Am nächsten Morgen suchte ich zuerst den Hausmeister auf. Beim Essen hatten wir einmal gemeinsam am Tisch gesessen, er beklagte sich bitterlich, dass er seinen Wecker seit der Versetzung auf 4 Uhr 35 habe vorstellen müssen, reichte mir dann die Hand über den Tisch, seine Nägel waren vom Nikotin gelblich verfärbt. »Heiko, der Facility Manager bin ich.« Er kicherte, zwirbelte dabei an seinem grau melierten Schnurrbart. »Die Engländer können mit ihrer Sprache alles so schön aufwerten.«
Als ich ihn nun antraf, stand er auf der obersten Sprosse einer Leiter, eine Sprühdose in seiner rechten Hand, kam dann heruntergeklettert, als ich nach ihm rief, und schob sich seinen Mundschutz unter das Kinn. Ich grüßte ihn und erzählte von den Stichen Herrn Awads, dessen Kabine doch eigentlich ausgeräuchert worden sei; er schaute die Nummer auf seinem Handy nach und nickte bestätigend. Andauernd würden ihn Gäste nach der Räucherung mit Beuteln voller Bettwanzen aufsuchen und eine Umverlegung fordern. Dabei sei es ein gutes Zeichen, wenn die Wanzen aus den Ritzen kröchen, denn nur so kämen sie mit den Insektiziden in Kontakt. Er senkte die Stimme nun etwas: »Zwar sollen die Gäste die Gründe besser nicht erfahren, aber es ist wichtig, sie nicht umzuverlegen, da die Wanzen angezogen werden durch die Körperwärme und so hervorkommen, auch noch mal beißen, bevor das Kontaktgift sie krepieren lässt.« Er verzog die Stirn: »Eigentlich bräuchte man bei Wanzen einen Kammerjäger, aber leider fehlen hier die finanziellen Mittel dafür.«
Ich fragte nach der Wirkzeit des Insektizids, da die Ausräucherung schon eine Zeit zurücklag. »Vier Tage«, sagte Heiko und schaute wieder auf seinem Handy nach. Die Ausräucherung sei bereits vor über einer Woche gewesen. Bedächtig wiegte er den Kopf: »Manchmal kommen neue Wanzen durch die Ritzen im Pressholz hinein. Manche Gäste verwechseln die Stiche der Wanzen jedoch auch mit jenen von Tigermücken.« Ich kniff die Augen zusammen, woraufhin er erklärte, die Tigermücken hätten gezackte Bänder und rote Pusteln auf dem Rücken und seien doppelt so groß wie herkömmliche Mückenarten. Ursprünglich kämen sie aus den tropischen Zonen Asiens, aber durch die Klimaerwärmung nisteten sie nun auch entlang des Flussufers, man müsse sich vor ihnen hüten, da sie allerlei Krankheiten übertrügen, allen voran Encephalitis, Hirnhautentzündung. Seine Hände holten nun weit aus: Es gebe aber auch noch ganz andere Plagen, angewehte Sporen würden in den Astgabeln der heimischen Bäume austreiben und den Saft aus der Borke ziehen, bis der Wirtsbaum allmählich absterbe. Sogar Giftspinnen aus Subsahara gebe es hierzulande neuerdings. Da wir mit solchen Schädlingen aber bisher nicht vertraut seien, wisse man noch nicht, welches Pestizid einzusetzen sei. Er hob den Zeigefinger: »Das wird in der Kammerjagd zukünftig noch zur Königsdisziplin!«
Während er, von unruhigen Gesten begleitet, sprach, blickte ich um mich, ob nicht einer der Gäste zugegen war. Vielleicht hätte auch eine seriöse Zeitung die Tigermücke in einem Zug mit dem chinesischen Springkraut erwähnt, das die einheimische Brennnessel verdrängte aber an diesem Ort klang alles anders. Heiko beugte sich über seinen Rucksack, holte eine angebrochene Flasche Autan her-vor, die er vermutlich für den Eigenbedarf genutzt hatte, das solle ich Herrn Awad mitbringen. Auf die Stiche, die er schon habe, solle er sich Zahnpasta schmieren, das ziehe das Mückengift heraus durch das Fluorid. Ich dankte höflich.
Etwas niedergeschlagen ging ich zurück zum Büro. Ich hatte Ines gestern nach dem Gespräch mit Herrn Awad nicht mehr angetroffen und wollte mich bei ihr wegen des WLANs erkundigen. Sie pinnte gerade das Polaroid eines Konfettiregens über ihren Computer, wandte sich kurz zu mir um und sagte mit einem leicht koketten Ton: »Du hast das Büro ja ganz schön lang besetzt gestern!« Ich entschuldigte mich, erwiderte, dass Herr Awad sehr viel erzählt habe und ich ihn nicht habe unterbrechen wollen. Sie wandte sich wieder dem Polaroid zu: »Er hat niemanden zum Sprechen. Es ist nicht immer einfach, hier zielorientiert zu arbeiten.« Ich blickte an ihr vorbei auf den Konfettiregen. »Ernährt er sich inzwischen denn besser? Macht er Sport?« Ich fistelte am Ärmel meines Kittels herum: »Er trinkt und isst dreimal am Tag.« Sie blätterte in den Akten und sagte schließlich, beim nächsten Gespräch solle ich ihn noch mal darauf hinweisen.
Während ich mich an den Computer setzte, fragte ich nach dem WLAN-Signal in der Halle. Sie meinte, dafür sei die Schichtleitung zuständig. Als sie hier angefangen habe, hätte man das WLAN sogar abgestellt, wenn die Gäste den Essbereich nicht rein gehalten hätten, aber bei einem Giftgasangriff in Syrien im Frühling letzten Jahres hätten viele von ihnen aufbegehrt, da der Kontakt zu ihren betroffenen Angehörigen wegen einiger verkrusteter Teller auf einem Biertisch für Stunden unterbrochen worden sei. Sie habe durchgesetzt, dass man diese Bestrafungsmaßnahme durch ein individuelles Belohnungssystem ersetzt habe; nun bekomme man einen Bonus, wenn man besonderes Engagement bei der Reinhaltung des Essbereichs beweise, man habe dann Vorrang in der Schlange an der Essensausgabe. Ich weiß noch, wie verwundert ich war, dass auch Ines sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Gäste eingesetzt hatte.
»Weshalb interessiert dich das?«, fragte sie. Ich er-zählte von den Online-Sitzungen mit seinen Mandanten, die Herr Awad wegen der schlechten Verbindung nicht abhalten konnte. Von seiner Frau erzählte ich nicht, zwar war ich Ines gegenüber vermutlich auskunftspflichtig, aber dennoch wäre es mir vorgekommen, als verriete ich ihn. Ines setzte Kaffeewasser auf, und als es gurgelnd durch den Trichter in die Kanne lief, wandte sie sich wieder mir zu, die Hand auf der Anrichte abgestützt: »Natürlich kannst du bei der Schichtleitung anfragen, aber vermutlich ist da nicht viel zu erreichen. Pass auf, dass du dich nicht verausgabst.« Im grellen Mittagslicht, das durch die Fensterfront schien, sah ihr Gesicht gezeichnet aus. Falten zogen sich von ihren Mundwinkeln zu den Nasenflügeln, ihre Lippen waren dünn, wie von einem Verzicht.
Als ich Herrn Awad kurz darauf mitteilte, ich könne wegen der Wanzen leider nichts ausrichten, sagte er nur, das habe er sich schon gedacht. Fast hatte ich den Eindruck, er habe mich nur aus Höflichkeit machen lassen. Rasch fügte ich hinzu, wegen des WLANs würde ich aber die Schichtleitung anfragen, doch er meinte, ich solle mir keine Mühe machen. Am Morgen habe ein Asylanwalt, an den eine Sozialarbeiterin ihn vermittelt habe, ihm gesagt, was seine Frau angehe, sei es ohnehin aussichtslos: Selbst für Geflüchtete, die einen Aufenthaltsstatus hätten, sei zur Zeit der Nachzug ihrer Ehefrauen ausgesetzt. Er blickte nun wieder in Richtung Fenster, aber es schien mir, als wende er sich nur ab, damit ich sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Zuletzt habe ich ihr geschrieben, dass es eines Tages vielleicht irgendwo ein anderes Land geben wird, einen anderen Planeten.« Er sprach nicht weiter. Kurz dachte ich, er würde sicher gleich trocken auflachen, doch er entkräftigte seine schweren Worte nicht. Also folgte ich seinem Blick, stellte mir vor, wie dieser unbeschriebene Ort sich irgendwo sehr weit draußen in unwirklicher Klarheit vom Schwarz des Universums abhob, eine azurblaue Perle mit noch heilem Ozon. Beunruhigt fragte ich mich, ob der Wunsch nach einer solchen Ferne nicht auch auf den Tod verwies und Herr Awad vielleicht doch suizidal war, oder ob es einfach das Normalste auf der Welt war, das Unerreichbare in den Himmel zu projizieren. Ich schwieg, wagte nicht, etwas zu sagen, alles, was ich hätte sagen können, schien mir banal. Man hörte nur das Summen der Rotorblätter an der Decke, und plötzlich fühlte ich mich abgeschnitten von der Welt, als wären die Flussufer immer weiter auseinandergeklafft und die Stadt auf der anderen Seite liege nun unerreichbar fern.
Herr Awad schüttelte verständnislos den Kopf: »In Syrien bin ich frisch verheiratet gewesen, habe einen Namen als Anwalt gehabt, wollte mich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen. Jetzt ist mein einziger Wunsch, die Wanzen loszuwerden, so verwahrlost bin ich schon.« Er schlang die Arme umeinander, als wolle er sich festhalten, schaute wieder in eine unbestimmte Ferne, an mir vorbei, Tränen rannen über seine frischrasierten Wangen. Sie bestürzten mich, und auch ich spürte nun einen Zug in den Augenhöhlen, den ich jedoch sofort unterdrückte; diese Art der Anteilnahme schien mir zu billig, sie schien mir eher ein Missverständnis zu sein als Mitgefühl. Also sah ich ihm nur zu, fühlte mich wie eine Voyeurin, da ich ein Leid bezeugte, gegen das ich nichts zu tun imstande war, ich hatte nichts in Händen als eine Flasche Insektizid gegen Tigermücken, die es vielleicht noch nicht einmal gab.
Ines hätte ihm vermutlich eines der Tücher aus der Kleenex-Box gereicht, die schon vorsorglich zwischen uns auf dem Tisch stand, doch auch das wäre mir in jenem Moment wie eine leere Geste vorgekommen oder gar wie eine Aufforderung, sich doch bitte das Wasser aus dem Gesicht zu wischen wie einen wenig ansehnlichen Fleck. Ich suchte stattdessen nach aufbauenden Worten, etwas Zukunftsweisendem, sagte am Ende aber nur: »Es tut mir leid, aber ich kann nichts für Sie tun.« Er machte eine abwinkende Handbewegung, sagte: »Es tut schon gut, dass ich mit Ihnen ehrlich sein kann. Nicht einmal mit meiner Frau kann ich das; selbst wenn ich die Tränen unterdrücke, spürt sie sie über Facetime und weint für mich, und sie weinen zu sehen, verkrafte ich nicht.« Bei diesen Worten lächelte er, doch ich erwiderte sein Lächeln nicht.
Mit dem Ärmel seines T-Shirts fuhr er sich über das Gesicht: »Kennen Sie Johannes den Täufer?« Ich nickte etwas unschlüssig, und er ergänzte wie zur Erklärung, auch für Muslime sei Johannes ja ein Prophet. Er selbst habe bei einem Schulbesuch der Umayyaden-Moschee in Damaskus zum ersten Mal von ihm gehört, dort werde sein Haupt als Reliquie verwahrt. Jedenfalls habe der Imam der Moschee ihnen damals erzählt, dass Johannes der Täufer viele Tränen vergossen habe, da nur mit ihnen die Brücke zwischen Hölle und Paradies zu überschreiten sei. Mir fielen Ines’ Worte wieder ein, dass die Religion jedem Leiden einen Sinn abgewinnen könne – welchen Trost boten dagegen unsere Manuale, die Medizin? Nicht einmal das Weinen konnten sie erklären, kamen über die chemikalische Zusammensetzung einer Träne, die Biomarker der Traurigkeit kaum hinaus. Blinzelnd wies Herr Awad in Richtung des Flusses: »Für diese Brücke braucht man aber leider einen Ausweis, Tränen bringen einem da nichts.« Er lächelte erneut, und diesmal lächelte ich auch.
Danach habe ich ihn nie wiedergesehen. Zur abgemachten Zeit erwartete ich ihn im Büro, doch er kam nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er den Termin einfach versäumt hatte. Nach einer Viertelstunde beschloss ich, nach ihm zu sehen, zog, nachdem niemand meinen Gruß erwidert hatte, den fadenscheinigen Vorhang seiner Kabine zögernd auf. Von dem Bett, an dem noch immer sein Code angebracht war, hatte man die Matratze abgenommen, geblieben war nur ein stählernes Skelett. Durch die Streben waren Wollmäuse zu sehen, Nester aus Haaren, die sich im Lauf der Zeit auf dem Linoleum angesammelt hatten. Trotz der Hitze, die bei den Kabinen herrschte, fröstelte es mich, vielleicht kam das Frösteln aber auch vom Schweiß, der sich wie ein feiner Film auf meine Haut gelegt hatte.
Zurück im Büro gab ich seinen Code in das System ein, auf dem Bildschirm erschienen rote Lettern: nicht belegt. Wieder und wieder drückte ich die Entertaste, als würde es sich lediglich um einen Fehler handeln, als wäre die Übersetzung zwischen Wirklichkeit und Virtualität hängengeblieben, wie morgens im Erwachen aus einem Traum. Nach ein paar Anläufen gab ich es auf, wählte die Nummer der Schichtleitung. Uwe, der Schichtleiter, sagte, das sei verwunderlich, in den letzten Nächten habe es keinen Polizeieinsatz gegeben, und wenn Herr Awad im Dublin-Verfahren sei, verlege man ihn nicht mehr um. Ich hörte den Anschlag der Tastatur, die Schichtleitung hatte Zugriff auf weitere Funktionen im System, konnte über den Listengenerator auch den Verlauf der Belegungen abfragen.
Das Klackern der Tastatur hörte auf, Uwe nannte meinen Namen, um sich zu vergewissern, dass ich noch immer in der Leitung war. »Eine freiwillige Rückkehr nach Syrien hat der Gast über das Sozialarbeitsbüro beantragt, schon vorgestern ist er aus dem Belegungsplan gelöscht worden.« Ich wollte nachhaken, ob er sich nicht im Code vertan habe, ließ es dann aber doch, legte dankend auf. Vor dem Fenster stieg unaufhörlich der Dampf der Heizkraftwerke in den klaren Himmel, ein Flugzeug schwang sich in die Luft. Ich folgte ihm mit dem Blick, bis es zusammenschrumpfte zu einem silbrigen Stift. Der andere Planet, von dem Herr Awad gesprochen hatte, kam mir in den Sinn, und obwohl mir etwas übel wurde, zog ich die unterste Schublade hervor, nahm mir aus einer angebrochenen Packung eine Handvoll Schaummäuse.
Das letzte Gespräch hatte ich noch nicht zu Proto-koll gebracht, und während ich auf den schon etwas stei-fen Tieren herumnagte, versuchte ich, mich an Hinweise zu erinnern. Sein Kommentar zur Brücke über den Fluss – ich fragte mich, was für ihn dahinter lag, welches Paradies. Glaubte er, durch seine Rückkehr dorthin zu gelangen? Hatte er seine verlorene Heimat schon derart verklärt? Nicht auszudenken, was ihm blühen würde in Syrien. Vielleicht hatte er seine Rückkehr aber auch einfach nur deshalb in die Wege geleitet, weil er die ständige Gefahr einer Abschiebung nicht mehr ertrug, oder weil er schlicht die Trennung nicht mehr verkraftete, was wusste denn ich.
Später trug mir Ines auf, der Vollständigkeit halber zumindest ein skizzenhaftes Protokoll des letzten Gesprächs anzufertigen, erst dann könnten wir die Akte abheften. Vielleicht sollte diese vorgebliche Vollständigkeit darüber hinwegtäuschen, dass sich die Splitter, wie auch immer man sie sich zurechtlegte, nicht zu einer sinni-gen Geschichte fügen ließen, dass der inhaltliche Verlauf ein lückenhafter blieb. Ich druckte das Protokoll aus, heftete Herrn Awad zu den Phantomakten, hustete beim Aufschlagen der Ordner vom Staub, und mit dem Staub kamen Ines’ Worte wieder, bevor man den Namen aussprechen könne, sei die Person schon wieder fort – langsam begriff ich. Als ich am Abend auf die andere Seite des Flusses fuhr, zitterten die sonst so klar gestochenen Linien der Ufer, kurz verschwamm die Sicht. Ich sagte mir, dass Herr Awad seine Fluchtgründe vielleicht auch übertrieben habe, oder seine vermögende Familie hatte die Regierung geschmiert. Bevor ich in die U-Bahn stieg, holte ich mir an einer Tankstelle ein Bier.