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Ines verstand sich besser darauf, sich die Geschichten der Gäste vom Leib zu halten. Das fiel mir schon in jenem ersten Gespräch auf, an dem ich als Protokollantin teilnahm: Während wir im Büro auf den Gast warteten, hielt sie ihre Hände unter einen Spender mit eisblauer Flüssigkeit und bemerkte dabei beiläufig, bei der brütenden Hitze sei das Infektionspotenzial besonders groß. Ich erinnerte mich an ein Merkblatt zum Infektionsschutz, das man mir im Voraus zugeschickt hatte und das nicht nur auf die notwendige Überprüfung des Impfstatus hinwies, sondern auch auf das Desinfizieren der Hände vor dem Essen, Trinken, Rauchen, auf die Verwendung von Einmalhandschuhen. Nachdem Ines sich die Hände mit der stechend riechenden Flüssigkeit eingerieben hatte, zog sie aus einem Depot in der untersten Schublade des Schreibtisches in Stanniolpapier eingeschlagene Bitterschokolade hervor. Auch in Sirup getränktes Fettgebäck und fermentierte Aprikosen, mit Kandis bestreuter Butterkonfekt und weiße Schaummäuse lagerten dort. Während sie die Schokolade in Stücke brach und mir dann anbot, brühte ich Tee für uns auf, stellte die beiden Tassen auf den Tisch.

Als ich mich gerade auf einen der scheinbar ausrangierten Sessel setzen wollte, dessen Polsterung abblätterte wie die schuppige Haut eines Reptils, rief sie mir zu: »Stell die Tassen lieber an dem Tischende ab, das in Reichweite der Tür ist!« Sie erklärte, so halte sie es immer vor dem Einlass eines Gasts, damit er sich erst gar nicht dort setze und sie ihn von seinem Platz verweisen müsse. Auf dem Merkblatt hatte es weiter geheißen, bezüglich psychischer Erkrankungen gelte die Eigensicherung, auf vermeintliche Menschenkenntnis sei kein Verlass, die Gäste reagierten womöglich anders als Gesunde. Wieder und wieder hatte ich diese Zeilen gelesen, fast, als würde ich glauben, dass so etwas Verborgenes zum Vorschein kam. Mir war klar, dass Menschen sich unter dem Eindruck von Traumata unberechenbar verhalten konnten, dass das Treffen von Sicherheitsvorkehrungen durchaus sinnvoll war, und dennoch wirkten all diese Vorsichtsmaßnahmen zugleich wie eine Unterstellung. Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, stellte die Tassen an das türnahe Tischende.

Als der Security meldete, Herr Akbar stehe nun vor der Tür, sagte Ines, ich solle seine Aussagen im Konjunktiv festhalten. Dann leckte sie sich die von der Hitze weiche Schokolade von den Fingerspitzen, um sich ihren Kittel anzulegen, ich tat es ihr verstohlen nach, es schien mir beinah zu intim. Gemeinsam mit der Sprachmittlerin für Farsi trat der Mann nun ein, ich sah, dass er sein Handgelenk umfasste, als fühlte er seinen Puls. Als man ihn am frühen Morgen zitternd in seiner Kabine vorgefunden hatte, hatte er über ein Donnern in der Brust geklagt, es hatte ihm so geschwindelt, dass er die Hände um die Gitterstäbe seines Bettes gekrallt hatte. Die Sprachmittlerin war im Rettungswagen mitgefahren, anscheinend hatte Herr Akbar bei jeder Bodenwelle geweint, da er gefürchtet hatte, das Herz würde ihm aussetzen. Dabei war der Herzschatten nicht vergrößert und sowohl MRT als auch EKG hatten ergeben, er sei kerngesund. Der Kardiologe hatte ihm gegen das Druckgefühl auf der Brust zwar Analgetika verabreicht, jedoch zugleich gesagt, dass er den Notruf nicht missbrauchen solle.

Nun erzählte Herr Akbar, dass seine Arme kribbelten und er fürchte, beim Anstehen an der Kasse im Supermarkt oder im Bus bleibe ihm plötzlich das Herz stehen. Seine größte Sorge sei, dass seine Tochter das mit ansehen müsse, daher bringe gerade ein Freund sie in den Kindergarten. Ines kniff die Augen zusammen: »Sind Sie Raucher?« Herr Akbar bejahte, inzwischen kaufe er Tabak, weil es ansonsten zu teuer sei. »Schlafen Sie genug?« Nachts stehe er alle halbe Stunde auf, um nachzusehen, ob Frau und Tochter noch da wären. Vor zwei Wochen habe man ihnen das Weiße Papier zugestellt.

Freundlich und routiniert bekundete Ines ihre Anteilnahme. Die Routine bewahrte sie wohl davor, dass sie all das zu sehr mitnahm, doch ich hatte den Eindruck, sie hielt sich durch die Routine auch fern, als wäre dieser fremde Mann selbst das Unglück, das ihm widerfuhr und das er sonst auf sie übertragen könnte wie einen Infekt. Vielleicht war ihre routinierte Freundlichkeit auch eine feinere Form von Abwehr.

»Ich muss Sie doch auf diesen Widerspruch hinweisen: Sie haben Angst, zu sterben, rauchen aber immer mehr.«

Herr Akbar zögerte, dann sagte er, er wisse, dass der Rauch ihn von innen auffresse, aber kurz werde er leicht, fast schwerelos vom Nikotin. Neben seiner Tochter sei dieser Taumel alles, wofür er noch lebe. Ines wiegte den Kopf, so dass ihr halblanges Haar sacht zur Seite fiel: »Ich verstehe ja, dass das eine schwer erträgliche Situation ist, aber können Sie nicht konstruktiver damit umgehen?« Sie fragte ihn nach seinem Beruf – er war Zimmerer. »Vielleicht wollen Sie in der Holzwerkstatt arbeiten?« Verlegen schüttelte er den Kopf. »Wie steht es mit Sport?« Er habe nie gern Sport getrieben, Fußball sei immer am furchtbarsten gewesen. Kurz hatte er ein feines Lächeln im Gesicht, zwar reuevoll, aber auch erfreut, vielleicht hatte er doch einen klammheimlichen Spaß dabei, sie so auflaufen zu lassen.

Ines blieb hartnäckig: »Sie brauchen eine Tätigkeit, Struktur, um diesem Teufelskreis zu entkommen, der von der Furcht zu den Zigaretten zurück zur Furcht führt und so fort.« Es mochte an der Übersetzung des Wortes »Teufelskreis« gelegen haben, laut Sprachmittlerin jedenfalls erwiderte Herr Akbar: »Nicht dem Teufel, sondern der Polizei muss ich entkommen.« Ines schien von einem Missverständnis auszugehen; sie wiederholte den letzten Satz nun deutlich und mit Nachdruck. Ich nahm die Worte des Mannes dennoch ins Protokoll auf.

Ines ergänzte, was mit dem Weißen Papier geschehe, liege nicht in seiner Hand, aber seine Angst könne er sehr wohl in den Griff kriegen. Die Angst sei ein wichtiges Gefühl, sie gehöre zu den Primäraffekten, die alle Menschen teilten und die tief eingebaut seien in die menschliche Biologie. Das Angstzentrum der Amygdala feuere Noradrenaline, und das erfülle evolutionär eine Funktion: Wenn wir in einen Abgrund blickten, setzten wir den Fuß nicht in die Luft, und beim Anblick eines Säbelzahntigers hätten unsere Vorfahren Reißaus genommen. Auch ihn hätte seine Angst in Afghanistan zur Flucht bewegt. Hier aber habe sie keine Funktion mehr, da er auf das weitere Verfahren keinen Einfluss habe, sie fresse ihn, wie er ja selbst sage, nur von innen auf. Auch seine Angst vor einem Herzinfarkt erfülle keine Funktion, er rufe den Rettungsdienst, dabei sei er kerngesund, nicht einmal eine Erhöhung der Blutfettwerte könne man feststellen. Sie faltete den Arztbrief auseinander, legte den Finger auf den entsprechenden Befund. Dröhnend schwang sich ein Flugzeug in den Himmel, der Schatten der Maschine streifte das Büro. Vom Druck erfasst, zitterten die Fenster, und ich meinte, dass auch Herrn Akbars Finger unmerklich zitterten, Tremor, ging es mir durch den Kopf.

»Vielleicht hilft es Ihnen ja, bestimmte unzutreffende Grundannahmen zu verändern, wie die Annahme, Sie erleiden einen Infarkt, vielleicht können Sie die Befunde mit sich führen als handfesten Beleg Ihrer Gesundheit, sie auffalten, wenn Sie spüren, dass Ihnen das Blut stockt: So wird die synaptische Verbindung mit der Sterbensangst Schritt für Schritt gelöst.« Die letzten Worte sagte Ines beinah feierlich. Es schien mir einige Sekunden länger als sonst zu dauern, bevor die Sprachmittlerin die Worte ins Farsi übertrug, und auch ich hielt kurz inne, bevor ich den Stift wieder auf das Papier setzte.

Zum Abschluss nahm Ines Herrn Akbar das Versprechen ab, sich bis zum Ende der Behandlung nichts anzutun. Dann trug sie ihm auf, die Anzahl der Zigaretten zu reduzieren und viel zu trinken, ansonsten werde das Blut bei dieser Hitze zu dick, um Herz und Gehirn bis in die letzten Gefäßarme zu versorgen. Außerdem solle er täglich eine halbe Stunde spazieren gehen, Bewegung und Sonne förderten das Serotonin, das verantwortlich für das Wohlbefinden sei. Sie sagte es so deutlich, als ob sie mir diktieren würde. Vom raschen Schreiben schmerzten mir die Sehnen, doch ich notierte alles, als sei das Notieren schon eine Tat.

Als Ines mit ihren Instruktionen am Ende war, erhob sie sich von ihrem Sessel, ging hinüber zum Schreibtisch und entnahm der Schublade über den Süßigkeiten eine durchsichtige Dose mit Schraubverschluss. Ein weißer Kokon befand sich darin, »Ammoniak«, sagte sie und überreichte Herrn Akbar die Dose wie eine Kostbarkeit, »wirksamer als Chilischoten und Ingwerbonbons. Wenn die Angst Sie überwältigt, können Sie die Ampulle entzweibrechen, man vergisst alles andere darüber, so scharf ist dieser Reiz.« Ich stellte mir vor, in diesen weißen Kokon sei ein bestialischer Schmetterling eingesponnen, der einem, entließ man ihn, sofort durch die Nasenlöcher in den Leib fuhr, einen besessen machte oder einem doch die Sinne zurückgab. Ines verordnete die Ampullen gleichermaßen bei Gedankenkreisen, Impulskontrollstörungen und Suizidalität; die Dämpfe beförderten einen scheinbar von wo auch immer in andere Sphären. Einmal entwendete ich eine der Ampullen, stach zu Hause mit einer Gabel hinein, sie verströmte den Geruch von scharfem Urin, wie ich ihn bis dahin nur von kleinen Katzen gekannt hatte.

Sobald Herr Akbar und die Sprachmittlerin zur Tür hinaus waren, begann Ines zu spekulieren, wie man sein Leiden erklären könne. Die koronale Herzkrankheit sei mitunter psychisch bedingt, da bei Depressionen die Gefäße Kalk ansetzten und die Blutfettwerte erhöht seien. Bei ihm gebe es aber keinen entsprechenden Organbefund, weshalb sie von einer somatoformen autonomen Funktionsstörung ausgehe, der Herzmuskel sei ja vegetativ innerviert. Ich dachte an all diese Vorgänge im Körperinneren, die sich unserer Wahrnehmung entzogen. Ines schien eher mit sich selbst zu sprechen als mit mir; ich fragte mich, ob das Bedürfnis, zu verstehen, nicht aus der Angst vor all dem Unergründlichen rührte, das dem Bewusstsein nicht zugänglich war. Es gehe um Kontrollverlust, fuhr Ines fort, hier kardiovaskulär, der Vagusnerv verbinde das Herz mit dem Hirn, wodurch es zu Herzrhythmusstörungen, Synkopen und Vorhofflimmern komme. Die Neurobiologie kam mir wie eine winzige Taschenlampe vor, die nur einen Winkel beleuchtete und diesen zur Welt erklärte, weil durch ihre Linse nichts Weiteres zu sehen war. Ich nickte nur von Zeit zu Zeit und blickte in Ines’ Richtung, während hinter dem Aldiparkplatz die Sonne dem Horizont entgegensank.

Bevor wir gehen konnten, mussten wir eine Akte für die Befunde anlegen, die zackigen Herzstromkurven, die wir kopiert hatten, die leuchtende Myelinstruktur des Gehirns, alles musste inventarisiert werden. Ich hustete vom Staub, als ich die Ordner durchblätterte, in denen die Akten alphabetisch abgeheftet waren, er hatte sich angelagert im Papier, das blieb – Phantomakten.

»Du hast noch nicht gelernt, den Namen auszusprechen, und schon ist die Person wieder fort«, sagte Ines. Es war das erste Mal, dass sie nicht vom »Gast« sprach. »Lass das nicht zu nah an dich heran.« Mit diesen Worten streifte sie den Kittel von den Schultern. Ich schaute nach den Buchstaben auf dem Ordner und schob ihn in die entsprechende Lücke. Bevor wir das Büro verließen, sprühte sie noch Zitrusöl in alle Zimmerrichtungen, auf dem Etikett der Flasche stand in geschwungenen Lettern »Klarer Geist«. Ich sagte scherzhaft: »Eine Geisteraustreibung hätte ich dir gar nicht zugetraut«, doch Ines erwiderte nur nüchtern: »Sonst muss ich wegen des Staubs andauernd niesen. Nicht nur in den Akten, auch im Teppich hat er sich festgesetzt.«

Ich kann mich noch an die Heimfahrt an jenem Abend erinnern, an mein Hadern. Im Westen war der Himmel noch hell gestriemt, finster bauten sich die Container davor auf, die Schlote, aus denen schwerelos der Dampf stieg. Die Duftschwaden von Kamillen, die auf den Halden wuchsen, mischten sich mit dem Geruch nach warmem Teer. Im Bus dagegen roch es wie immer nach schweißtreibender Arbeit. Außer mir fuhren abends nur Männergruppen mit, sie schufteten vermutlich auf den Umschlagplätzen, in den Fabrik- und Hafenanlagen. Allesamt trugen sie Arbeitsmonturen und hatten wettergegerbte Haut.

Als der Bus Kurs auf die Brücke nahm, sah man die andere Flussseite, von den Lichtern der Straßenlaternen längs gesäumt. Mir fiel wieder ein, wie ich als Kind aus dem Fenster der Mansarde auf die Hügelkette jenseits des Talkessels geblickt hatte, die am Abend magisch leuchtete wie ein fernes, versprochenes Land, Amerika, hatte ich gemeint, und meine Eltern hatten sich schiefgelacht; später hatte ich gelernt, dass es sich bei jener Erhebung um einen aus dem Schutt der Weltkriege aufgetürmten Trümmerberg handelte.

Hinter den Lauben und Gartenkolonien sah man den vagen Schein des Flutlichts über den Rollfeldern des Flughafens. An einer herabschwebenden Maschine flammten die Warnleuchten auf. Bis in den Bus hinein hörte man ihr Tosen. Ich stellte mir vor, wie die Passagiere ihre Gurte lösten und später das Gepäck vom Band nahmen und ihren Angehörigen in die Arme fielen, während sich die Maschine neu besetzt in die Luft schwang. Ich googelte Ammoniak: ein stark stechend riechendes, giftiges Gas, das zu Tränen reizte und erstickend wirkte. Natürlich war das eine Frage der Dosierung, in geringer Konzentration wurde das Gas seit jeher in der Medizin eingesetzt. Es würde weder mir noch sonst jemandem helfen, alles, was mir hier unterkam, meinem Argwohn zu unterziehen. Ich musste konstruktiv denken, Konstruktivität sollte die Arbeitshypothese sein. Ich dachte an Ines’ kräftige Hände, doch vom Vibrieren der Fenster vibrierten nun auch meine Hände leicht. War meine Arbeitshypothese nicht eher der Zweifel? Zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich auf dieser Stelle nicht fehl am Platz war.