachdem er die Bänke der Tafel hinzugefügt hatte, entzündete er einen Satz Teelichter, der scheinbar ebenfalls im Anbau gelagert worden war, dabei war der Umgang mit Feuer in der Unterkunft strengstens untersagt; es dauerte auch nicht lange, bis Uwe an die Tischgruppe herantrat und ihn ermahnte. Die Kinder, die bereits wetteiferten, wer es wagte, ins Zentrum der Flamme hineinzugreifen, buhten den verdutzten Uwe aus, bis ihre Eltern ihnen beschämt die Münder zuhielten. Heiko löschte die Lichter, indem er den Docht zwischen seine bloßen Finger nahm; die Buhrufe der Kinder schlugen um in Rufe der Bewunderung.

Vielleicht weil er ihm diese Bewunderung neidete, holte Uwe nun ein Paar Boxen aus seinem Büro, woraufhin eines der Mädchen mit einem Kabel sein Handy anschloss, dessen Schall bisher nur blechern übertragen worden war, nun, durch die Anlage vervielfacht, jedoch die gesamte Halle erfüllte, den Bau bis in die Verstrebungen hinein erzittern ließ. Ich stellte mir vor, dass selbst das Flusswasser bebte, dass noch das gegenüberliegende Ufer widerhallte von diesem Gesang, dass die gepitchten Koloraturen durch die Luft bis an den Rumpf eines zufällig landenden oder startenden Flugzeugs drangen, ihn unmerklich vibrieren ließen. Auch in mir schwang die Musik, ich spürte den Bass bis ins Mark. Als die Kinder nun auf den Luftballons herumsprangen, sah ich sie platzen, doch den Knall vernahm ich nicht, so laut hatte das Mädchen den Regler inzwischen aufgedreht.

In einem Anflug von Übermut versuchte ich, Ines, die das Geschehen wie ich bisher aus der Entfernung ver-folgt hatte, am Ärmel ihres Kittels in die Halle hineinzuziehen, doch sie machte sich los und meinte, dass wir noch einen Zupfkuchen im Kühlschrank hätten, den sie für die nächste Teamsitzung gekauft habe. Während ich den Kuchen aus der Verpackung schälte, entnahm sie der Schublade sämtliche Süßigkeiten, als ob sie eigentlich schon immer für eine gemeinsame Feier vorgesehen waren, und sie sie nur selbst verzehrt hatte, da sich keine solche Gelegenheit ergab.

Als wir schließlich in die Halle zurückkamen, tanzten einige der Gäste schon ausgelassen, während wir uns auf die inzwischen voll besetzten Bänke zwängten, russischen Zupfkuchen und Schaummäuse auftischten. Auch Heiko sprang auf und ab, eine frühe Variante des Pogo, wie er später sagte. Allerdings wirkte die seltsam mechanische Bewegung, an deren Scheitelpunkt sein kleines buntes Hütchen für einen Moment über der tanzenden Menge schwebte, eher wie jene Lockerungsübung, die man im Sportunterricht früher den »Hampelmann« genannt hatte. Aber auch mich machte die Unbändigkeit der Tanzenden etwas befangen, obwohl ich mich in den Clubs der Stadt doch ohne zu denken den synthetischen Rhythmen überließ. Hier dagegen fühlte ich mich auf einmal wieder wie mit zwölf in der Schullandheim-Disko: Größer als sonst war die Scham, die ich zum Betreten der Tanzfläche überwinden musste, die Scham, dass das Tanzen eine Unsicherheit zur Schau stellte, die ansonsten hinter meiner Rolle verborgen war. Doch als die Tanzenden sich einhakten und die Beine von sich warfen, ließ auch ich mich von ihnen mitreißen.

Immer wieder löste sich einer der Gäste aus der Reihe und tanzte in die Mitte des Kreises hinein, während wir ihn ringsum mit Rufen und Klatschen befeuerten. Als einige Jugendliche auch Ines mit sanfter Gewalt in den Kreis drängten und sie sich, erst unbeholfen, dann berauscht um ihre eigene Achse drehte, wobei ihr Kittel wie bei einem Derwisch aufflog, wurde mir etwas mulmig, dass man auch mich in die Mitte drängen würde.

Doch bevor es dazu kam, rief einer der Gäste nach dem Geburtstagskind, das noch immer drüben bei den Bierbänken saß, den Mund schokoladeverschmiert und leuchtende Krümel im krausen Haar. Er fasste die Kleine unter den Achseln und hob sie in die Mitte, wirbelte sie immer schneller im Kreis, bis ihre Turnschuhe unsere Nasenspitzen beinah streiften und sie lauthals brüllte vor Seligkeit. Der Mann ging schließlich taumelnd in die Knie, doch sie verlangte, gleich wieder zu fliegen. Als aber nach zwei weiteren Runden auch Uwe nach ihr griff und sie ohne Unterlass im Kreis herumdrehte, schlug ihr Freudenschrei jäh um in ein Japsen, sie rang hörbar nach Luft und wurde auf einmal so blass, dass ich fürchtete, sie würde den vertilgten Kuchen erbrechen. Aber nachdem die Mutter Uwe zur Seite gestoßen und ihrer Tochter etwas Asthmaspray in den Rachen gesprüht hatte, schien die Kleine wieder vergnügt; sie ging zurück an die Geburtstagstafel und übte mit anderen kleinen Mädchen rülpsen.

Die Tanzmusik war inzwischen abgedreht worden, und die Gesellschaft löste sich allmählich auf. Wir stapelten das Geschirr, wobei auch Uwe zu meinem Erstaunen mit anpackte. Er nutzte die Gelegenheit, sich bei der Mutter des Mädchens für seinen Überschwang zu entschuldigen, fuhr sich betreten durch das zur Seite gekämmte Haar und gestand ihr, er werde gerade jene Kinder, die er wie ihre Tochter hier habe aufwachsen sehen, nach ihrem Auszug vermissen. Ich glaubte ihm.

Während wir noch die zerplatzten Luftballons zusammenkehrten, schloss einer der älteren Gäste sein Handy an die Boxen an und spielte die wehmütigen Lieder Farid el Atraches, eines verstorbenen Oud-Virtuosen und Sängers, den man, wie er mir beim Einsammeln der Teelichter erläuterte, weder bei Liebeskummer noch bei Heimweh hören dürfe, da man ansonsten mit dem Trinken anfange. Ich hielt kurz inne und hörte ihm zu. Seine Stimme klagte um etwas, beklagte einen Verlust, brachte das Verlorene in seiner Klage jedoch auch zurück, indem er es in diese amorphe Form der Musik verwandelte, die nun zwischen den Verstrebungen der Hallendecke schwebte. Schließlich sagte ich: »Die Lieder sind schon traurig, aber auch sehr schön«, woraufhin der Gast erwiderte: »Nur die Musik kann man überallhin mitnehmen.«