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Noch trennte mich eine Stahltür von den sogenannten »Gästen«, eine Bezeichnung, die sich in der Unterkunft verbreitet hatte. Vermutlich war sie willkommen heißend gemeint, doch auch der vorübergehende Aufenthalt in diesem Land klang in ihr an wie ein Urteil: Gäste gingen wieder, sie waren nicht befugt, zu bleiben. Fast fühlte ich mich, als würde ich ihre Zukunft beeinflussen, wenn ich diese Bezeichnung verwendete, aber bald schon würde auch ich ihre Namen der Einfachheit halber damit ersetzen. Als verzerrte Schemen sah ich sie hinter dem bulligen Panzerglas vorbeigehen, das auf Augenhöhe in die Tür zwischen den Büros und der Halle eingelassen war. In der Dicke maß die Tür eine Handspanne. Ines händigte mir einen Schlüssel aus, doch bevor sie aufschloss, wandte sie sich noch kurz um: »Du musst Acht geben, man holt sich an der Tür schnell einen Schlag. Manchmal fliegt sogar ein Funke.« Sie erklärte, dass die elektrostatische Ladung vermutlich von Kabeln käme, die in der Wand zusammenliefen, maroden, leckenden Leitungen. Dann zog sie den Ärmel ihres Kittels über die Hand und stieß die Tür mit dem bedeckten Ballen auf.

Die Halle war gigantisch. Offensichtlich hatte man sie zum Lagern großer Frachtgüter genutzt, auf dem schieferfarbenen Linoleumboden verliefen Markierungslinien aus rotem Tape, die dem ehemaligen Logistikunternehmen vermutlich als Orientierung beim Transport der Cargos gedient hatten. Reihen an Stahlpfeilern trugen die von freiliegenden Rohren überzogene Decke, wohnlich war die Halle keineswegs, doch auf ein Banner war in unterschiedlichen Sprachen, Schriften und Farben das Wort »Willkommen« gedruckt, und um ein paar mit Palmen bepflanzte Waschbetonkübel hatte man Tische gruppiert, an denen ältere Männer ins Kartenspiel vertieft waren. Eine Frau schob einen Kinderwagen vorbei, aus dem drei Kinder und mehrere Flaschen Pepsi hervorschauten. An Steckdosenleisten längs der Wände hingen Jugendliche an ihren ladenden Handys, die sie in Verbindung hielten mit der Welt.

Der Geruch nach billigem Bratfett trieb von den riesigen Pfannen hinter der Essensausgabe durch die Halle. Während er mir in die Nase stieg, sah ich die Menschentraube vor der Tür, alle reckten die Hände, zückten ihre Vorgangsnummer. Eine der Sprachmittlerinnen diskutierte mit ihnen, aufgebracht, wandte sich uns dann lachend zu, sagte: »Ich habe die Leute darauf hingewiesen, dass einer nach dem anderen sprechen soll, doch einer der Gäste hat zu mir gemeint, ich hätte doch zwei Ohren.« Sie zwinkerte: »Ich habe zurückgegeben, dass er das wegen meines Kopftuchs doch gar nicht wissen kann.« Ein Mann drängte sich an den anderen vorbei, rief uns zu: »Stellen Sie mir ein Hausverbot aus, ansonsten schlage ich die Möbel hier kurz und klein.« Eine Mutter reichte uns ein Attest, aus dem hervorging, dass die Atemnot ihres Kindes auf die beengten Wohnverhältnisse zurückzuführen sei. Ines bedauerte, es gebe einen Verlegungsstopp beim zuständigen Amt, das man hier auch als das »Raumschiff« bezeichnete.

Die meisten Gäste jedoch drückten Ines einen Brief in die Hand, der mit »Grenzübertrittsbescheinigung« überschrieben war, »das Weiße Papier«, wie sie halblaut zu mir sagte. Später bekam ich mit, dass die Bezeichnung sich von der Farbe des Umschlags ableitete, die sich für verschiedene Behördenschreiben unterschied, doch auch dann noch blieb der Begriff mir seltsam unheimlich, ließ mich an einen getilgten Namen denken, an eine ausgelöschte Geschichte. Ines fuhr fort: »Es wird den Gästen zugestellt, um an der Grenze ihre Ausreise nachzuweisen, die Polizei kann sie nach Fristablauf ein halbes Jahr lang abschie-ben.« Ich sah einen Vorwurf in den Augen dieser Leute, fühle mich beschwert danach, als trüge ich eine Schuld, die sich zwar nicht direkt aus meinen Taten ableitete, jedoch in einer Verbindung mit mir stand. Für den Aufenthalt zuständig war die Ausländerbehörde, in der Unterkunft bezeichnet als »der Turm«, ein Gebäude mit massiven Betonwänden, die einem, wie man mir sagte, das Gefühl gaben, man sei vernichtend klein.

Doch Turm und Raumschiff waren nicht unser Fachgebiet, Ines verwies diejenigen Gäste, die eine Umverlegung oder Rechtsberatung forderten, an die Sozialarbeit und zeigte auf das auf unseren Ausweis geprägte Piktogramm jenes Gehirns: »Wir sind für alles zuständig, was mit dem Kopf zu tun hat, kreisende Gedanken, Trauer, unruhiger Schlaf.« Sie fasste sich zur Veranschaulichung an die Stirn, als befände sich dahinter der Sitz der Seele. Ein Mann trat aus der Menge hervor und schrie: »Die Suppe an der Essensausgabe ist angerührt mit Benzin, man will uns hier schleichend vergiften!« Der Mann wies auf Pusteln an seinem Knöchel, wie zum Beleg. Ein anderer sagte nüchtern: »Ich leide an Schlaflosigkeit, mit meinem Kopf gibt es aber kein Problem, das Problem ist mein schnarchender Mitbewohner.« Eine Frau meinte anklagend: »Man sticht mir die Augen aus«, drehte die Handflächen nach oben und schaute zu den Leuchtstoffröhren auf, deren gleißendes Licht selbst die letzten Ecken ausleuchtete, nicht einmal die Ahnung eines Schattens zuließ. Mit spitzen Fingern zielte sie in ihr Gesicht.

Ines empfahl ihr die konsequente Einnahme ihrer Triptane, holte einige Blisterpackungen mit Schlaftabletten aus dem Büro, Komakapseln, wie sie sagte. Auch einige Packungen Ohropax reichte sie dem Schlaflosen und der von Kopfschmerzen geplagten Frau, in Pink, Orange und Neongrün, presste sie zusammen und führte vor, wie sie sich beim Nachlassen des Drucks entfalteten. Obwohl es eine beiläufige Szene war, kann ich mich noch jetzt, beinah drei Monate danach, deutlich daran erinnern, wie ich mich im Zusehen fragte, ob wir denn nichts in der Hand hatten als diesen grellen Schaum.