Kapitel 7
Blick hinter die Kulissen: im Maschinenraum des freien Wissens

Wikipedia ist ein seltsames Konstrukt, wie wir es sonst in unserem beruflichen oder privaten Umfeld kaum kennen. Eine Seite, an der jeder ohne Anmeldung und ohne Prüfung der Qualifikation mitschreiben kann. Eine Seite, in der die meisten Inhalte anonym oder unter Pseudonymen erstellt werden. Eine Enzyklopädie, die keine zentrale Redaktion hat, keinen Herausgeber. Sie ist eine der am häufigsten aufgerufenen Webseiten überhaupt und spielt in einer Liga mit Facebook, Google, Amazon, jedoch ohne Werbung und ohne Eigentümer, ja, ohne jedes kommerzielle Interesse.

Fast scheint all dies zu gut, um wahr zu sein – und in solchen Situationen neigen Menschen dazu, altbekannte Erklärungen und vertraute Muster heranzuziehen. Wir sind es gewohnt, Organisationen als Hierarchie zu denken, als ein »Unten und Oben« organisiert. Und so ist es kein Wunder, dass in der Berichterstattung über Wikipedia zumeist eine hierarchische Darstellung genutzt wird, um die Machtstruktur innerhalb des Projekts zu beschreiben.

Ganz unten stehen die Leser, die zwar Wikipedia-Inhalte mehr als eine Milliarde Mal im Monat aufrufen, die aber ansonsten im Prozess der Produktion einer Enzyklopädie kaum vorkommen. Danach kommen die sogenannten IPs: Diese Abkürzung steht für Internet Protocol, also für die Adresse, mit der jeder Computer, jedes Handy, jedes Smart Device im Internet erreichbar ist. Bearbeitet jemand Wikipedia ohne ein Benutzerkonto, so wird die IP-Adresse als »Autor« des Edits angezeigt. Auf den ersten Blick mag eine solche Zahlenfolge, also z. B. 109.42.2.96, besonders anonym wirken, umso mehr, als sich diese IP-Adressen kontinuierlich ändern. Die Adresse, mit der ich derzeit im Netz bin, wird in wenigen Stunden wieder eine ganz andere sein. Doch das Gegenteil ist der Fall: Als nicht angemeldete IP ist man in Wikipedia lange nicht so anonym wie als Benutzer. Und dies wurde bereits zahlreichen Firmen, Politikern und Prominenten zum Verhängnis. Zunächst einmal verrät eine IP-Adresse häufig, aus welcher Region oder sogar aus welchem Ort ich ins Internet gehe, ebenso wie meinen Internet-Anbieter. Doch oft sagen die Adressen noch mehr aus, etwa dass eine Bearbeitung aus dem Netz des Deutschen Bundestages erfolgt. Wie viele große Organisationen (und auch Firmen) verfügt der Bundestag über eindeutig zuordbare IP-Adressen. Wenn nun aus einem Abgeordnetenbüro heraus ein Wikipedia-Artikel ohne Benutzerkonto geändert wird, so ist dies problemlos nachvollziehbar. Zwar wissen wir nicht, ob es das Büro des Abgeordneten Joachim Pfeiffer (CDU) war, das unmittelbar vor der letzten Bundestagswahl dessen Unterstützung für die Atomkraft in ein deutlich milderes Plädoyer für die ökologische Energiewende ersetzte. Und auch beim SPD-Abgeordneten Wilhelm Priesmeier ist nicht klar, ob er selbst es war, der in seinen Wikipedia-Artikel die Information eingefügt hat: »Sein Hund heißt Bobo.« Aber wir wissen, dank einer Datenrecherche des Bayerischen Rundfunks,1 dass von den 658 Abgeordneten-Artikeln immerhin 227 Artikel in den Wochen vor der Wahl aus dem Netz des Bundestages bearbeitet wurden. Und dass das keineswegs nur zu Wahlzeiten so ist, zeigt der Twitter-Kanal @bundesedit2, der seit 2014 jede Wikipedia-Änderung, die aus dem Bundestag, einem Ministerium oder einer Bundesbehörde erfolgt, akribisch dokumentiert. Nicht alle der rund 9 000 Bearbeitungen erfolgen im politischen Bereich – oft genug ist es wahrscheinlich nur ein Büromitarbeiter, der in seiner Kaffeepause den Artikel etwa zum European Song Contest bearbeitet hat. Es zeigt aber deutlich, dass man als nicht angemeldeter Benutzer, also als »IP«, eben weniger anonym ist als mit einem Konto. Denn bei einem Konto wird die benutzte IP-Adresse zwar auch in der Datenbank erfasst, ist aber aus Datenschutzgründen nur für einige ausgewählte Benutzer mit Sonderrechten einsehbar.

Bearbeitungen von IPs sind verhältnismäßig selten: Von den insgesamt rund 900 000 Edits pro Monat machen diese gerade einmal rund 175 000 aus. Das Gros der Bearbeitungen, nämlich rund 725 000 im Monat, kommt von den Benutzern, die ein Wikipedia-Konto angelegt und sich damit als Autoren angemeldet haben. Diese Anmeldung ist denkbar einfach, man sucht sich lediglich einen beliebigen Benutzernamen aus und legt ein Passwort fest. Man muss noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse hinterlegen oder sonst irgendwelche Daten bestätigen. Den Benutzernamen kann man frei wählen, so dass man etwa den eigenen Namen verwenden kann, ist dann aber natürlich nicht mehr anonym. Viele Wikipedianer benutzen daher ein Pseudonym – sei es, damit ihre Bearbeitungen nicht ihrer Person zugeordnet werden können. Oder weil sie befürchten, Ärger mit dem Arbeitgeber zu bekommen, wenn sie während der Arbeitszeit Artikel ändern. Vielfach ist es aber einfach nur die Lust an der Maskerade, die für einen möglichst originellen Benutzernamen spricht. Viele Wikipedianer geben zu einem späteren Zeitpunkt auch ihre echten Namen in Wikipedia bekannt, arbeiten aber aus Tradition unter dem ursprünglich gewählten Benutzernamen weiter.

Insgesamt editieren rund 56 000 angemeldete Benutzer mindestens einmal im Monat in Wikipedia. Das klingt zunächst nach sehr viel – aber nur 8 400 von ihnen kommen auf mehr als 5 Bearbeitungen im Monat.

Kann man daher sagen, dass Wikipedia im Großen und Ganzen von knapp unter 9 000 Menschen geschrieben wird? Nein – es sind tatsächlich noch viel weniger: Im März 2020 wurden insgesamt etwas mehr als 600 000 Edits an Wikipedia-Artikeln vorgenommen. Mehr als 180 000 von diesen (also rund 30 %) wurden von gerade einmal einhundert Wikipedianern erstellt.

Im globalen Wikiversum nehmen in Deutschland die sogenannten Sichter eine Sonderrolle ein, da es sie zunächst nur in der deutschen Wikipedia gab. Seit 2008 werden Beiträge von nicht angemeldeten (also den IPs) und von neuen Benutzern nicht sofort auf Wikipedia angezeigt, sondern erst, wenn sie von einem Sichter freigegeben werden. Sichter ist jeder, der seit mindestens 30 Tagen bei Wikipedia angemeldet ist und in dieser Zeit mindestens 150 Bearbeitungen vorgenommen hat. Die Hoffnung ist, dass dies den leider immer wieder vorkommenden Vandalismus in Artikeln zurückfährt, da nicht jede Änderung sofort im Artikel sichtbar ist. Zugleich nimmt diese zwischengeschaltete Freigabe aber auch einem der faszinierenden Aspekte von Wikipedia etwas von seinem Reiz: eben der Möglichkeit, dass jeder und jede in Wikipedia etwas verbessern kann und diese Verbesserung auch umgehend für alle Leser sichtbar wird. Vielleicht ist das der Grund, warum neben der deutschen Wikipedia lediglich 20 der 310 Wikipedia-Ausgaben die Funktion der Sichter kennen.

Und dann sind da die Administratoren. Von ihnen gibt es (Stand: März 2020) 184. Oft werden sie als eine Art Wikipedia-Elite, als die eigentlichen, aber heimlichen Herrscher des Projekts gesehen. Für die Süddeutsche Zeitung stellen sie das »Führungspersonal der deutschen Community«3, die Stuttgarter Zeitung unterstellt ihnen schon mal »Löschwut«4 und die Salzburger Nachrichten bemühen gar James Bond: Die Administratoren verfügten über »die Lizenz zum Löschen. Die am meisten gefürchtete Waffe unter allen Wikipedia-Autoren.«5

Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein. Administratoren stehen nicht an der Spitze der Wikipedia-Hierarchie. Sie sind nicht die Chefs der Enzyklopädie. Sie haben keinerlei Entscheidungsmacht über inhaltliche Fragen, sie sind nicht die höchste Instanz.

Sie verfügen zwar über einige technische Möglichkeiten, über die normale Wikipedianer nicht verfügen: Vor allem können sie Benutzerkonten von Wikipedianern temporär oder dauerhaft sperren, und sie können tatsächlich einen Artikel löschen.

Doch eigentlich können sie einen Artikel lediglich verstecken, so dass er den Lesern nicht mehr angezeigt wird. Der Artikel selbst ist immer noch in der Datenbank vorhanden und kann, sollte sich die Löschung als voreilig erweisen, auch mit einem Tastendruck wiederhergestellt werden.

Wie wir bereits gesehen haben ist ein Löschantrag de facto ein Mittel zur aktiven Qualitätssicherung, vielfach kommen die Artikel am Ende einer solchen Löschdiskussion deutlich verbessert heraus, als sie hineingegangen sind. Ein Antrag auf das Entfernen eines Artikels, egal aus welchem Grund, führt nämlich nicht nur zu zum Teil engagierten Diskussionen für und wider. Vielmehr kann man auch hier eine Form des bereits beschriebenen Wikipedia-Wunders beobachten: Es gibt zahlreiche Wikipedianer, die die entsprechenden Seiten der Löschanträge genau beobachten. Sobald es einen neuen Antrag auf Löschung gibt, machen sie sich an die Arbeit, den Artikel zu retten. Sie verbessern ihn, liefern Belege und Quellen, entfernen Unbelegtes oder Falsches, verbessern den Stil und »Wikifizieren« den Artikel, indem sie ihn mit anderen Wikipedia-Artikeln verlinken. Denn ein Artikel wird nur dann gelöscht, wenn seine Aussagen nicht mit guten Quellen untermauert sind und wenn er nicht den Ansprüchen eines Wikipedia-Artikels entspricht.

Vielfach lassen sich solche Mankos in wenigen Tagen beheben. Dies drückt sich auch in den Zahlen aus: So wurde im November 2019 auf insgesamt 536 Artikel ein Löschantrag gestellt, tatsächlich gelöscht wurden aber nur 282. Das heißt, dass rund die Hälfte der zur Löschung vorgeschlagenen Artikel im Verlauf der siebentägigen Löschdiskussion deutlich verbessert und ausgebaut und damit erhalten werden konnte.

Die oft zitierte »Löschhölle« oder die »Löschwut« ist schlicht eine immer wieder gerne wiederholte, aber falsche Darstellung der Realität. Es ist ja auch absurd, zu glauben, dass eine Enzyklopädie, die sich zum Ziel gesetzt hat, das gesamte Wissen der Menschheit zu sammeln und allen Menschen frei zugänglich zu machen, dass gerade ein solches Projekt eine besondere Freude oder Genugtuung aus dem Löschen eben dieses Wissens ziehen würde.

Doch auch bei der anderen Hälfte der Löschanträge sind es nicht die Administratoren, die die schwere Keule schwingen und einen Artikel, der ihnen nicht passt, löschen. Die Administratoren sind vielmehr diejenigen, die die technischen Möglichkeiten haben, den in der Löschdiskussion entstandenen Konsens der Community umzusetzen. Macht sieht wahrlich anders aus.

Und auch die zweite vermeintliche Waffe im Arsenal eines Administrators ist eher eine Schreckschusspistole als ein scharfes Schwert: Denn auch die Sperre von Benutzern ist eher symbolisch in einem Projekt, an dem man auch ganz ohne jede Anmeldung teilnehmen kann. Ein wenig erinnern die Administratoren bei Wikipedia an den Scheinriesen Tur Tur, den Michael Ende in seinem Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer beschrieben hat: Wie dieser erscheinen die Administratoren der Enzyklopädie als besonders groß, stark und mächtig – doch bei näherem Hinsehen sind sie keineswegs die Herrscher des Projekts. Sie sind die Hausmeister.

Schon rein statistisch wird dies deutlich: Von den (Stand: März 2020) 100 aktivsten Autoren bei Wikipedia sind gerade einmal 23 Administratoren, und unter den Top 10 sind es gerade einmal zwei.

Natürlich gibt es unter ihnen Menschen mit Einfluss auf die inneren Abläufe in Wikipedia. Doch die Sicht auf Administratoren als die Mächtigen beruht auf dem Wunsch, jemand müsse da doch »das Sagen haben«, Verantwortung übernehmen, Entscheidungen treffen, die Kontrolle haben und auch ausüben. Ein System, in dem all dies fehlt, das können wir uns nur schwer vorstellen.

So weit zu den Rollen, die immer wieder herangezogen werden, wenn man die vermeintliche Machtstruktur von Wikipedia darstellen möchte. Diese hierarchische Darstellung ist ebenso verlockend wie vereinfachend. Verlockend, weil sie uns erlaubt, Wikipedia in uns vertrauten Kategorien zu beschreiben. Wir sind es dermaßen gewohnt, jede Form von Organisation, sei es eine Firma, eine Partei, ein Verein oder Ähnliches, als eine Pyramide, als ein »Unten« und »Oben« zu denken, dass es uns schwerfällt, aus diesen Denkweisen auszubrechen und uns vorzustellen, dass sich Menschen auch in nicht hierarchischen Gebilden zusammentun können.

Doch Wikipedia ist genau das: etwas Organisches, ein neuer Typus von Gemeinschaft, ein Typus, der tief in den Prinzipien des Internets verwurzelt ist. Das Wesensmerkmal des Internets ist seine Verknüpfung, sind seine Knoten und vielfältigen Verzweigungen und Verästelungen. Die zentrale Idee hinter dem Design des Internets ist es, keine Machtcluster zu haben, die vielleicht einiges in der Verwaltung erleichtern würden, die aber eben auch eine hohe Verletzlichkeit bedeuten würden. Das Internet sollte auch im Falle eines globalen Atomschlags noch in der Lage sein, Informationen weiterzuleiten, ohne dass diese an einer zerstörten Zentrale hängen bleiben würden. Jedes Info-Paket wird im Netz gleich behandelt, es sucht sich seinen Weg selbst, bis es (oft genug über Umwege) beim Empfänger ankommt. Nur das einzelne Paket »weiß«, wo es hinsoll, keine Zentrale kann es aufhalten, keine Zensur es filtern.

Natürlich stimmt dieses idealistische Bild des Internets als hierarchiefreie Welt schon lange nicht mehr: Die Macht zentralistischer Corporations wie Facebook, Google, Amazon und Alibaba wird zusehends größer. Und auch staatlichen Behörden ist es längst gelungen, das Netz zu zähmen und zu kontrollieren, etwa in China, wo das »Projekt Goldener Schild«6 längst in der Lage ist, jede Form von Inhalten zu kontrollieren und zu zensieren. Aber umso wichtiger ist es, die wenigen zarten Pflanzen der Freiheit und der Gemeinschaft zu erhalten und zu fördern. Und Wikipedia ist unter diesen zarten Pflanzen die kräftigste. Ihr einmaliges Organisationsmodell könnte der Ausgangspunkt für eine Rückgewinnung des Netzes als Ort der Freiheit und der Offenheit sein.

Die viereinhalb Typen der Wikipedianer

Die Rollen und Funktionen in Wikipedia sind komplex. Doch Rollen schreiben keine Enzyklopädien, das machen Menschen. Wer also sind die Menschen hinter Wikipedia, wer handelt die Regeln des Projektes aus und setzt sie dann um? Warum arbeitet man in seiner Freizeit in einer Enzyklopädie mit? Um das zu verstehen, ist es hilfreich, eine Art Typologie der Wikipedianer zu erstellen. Manuel Merz, Medienpsychologe und Leiter strategische Prozesse und Projekte bei Wikimedia Deutschland, hat im deutschsprachigen Bereich genau dies versucht. Er hat dazu eine umfangreiche Befragung unter den Autoren von Wikipedia durchgeführt und diese mit dem Instrumentarium des Sozialwissenschaftlers ausgewertet. Die folgende Darstellung stützt sich in weiten Teilen auf seine Arbeiten.7

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Zusammensetzung der Wikipedianer: Besonders auffällig ist, dass sich bei den Lesenden der Online-Enzyklopädie ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zeigt, es bei den Autoren jedoch ein krasses Ungleichgewicht gibt: Gerade einmal 9 Prozent der Schreibenden sind weiblich, während 91 Prozent männlich sind. Deutlich weniger überraschend ist, dass rund 30 Prozent der Mitarbeitenden Schüler beziehungsweise Studierende sind und dass über 50 Prozent einen akademischen Abschluss haben, 10 Prozent sogar einen Doktortitel. Damit sind die Mitwirkenden von Wikipedia deutlich gebildeter als die normalen Internetnutzer, von denen nur 12 Prozent einen Hochschulabschluss haben.8

Wikipedianer sind zu 69 Prozent berufstätig, davon 16 Prozent in Teilzeit und 53 Prozent in Vollzeit, was ziemlich genau dem statistischen Durchschnitt in Deutschland entspricht, und sie sind im Schnitt rund 40 Jahre alt.

Doch womit beschäftigen sich die Autoren von Wikipedia hauptsächlich? Gibt es unterschiedliche Typen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen bei ihrer Arbeit? Hierzu hat Merz die aktiven deutschen Wikipedianer befragt, also alle, die tatsächlich an Wikipedia mitarbeiten. Die mit 30 Prozent größte Gruppe unter den Autoren bilden diejenigen, die lediglich Rechtschreib- und Grammatikfehler in Artikeln verbessern, die sie gerade gelesen haben. Dafür wenden sie vergleichsweise wenig Zeit auf, die meisten von ihnen sind weniger als einmal pro Woche in Wikipedia aktiv. Bei mindestens 24 Prozent von ihnen war das früher jedoch anders: Da waren sie deutlich aktiver, haben an Diskussionen teilgenommen und Artikel auch inhaltlich verbessert. Doch zumeist waren es negative Erfahrungen in Diskussionen oder das oft als aggressiv empfundene Arbeitsklima in Wikipedia, was ihnen die Mitarbeit verleidet hat. Offensichtliche Fehler lediglich zu korrigieren scheint für aktive, aber frustrierte Wikipedianer eine Form des teilweisen Exits aus dem Projekt zu sein.

Das genaue Gegenteil und mit 22 Prozent die zweitgrößte Gruppe sind die »Powerautoren«, diejenigen, die sich engagiert an der inhaltlichen Weiterentwicklung der Artikel beteiligen. Sie schreiben neue Artikel, verbessern bestehende substanziell und tragen auch den Großteil der Fotos und Grafiken zu Wikipedia bei. Sie tun dies im Schnitt vier Stunden pro Woche und ziehen eine hohe Zufriedenheit aus ihrer Arbeit. Dabei halten sie sich fast vollständig raus aus den internen Diskussionen; sie verfügen nicht über ein starkes Netzwerk innerhalb des Projekts und konzentrieren sich zumeist auf ihre Nischen und Spezialthemen.

Weniger für die inhaltliche Qualität von Wikipedia, dafür aber umso wichtiger für den Zusammenhalt und das Funktionieren des Projekts an sich sind zwei andere Gruppen von Wikipedianern: die »Schiedsrichter« und die »Kreierenden«. Die »Schiedsrichter« machen rund 18 Prozent aller Wikipedia-Autoren aus; sie sind primär damit beschäftigt, das komplexe Regelwerk von Wikipedia umzusetzen. Sie überprüfen bei einzelnen Edits, ob diese den Regeln entsprechen, also etwa gut belegt, neutral geschrieben und richtig formatiert sind. Das zentrale Werkzeug für diese Aufgabe ist die sogenannte Eingangskontrolle. Jeden Tag werden rund 18 000 Änderungen an Artikeln vorgenommen, von einfachen Fehlerkorrekturen bis hin zu umfangreichen Eingriffen. Es gibt tatsächlich Wikipedianer, deren Engagement für das Projekt darin besteht, jede dieser Bearbeitungen einzeln zu überprüfen. Diese Ehrenamtlichen der Eingangskontrolle überprüfen also jeden Edit von neuen Benutzern oder von solchen, die nicht angemeldet sind. Hierzu benutzen sie Tools, in denen diese Änderungen dargestellt werden und die es ermöglichen, einen solchen Edit entweder freizugeben oder umgehend zurückzusetzen. Das Freigeben, wie oben beschrieben auch »Sichten« genannt, ist in der deutschen Wikipedia notwendig, da in dieser alle Änderungen von neuen oder nicht angemeldeten Benutzern erst danach für Leser sichtbar sind. Sie müssen von einem erfahrenen Wikipedianer, also einem Sichter, freigegeben werden. Darum kann es bei Neulingen schon mal dauern, bis der erste Edit auch tatsächlich zu sehen ist.

Die Eingangskontrolle konzentriert sich auf das Finden eindeutiger Fehler oder offensichtlichen Vandalismus: Oftmals wird während der Schulzeit etwas wie »marion ist blöd« eingefügt, mitunter wird auch der Inhalt eines Artikels vollständig zu löschen versucht. Diese Arten von Torpedierung sind zumeist ohne große Fachkenntnisse zu erkennen und zu korrigieren. Anders sieht es aber bei größeren Ergänzungen oder Veränderungen aus, die noch dazu mit Quellen und Belegen versehen sein können. Wie wird bei diesen die Qualität gesichert?

Hier kommt die »Beobachtungsliste« zum Einsatz, die jeder angemeldete Benutzer für sich anlegen kann. Änderungen in Artikeln, die sich auf dieser Liste befinden, werden dem Besitzer der Liste automatisch angezeigt. Zumeist hat man als Wikipedianer auf dieser Beobachtungsliste die Artikel, die man selbst erstellt hat oder an denen man substanziell mitgearbeitet hat. Aber auch Artikel aus Fachbereichen, die einen interessieren und für die man eine inhaltliche Kompetenz hat, werden oft mit aufgenommen. Ist die Eingangskontrolle die erste Verteidigungslinie gegen Vandalismus in Wikipedia, dient die Beobachtungsliste der inhaltlichen Qualitätssicherung. Ergänzt zum Beispiel jemand den Artikel zu James Holman oder dem Noctographen (oder einen der anderen 237 Artikel, die derzeit auf meiner Beobachtungsliste stehen), so werde ich über diese Änderungen bei meinem nächsten Wikipedia-Besuch informiert.

Ich schaue mir dann diese Änderungen über einen Versionsvergleich an. In Abbildung 10 sieht man, wie dies aussieht: Oben steht die »alte« Version und darunter die ergänzte Version.

Mit einem einfachen Klick auf »rückgängig« kann der Artikel wieder in die Vorgängerversion zurückgesetzt werden. Halte ich die Änderungen für sinnvoll, so »sichte« ich sie, wodurch sie für alle Leser von Wikipedia unmittelbar sichtbar werden.

Als Ersteller des Artikels zum Noctographen habe ich jedoch keine besonderen Rechte an dem Artikel; und auch wenn ich einen Artikel über meine Beobachtungsliste auf Veränderungen durchgucke, verschafft mir dies nicht mehr Macht in Wikipedia. Setze ich eine Änderung zurück, kann jeder andere meine Eingriffe umgehend wieder rückgängig machen. In diesem Fall trifft man sich auf der Diskussionsseite des Artikels, um die unterschiedlichen Sichtweisen zu besprechen und, wenn möglich, einen Konsens herzustellen.

Abb. 10Versionsgeschichte in Wikipedia. Oben die alte, unten die überarbeitete Fassung.

Es kommt aber auch immer wieder vor, dass dieser Prozess eskaliert: Jemand möchte etwas in den Artikel einfügen, jemand anderes ist damit nicht einverstanden und macht die Ergänzung rückgängig. Damit wiederum ist der Erste nicht einverstanden und fügt seine Änderung wieder ein. Dieses im Wikipedia-Slang Edit War genannte Vorgehen kann mehrfach hin- und hergehen, bis beide Kontrahenten unweigerlich auf der Seite für Vandalismusmeldungen landen.

Es gibt zahlreiche Formen des Vandalismus in Wikipedia: Ganze Artikel werden geleert oder es wird Unsinn reingeschrieben, oder es werden bewusst falsche oder irreführende Informationen eingebaut, um zukünftige Leser zu verwirren, das ist der schlimmste Fall. Die meisten dieser Taten stammen von nicht angemeldeten Benutzern. Es gäbe einen einfachen und effektiven Schutz: die Bearbeitung von Artikeln nur noch angemeldeten Benutzern zu erlauben. Denn wer würde sich schon die Mühe machen, für einen kurzlebigen Spaß extra ein Konto anzulegen? Doch dies verstieße natürlich gegen die Grundprinzipien von Wikipedia. Der Nachteil einer solchen Regelung würde den Vorteil bei Weitem überwiegen. Denn die Änderungen von nicht angemeldeten Benutzern sind zahlreich und substanziell, und Wikipedia wäre ärmer, würde man auf diese Beiträge verzichten. Entsprechend haben sich, wie beispielsweise mit der Eingangskontrolle oder dem Sichten, eine Reihe von Mechanismen herausgebildet, die destruktive Beiträge zwar nicht verhindern, aber schnell aufspürbar machen.

Dies sind die Haupttätigkeiten der Schiedsrichter in Wikipedia. Manuel Merz nennt sie sehr passend die »regeltreuen Profis«. Sie sind zu 95 Prozent männlich.

Wer bestimmt die Regeln, die die »Schiedsrichter« um- und manchmal auch durchsetzen? Wikipedia ist ein in 20 Jahren gewachsenes, komplexes Projekt. Dies war und ist nur möglich, weil es eine Gruppe von Ehrenamtlichen gibt, die sich hauptsächlich mit der Gestaltung der Prozesse des Projekts beschäftigen. Sie legen ihr Augenmerk also weniger auf das Erstellen oder Verbessern von Artikeln, sondern beschäftigen sich damit, das Projekt als Ganzes zu organisieren, Regeln zu definieren und auszubauen, also mit dem »Motor« des Projekts. Merz nennt diese Gruppe die »vernetzt Kreierenden«, sie machen rund 14 Prozent der Wikipedianer aus. Sie sind mit rund 1 375 Edits im Jahr überdurchschnittlich aktiv, und 21 Prozent von ihnen sind ebenfalls Administratoren des Projekts. Was sie besonders auszeichnet, ist der Umstand, dass sie sich überdurchschnittlich vernetzen und mit anderen Wikipedianern austauschen.

Es gibt in Wikipedia unterschiedliche Orte für die Vernetzung. Die wichtigsten sind neben den Diskussionsseiten der Artikel die 21 Redaktionen, in denen sich Ehrenamtliche zu Themengebieten wie Altertum, Biologie, Chemie oder zu sehr spezifischen Themen wie Gesundheitsfachberufe, kleine Länder oder Pflege zusammenschließen. Der Begriff der Redaktion ist allerdings irreführend, denn hier kommen keine Redakteure zusammen, die wegen ihrer Fachkenntnisse oder ihres Status in der Redaktion besondere Rechte haben.

Es gibt keine Vorgaben für die Arbeit in diesen Redaktionen, und sie sind auch nicht zentral gegründet oder administriert. Sie beruhen auf dem Entschluss und dem Engagement einzelner Wikipedianer, die sich zu ihren Themengebieten mit anderen Interessierten auseinandersetzen möchten. Dort werden beispielsweise themenspezifische Regeln ausgearbeitet, fachliche Fragen diskutiert, es werden Fotos oder Illustrationen für einzelne Artikel gefertigt und vieles mehr. Neben dieser Wikipedia-internen Funktion haben Redaktionen noch eine wichtige Rolle als Ansprechpartner für Interessierte, die bisher noch nicht in Wikipedia mitgearbeitet haben. Diese finden hier thematisch Gleichgesinnte, die ihnen den Einstieg in Wikipedia erleichtern können. Damit kommt Redaktionen eine wichtige Rolle bei der Anwerbung neuer Autoren zu.

Eine besondere Funktion gibt es in der Redaktion Biologie. Auf der Unterseite »Bestimmung«9 bietet die Redaktion Hilfe bei der Identifizierung unbekannter Flora und Fauna an. Jeder kann dort ein Foto von einem unbekannten Tier oder einer Pflanze hochladen. Fachkundige Wikipedianer bemühen sich dann – meist erfolgreich –, das betreffende Objekt zu identifizieren und den passenden Wikipedia-Artikel zu verlinken.

Wikipedia geht offline

Neben den Online-Orten, an denen Wikipedianer sich austauschen und diskutieren, gibt es auch seit vielen Jahren zahlreiche Treffen offline bei Stammtischen, auf Kongressen, in Wikipedia-Läden und auf zahlreichen Veranstaltungen von Wikimedia Deutschland.

Diese tragfähige Offline-Struktur hat sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt: Neben Veranstaltungen der Wikimedia-Stiftung und von Wikimedia Deutschland sowie der Schwester-Organisationen in der Schweiz und Österreich gibt es auch zahlreiche von Ehrenamtlichen organisierte formelle und informelle Zusammenkünfte: Die entsprechende Wikipedia-Seite führt im Jahr 2020 mehr als 50 aktive Stammtische auf, an denen sich Wikipedianer regelmäßig treffen.10

Abb. 11Der Wikipedia-Stammtisch-Wimpel.

Bildquelle: Gereon K. (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:
Wikipedia-Stammtisch_D%C3%BCsseldorf_Advent_2019.jpg
),
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode

Diese Stammtische sind zumeist ohne besonderen Themenbezug; sie stehen allen Interessierten offen und dienen dazu, dass die Menschen, die in Wikipedia ausschließlich virtuell zusammenarbeiten, sich auch außerhalb des Projekts treffen können. Die in acht deutschen Städten existierenden Community-Stützpunkte (das sind zumeist angemietete Ladenlokale) dienen zudem als Orte für Veranstaltungen, die sich explizit an Nicht-Wikipedianer, also an Interessierte und an Leser, richten. So finden hier regelmäßig Einführungen für neue Autoren statt, aber auch Diskussionen und »Sprechstunden«, in denen jedermann seine Fragen zu Wikipedia loswerden kann. Diese von Wikimedia Deutschland bezahlten und rein ehrenamtlich betriebenen Treffpunkte gibt es unter anderem in Berlin, Hamburg, Köln und München.

Abb. 12An diesen Orten treffen sich Wikipedianer »vor Ort« – und freuen sich über einen Besuch.

Bildquelle: Lencer (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deutschsprachige_
Wikipedia_Stammtische_2015-2017.png
), »Deutschsprachige Wikipedia Stammtische 2015-2017«, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode

Neben diesen Anlaufstellen gibt es auch noch zahlreiche überregionale Treffen von Wikipedianern: Das weltweit größte ist die jährliche Wikimania, die zum ersten Mal 2005 in Frankfurt stattfand, damals bereits mit rund 380 Teilnehmern aus 50 Ländern. Bei der letzten Wikimania, 2019 in Stockholm, kamen mehr als 900 Teilnehmer aus zahlreichen Ländern zusammen, die an fünf Tagen ein breites Programm besuchen konnten. Insbesondere für Aktive aus Entwicklungsländern, die nicht auf professionelle lokale Wikimedia-Organisationen zurückgreifen können, ist dies stets eine besonders wertvolle Möglichkeit, in den Austausch mit Gleichgesinnten zu treten. Das Format ist eine Mischung aus klassischer Konferenz mit Keynotes, Workshops und Vorträgen und selbstorganisiertem Barcamp, in dem Wikipedianer ad hoc zusammenkommen, um bestimmte Themen zu diskutieren. Es zeigt sich, dass der Ansatz, dass eine Gruppe sich und ihre Arbeit selbst organisiert und strukturiert, nicht nur in Wikipedia selbst funktioniert, sondern auch auf Zusammentreffen von Wikipedianern.

Entsprechend breit ist das Spektrum der behandelten Themen: Technische Fragen kommen ebenso vor wie Fragen zu Kooperationen mit Bibliotheken, Universitäten und Archiven. Die Beeinflussung lokaler Gesetzgebung im Sinne des Projekts (etwa in Fragen des Urheberrechts) spielt traditionell eine große Rolle und natürlich Wikipedia-Abläufe in allen Facetten. Vieles davon ist sicherlich vor allem für Wikipedia-Aktivisten interessant; aber die Wikimanias sind auch die Orte, an denen die gesellschaftliche und soziale Rolle des eigenen Handelns reflektiert wird, was durchaus auch attraktiv für ein breiteres Publikum sein kann. Tatsächlich dient gerade die Wikimania dazu, Ideen und Ansätze global zu verbreiten – 38 % der Teilnehmenden an der Wikimania gaben an, das Wichtigste für sie sei gewesen, ein neues Projekt oder eine neue Idee kennengelernt zu haben, auf die sie ansonsten nicht gestoßen wären.11

Während auf der Wikimania die großen Themen im Mittelpunkt stehen, geht es bei anderen Treffen mehr um lokale Belange: Seit 2010 treffen sich Wikipedianer aus dem deutschsprachigen Raum einmal jährlich zur WikiCon. Hier kommen vor allem die engagiertesten Mitarbeiter zusammen, denen das Gesamtprojekt und sein Funktionieren am Herzen liegt. Zumeist handelt es sich bei den rund 150 Teilnehmern um »alte Hasen« – 66 Prozent gaben an, bereits länger als neun Jahre an Wikipedia mitzuschreiben.12 Entsprechend spezialisiert sind die dort behandelten Themen, die sich auf fünf Schwerpunkte konzentrieren: Community, freies Wissen / freie Projekte, Recht, Technik, Wikimedia-Projekte. Die Rolle von Stadt- und Regionalwikis wurde bei der WikiCon 2019 in Wuppertal ebenso diskutiert wie technische Fragen der Bildbearbeitung. Ein weiterer der insgesamt rund 70 Workshops beschäftigte sich mit »Der ikonographischen Funktion von Fotos in Artikeln«, ein anderer mit der Frage, wie man »Infobox-Vorlagen Wikidata-fähig machen« kann.13

Nicht zu unterschätzen bei diesen und anderen Treffen von Wikipedianern ist aber auch die Brückenfunktion, die solche Zusammenkünfte haben. 76 Prozent der Teilnehmer gaben an, dass das Treffen ihnen bei der Vernetzung mit anderen Wikipedianern geholfen habe, und 40 Prozent erklärten, die WikiCon habe zur Lösung von bestehenden Problemen und Konflikten beigetragen.14 Es gibt offensichtlich auch bei Online-Projekten wie Wikipedia einen hohen Bedarf an persönlichem Austausch – und gerade bei Konflikten ist es natürlich hilfreich, wenn man sich nicht nur auf das geschriebene Wort auf einer Website beschränkt, sondern den direkten, menschlichen Austausch vor Ort sucht.

Ebenso wie die Wikimania ist auch die WikiCon primär von den Ehrenamtlichen selbst organisiert. Zwar unterstützen Wikimedia Deutschland, die Chapter aus Österreich und der Schweiz und die Wikimedia Foundation diese Veranstaltungen finanziell, besonders die deutsche WikiCon ist jedoch ansonsten vollständig selbst organisiert. Sowohl die Logistik (Hotels, Anreise, Catering, Veranstaltungsort) als auch das Programm werden ausschließlich von den Wikipedianern selbst geplant und umgesetzt.

All diesen Treffen – vom globalen Zusammenkommen der Wikimania bis zu den Stammtischen – gemeinsam ist die hohe soziale Komponente, die sie alle mitbringen. So gab es neben all den Fachthemen und Vorträgen bei der ersten Wikimania 2005 in Frankfurt nicht nur eine große Party, sondern auch einen Quizabend. Der Stammtisch in München veranstaltet einmal jährlich eine Bergwanderung, die Kollegen aus Südhessen treffen sich anlässlich des Hessentags, und die Stammtische aus Lörrach und Freiburg gehen gemeinsam auf dem Schauinsland grillen. Für einige Jahre gab es sogar einen rollenden Stammtisch im ICE 570 von Hamburg nach Stuttgart. Das typische Setting dieser Treffen besteht aus einem Wikipedia-Wimpel, der auf dem Tisch steht und besonders Erstbesuchern das Auffinden erleichtert. Oft sind am Beginn der Treffen keine oder nur wenige Laptops zu sehen – doch oft genug ändert sich das im Laufe des Abends. Man redet über Wikipedia, und schon bald will man etwas nachgucken, dann wird ein Artikel verändert – und über kurz oder lang stehen zahlreiche Laptops auf dem Stammtisch.

Für mich sind diese Offline-Treffen ein Ausdruck davon, dass Wikipedia bei aller Innovation, bei allem Nerdigen, bei all dem Internet eben auch ein Projekt von Ehrenamtlichen ist. Und diese haben die gleichen Bedürfnisse nach Zusammenhalt, Austausch und sozialen Kontakten wie die Freiwillige Feuerwehr, Skatclubs oder Nachbarschaftshilfen. Wikipedia ist der wohl bekannteste und größte Vertreter des Digitalen Ehrenamts.

Unter Besserwissern und Idealisten

Die ehrenamtliche Mitarbeit an einer Enzyklopädie erfordert viel Herzblut. Besonders viel davon bringt eine Gruppe von Wikipedianern mit, die laut der Untersuchung von Manuel Merz rund 15 Prozent der Autoren ausmachen. Positiv ausgedrückt handelt es sich dabei um Idealisten, die sich zumeist um sehr wenige, dafür aber oft kontroverse Themenbereiche kümmern und dort, nach eigener Wahrnehmung, Neutralität herstellen beziehungsweise tendenziöse Inhalte verhindern. Weniger positiv formuliert kann man sie auch als Nerds oder Getriebene bezeichnen, mitunter sind es auch Ideologen.

Im positiven Fall übernehmen sie eine wichtige Funktion in Wikipedia, indem sie unermüdlich dafür sorgen, dass unwissenschaftliche Thesen, Verschwörungstheorien oder anderer Unsinn nicht langsam in die Artikel einsickern. Besonders in den Bereichen Sozialwissenschaften, Politik und Aktuelles sowie Philosophie, Religion, New Age und Esoterik kann man die Funktion dieser Idealisten gar nicht genug wertschätzen. Nirgendwo sonst steht das Wikipedia-Prinzip der freien Bearbeitung eines Artikels durch jedermann derart unter Beschuss wie in diesen Bereichen. Und zwar gerade weil jeder Wikipedia bearbeiten kann.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Beitrag »Homöopathie«: Schon kurz nach Erscheinen des Artikels am 14. November 2002 wiesen die ersten Autoren auf das Fehlen jeglicher wissenschaftlicher Belege für eine Wirksamkeit dieser Behandlungsmethode hin. Konsequent wurde der Artikel im Juli 2004 in die Kategorie »Pseudowissenschaft« einsortiert und um einen entsprechenden Abschnitt zur inhaltlichen Kritik durch die Wissenschaft versehen. Doch damit war das Problem natürlich nicht gelöst, ganz im Gegenteil. Seit Mitte 2004 gibt es einen kontinuierlichen Kampf um die Deutungshoheit in diesem Artikel. Es vergehen stets nur wenige Monate, bis ein neuer Autor die Bezeichnung »Pseudowissenschaft« anzweifelt und seine (zumeist positive) Sicht auf diese Behandlungsmethode im Artikel verankern möchte, ohne jedoch wissenschaftliche Belege liefern zu können. Nur dank des idealistischen Einsatzes einer kleinen Handvoll Autoren lässt sich auch in diesem Artikel der Anspruch der Wikipedia aufrechterhalten, die herrschende wissenschaftliche Meinung darzustellen.

Es gibt aber auch eine negative Wendung dieser Leidenschaftlichkeit: bei denjenigen, die mit geradezu zelotischem Eifer ihr Thema oder ihre Sicht vertreten und in Wikipedia einbringen wollen. Das Phänomen ist so häufig anzutreffen, dass es in Wikipedia mittlerweile eine eigene Bezeichnung hat: Honeypots. Dies sind Artikel, die besonders häufig solche »men on a mission« anlocken. Ist die Junge Freiheit eine rechtsextreme Zeitung? War Lee Harvey Oswald wirklich ein Einzeltäter, als er John F. Kennedy ermordete? Wer steckt wirklich hinter den Anschlägen des 11. September? Mit großem Eifer versuchen Menschen teilweise schon seit Anbeginn der Wikipedia, ihre Sichtweise zu diesen Fragen in die entsprechenden Artikel einzuschleusen. Längst stehen diese Hönigtöpfe unter besonderer Beobachtung durch engagierte Wikipedianer, doch die Vergeblichkeit des eigenen Tuns scheint die Eiferer eher noch zu befeuern.

Doch zumeist geht es bei Diskussionen in Wikipedia nicht um ideologische Kontroversen, politische Sichtweisen oder verletzte Eitelkeiten. In der Mehrzahl der Fälle drehen sich Diskussionen um inhaltliche Fragen, um die richtige Bezeichnung oder Einordnung. Dabei steht das Ringen um die richtige Darstellung im Vordergrund, aber auch dieses kann schnell eskalieren.

Ein besonders absurdes und skurriles Beispiel ist der Kampf um den Donauturm.

Am 28. Oktober 2009 um 13:54 Uhr begann der Artikel zum Donauturm wie folgt: »Der Donauturm ist ein von 1962 bis 1964 errichteter Aussichtsturm inmitten des Donauparks im 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt.«15 Zwei Tage später, am 30. Oktober 2009 um 20:42 Uhr, hatte ein Wikipedia-Autor mit dem Pseudonym Taxiarchos228 eine kleine Ergänzung eingebracht, so dass sich der Einleitungssatz nun so las: »Der Donauturm ist ein von 1962 bis 1964 errichteter Fernseh- und Aussichtsturm inmitten des Donauparks im 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt.«16 Man muss schon sehr genau schauen, um den Unterschied zu finden: Aus dem »Aussichtsturm« wurde ein »Fernseh- und Aussichtsturm«. Mehr nicht. Wenige Stunden später, am 31. Oktober 2009 um 3:34 Uhr, mitten in der Nacht also, setzte Benutzer Elisabeth59 diese Veränderung wieder zurück und versah den Edit mit der Zusammenfassung: »Donauturm ist definitiv kein Fernsehturm, wurde als Aussichtsturm konzipiert und gebaut. Kleine [sic!] Nutzung von Funk.«

Elisabeth59 ist zu diesem Zeitpunkt relativ neu bei Wikipedia. Der Benutzer Taxiarchos228 hingegen ist ein erfahrener Wikipedianer, zum Zeitpunkt der Debatte bereits seit fünf Jahren aktiv und mit mehr als 50 000 Edits in Wikipedia sehr rührig, zudem hatte er bis dahin 400 Artikel verfasst – 50 von ihnen beschreiben Fernsehtürme!

In der Diskussion, ob dieser Turm bei Wien nun ein Aussichtsturm oder ein Fernseh- und Aussichtsturm sei, sind für beide folgende Fakten unstrittig: Der Turm wurde als ein Aussichtsturm geplant und gebaut. Es werden keine Fernsehprogramme über Antennen (oder Ähnliches) von dem Turm aus nach Wien gefunkt. Und drittens werden einige wenige Radioprogramme lokaler Sender über den Donauturm ausgestrahlt. Über diese Fakten waren sich alle Beteiligten einig. Strittig war allein die Frage, ob man diesen Turm aufgrund seiner Bauform auch als einen Fernsehturm bezeichnen könne oder nicht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wenn man einmal außer Acht lässt, warum diese Frage überhaupt einer Antwort bedarf (und so kann nur jemand denken, der nicht vom Wikipedia-Fieber befallen ist): Was ist kompliziert daran? Sollte es nicht ganz einfach sein, diese Frage zu klären? Doch die Diskussion darüber umfasst rund 600 000 Zeichen. Zum Vergleich: Dieses Buch, das Sie gerade lesen, hat rund 380 000 Zeichen. Unzählige Wikipedianer haben sich an der Debatte beteiligt, es wurde jede Menge Fachliteratur herangezogen. Spannender ist aber, dass im Verlauf der Diskussion, die etwa drei Monate dauerte, die ganze Klaviatur der Qualitätssicherung in Wikipedia zum Einsatz kam.

Die erste Stufe spielte sich auf der Diskussionsseite des Artikels ab. Das ist der Normalfall und die meisten Dispute können auch dort gelöst werden. Zwar kocht die Stimmung manchmal hoch, aber im Großen und Ganzen tauscht man dort Argumente aus und einigt sich dann auf eine Formulierung. Nicht so im Fall des Donauturms. Hier wurde die Diskussion von beiden Seiten teils heftig und oft auch unfreundlich geführt. Der Auftakt durch Taxiarchos228 war noch durchaus sachlich:

»(…) ich darf Dich darauf aufmerksam machen, dass ich eine Vielzahl von Artikeln zu Fernsehtürmen (mit)geschrieben, unter anderem auch zum Donauturm, habe sowie diese Liste der höchsten Fernsehtürme. Ich verfüge über entsprechende Fachliteratur zu diesem Thema und kann Dir versichern, dass der Gattungsbegriff Fernsehturm auch für den Donauturm zutrifft. Das ändert nichts daran, dass ihn [sic!] Wien keiner diesen Turm so bezeichnet.«17

Doch der Ton veränderte sich. Die Diskussion eskalierte zusehends: »Deine Beiträge hier haben das Niveau einer gebückten Ameise!« war noch einer der freundlicheren Kommentare in dem Schlagabtausch.

Nun geht es in Diskussionen häufiger rau zu. Diese Auseinandersetzung eskalierte jedoch noch in einem weiteren Sinne: Beide Parteien verlegten ihre Auseinandersetzung zusätzlich in den Artikel selbst, indem sie versuchten, dort noch vor einer Einigung auf der Diskussionsseite Fakten zu schaffen. Und das geht bei Wikipedia bekanntlich sehr einfach: Man schreibt einfach seine Sicht rein und speichert die Änderung. Doch genauso einfach kann dieser Edit wieder rückgängig gemacht werden. Wenn dies ein paarmal hin- und hergeht, hat man einen sogenannten Edit War: Zwei oder mehr Benutzer missbrauchen die Funktionalität eines Wikis, indem sie sich gegenseitig ständig wieder zurücksetzen. Dies ist ein klarer Regelverstoß und wird entsprechend geahndet.

Es dauerte darum nicht lang, bis der Artikel auf der Seite »Vandalismusmeldung« landete. Hier können neben den Artikeln, die von vorsätzlicher und bewusster Beschädigung durch Benutzer betroffen sind, auch Benutzer gemeldet werden, die besonders unfreundlich sind oder anderweitig gegen Regeln verstoßen. Einer der Administratoren von Wikipedia guckt sich den Fall an und entscheidet dann: Er kann den entsprechenden Artikel kurzfristig für Bearbeitungen sperren, was den Edit War abrupt beendet und alle Beteiligten wieder auf die Diskussionsseite des Artikels zurück zwingt; oder die am Edit War Beteiligten können kurzzeitig gesperrt werden; die Sperrungen dauern meist eine Stunde oder einen Tag, im Wiederholungsfall können sie auch deutlich länger ausfallen. Benutzersperrungen sind natürlich eher symbolischer Natur: Zwar kann ein Administrator ein Konto damit kurzfristig von Wikipedia ausschließen, der Mensch dahinter kann jedoch jederzeit wieder zurückkommen. Entweder er erstellt ein neues Konto, oder er editiert ohne Anmeldung weiter. Eine solche Sperre ist also mehr ein deutlicher Hinweis, das eigene Verhalten zu ändern, als dass es sich tatsächlich um ein effektives Tool handelt, Menschen von der Mitarbeit in Wikipedia auszuschließen.

Im Fall des Donauturms wurde zunächst der Artikel für weitere Bearbeitungen gesperrt, um den andauernden Edit War zu beenden und die Kontrahenten zurück in die Diskussion zu verweisen. Das Sperren eines Artikels ist einer der wenigen Momente, in denen die Interessen der Leser ganz unmittelbar im Vordergrund des Projekts stehen. Die meisten Regeln und Prozesse in Wikipedia richten sich an Autoren und Wikipedianer; die Sperre eines Artikels macht hingegen deutlich, worum es am Ende geht: stabiles und gesichertes Wissen den Lesern zur Verfügung zu stellen. Wenn ein Artikel im Minutentakt hin und her geändert wird, dann leidet darunter vor allem der Leser. Die Artikel sind das Aushängeschild des Projekts, sie sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Inhaltliche Kontroversen, und erst recht Streit zwischen Benutzern, sollen für die Leserinnen und Leser nicht sichtbar sein.

Doch es blieb nicht bei der Sperrung des Artikels; der Edit War wurde nach dem Auslaufen der Sperre fortgeführt. Darum folgte die nächste Stufe der Eskalation: die Sperre beteiligter Benutzer, und zwar in diesem Fall besonders Taxiarchos228. Dieser war kein Unbekannter auf der Seite der Vandalismusmeldungen. Schon vor der Donauturm-Kontroverse war er 25 Mal gesperrt worden, jeweils zwischen einer Stunde und einer ganzen Woche. Dies ist gemeinhin ein Zeichen dafür, dass ein Benutzer eine Mission verfolgt und über einen Diskussionsstil verfügt, der von vielen anderen Wikipedianern als nicht konstruktiv, ja geradezu als feindselig wahrgenommen wird.

Mit dem Sperren von Artikeln oder Benutzern können die Administratoren in eine aufgeheizte Situation Ruhe bringen. Aber wie wir weiter oben bereits gesehen haben, sind Administratoren in erster Linie Hausmeister, sie entscheiden niemals inhaltliche Fragen, sondern regeln das Miteinander und die internen Prozesse des Projekts. Also sind sie auch keine Redakteure oder gar Herausgeber. Im Gegenteil: »Ein Administrator darf seine besonderen Befugnisse nicht in Diskussionen und Verfahren einsetzen, an denen er selbst als Partei beteiligt ist.«18

Für den Fall, dass auf der Diskussionsseite eines Artikels kein Konsens gefunden werden kann, hat Wikipedia ein fein verzweigtes Netz an Prozessen entwickelt, um Konsensbildung zu ermöglichen. Auch da gibt es keine Mehrheitsentscheidungen; vielmehr zählen Argumente und die dazugehörigen Belege.

Oft fehlt es lediglich an einer Sicht »von außen«, die den Diskutanten hilft, einen solchen Konsens zu finden. Darum kann jeder Wikipedianer eine dritte Meinung anfordern, indem er seine Kollegen bittet, sich einen Sachverhalt anzugucken und diesen zu bewerten. So können, wenn ein inhaltlicher Konflikt völlig verfahren ist, andere Wikipedianer auf die Diskussion aufmerksam gemacht werden. Bei der dritten Meinung kommen keineswegs thematische Fachleute zu Wort, die Hauptqualifikation der Ehrenamtlichen ist es vielmehr, vermittelnd und schlichtend zu wirken.

Doch oft geht es bei einem Streit um erbitterte persönliche Konflikte. Oder auch schlicht um das kontinuierliche Fehlverhalten eines Einzelnen. Damit umzugehen ist schwierig. Die Benutzersperre ist in einem offenen System wie Wikipedia da eher ein stumpfes Schwert. Aus diesem Grund hat Wikipedia bereits 2007 als höchste Instanz für die Lösung von Konflikten das Schiedsgericht eingerichtet.

Es darf bei allem eingreifen: Streit zwischen Wikipedianern schlichten, Sanktionen gegen den Missbrauch der technischen Sonderfunktionen der Administratoren verhängen oder Verstöße gegen die wichtigen Wikipedia-Grundsätze ahnden. Nur eines darf das Schiedsgericht nicht: über inhaltliche Kontroversen entscheiden.

Das mag auf den ersten Blick seltsam wirken: Die höchste Instanz von Wikipedia hat keinen Einfluss auf das, was Wikipedia im Kern ausmacht: die Artikel und die Inhalte. Doch das ist durchaus in sich logisch, wenn man sich zwei zentrale Prinzipien ins Gedächtnis ruft: Wikipedia selbst ist keine Enzyklopädie, sie ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie. Und zweitens gibt es keine Mehrheitsentscheidungen über Wissen. Das Schiedsgericht ist also nicht die höchste Instanz der Enzyklopädie Wikipedia, sondern des Projektes dahinter. Inhalte können nur in der permanenten Aushandlung zwischen den Beteiligten und im Konsens entschieden werden. Dies gilt jedoch nicht für die Wikipedia-internen Prozesse, die diesen kreativen Wissensprozess regulieren. Hier ist das Schiedsgericht die letzte und höchste Instanz im Konfliktlösungsprozess – und seine Entscheidungen sind bindend.

Die Idee für diese Form der Konfliktlösung stammt aus der englischen Wikipedia, in der Jimmy Wales bis 2003 als höchster Entscheidungsträger bei Streitfragen galt. Mit dem steigenden Selbstbewusstsein der Community wurde jedoch schnell klar, dass dieses Modell keine Zukunft hatte. Daher initiierte Wales Anfang 2004 das Schiedsgericht und berief die ersten Mitglieder persönlich – einige von ihnen wussten wohl nichts davon, dass sie ab sofort im Schiedsgericht saßen.19 2007 übernahm die deutsche Community das Modell. Bis Ende 2019 wurden 256 Fälle an das Gericht herangetragen, von denen 103 auch behandelt und entschieden wurden.

Das Schiedsgericht besteht aus maximal zehn Mitgliedern, die von der Gemeinschaft der Wikipedianer jeweils für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt werden. Zu dieser Gemeinschaft gehört (und ist damit wahlberechtigt), wer insgesamt mehr als 400 Edits in Wikipedia gemacht hat, davon mindestens 50 in den letzten zwölf Monaten. Jeder Wikipedianer kann das Schiedsgericht anrufen, wenn alle anderen Formen der Konfliktlösung ausgeschöpft sind. Wie vor einem richtigen Gericht stellen beide Konfliktparteien ihre Sicht dar, bringen belastende und entlastende Aspekte vor und können auch andere Wikipedianer hinzuziehen. Damit ein Fall vom Schiedsgericht bearbeitet wird, bedarf es mindestens fünf Schiedsrichtern, die sich bereit erklären, den Fall zu beraten. Pro Fall gibt es eine eigene Seite innerhalb der Wikipedia, auf der die gesamte Verhandlung abläuft und dokumentiert wird. Alle Wikipedianer, die nicht persönlich involviert sind, können sich zwar auf der Diskussionsseite eines Schiedsgerichtsfalls äußern. Auf der eigentlichen Seite zu einem Fall jedoch dürfen sich nur die Beteiligten selbst und die Mitglieder des Schiedsgerichts äußern.

Es gibt keinen festen Sanktionskatalog, das Schiedsgericht ist völlig frei im Aussprechen von Maßregelungen – und dies tut es auch oft und sehr kreativ: Beispielsweise werden Wikipedianer nachdrücklich aufgefordert, bestimmte Wikipedia-Regeln in Zukunft zu achten; anderen wird die Bearbeitung einzelner Artikel oder ganzer Themenbereiche untersagt. Nur sehr selten verbannt das Schiedsgericht jemanden vollständig aus Wikipedia. Meistens wird nach einer Lösung gesucht, die Störung innerhalb des Projektes abzustellen und dabei dem betroffenen Wikipedianer die Möglichkeit zu geben, weiterhin mitzumachen.

Dies wurde auch im Fall des Donauturms versucht: Die angefragten dritten Meinungen waren eindeutig, kaum jemand stimmte der Sicht von Taxiarchos228 zu. Sein Benutzerkonto war innerhalb weniger Wochen dreimal gesperrt worden, jedes Mal wegen seines Verhaltens in der Frage des Donauturms. Bevor das Schiedsgericht einschreiten konnte, zog Taxiarchos228 für sich Konsequenzen und gab rund drei Monate nach dem Beginn des Streits auf: »Community hat entschieden: der Donauturm darf kein Fernsehturm sein«, schrieb er in einem längeren Beitrag auf der Diskussionsseite des Artikels. Er verabschiedet sich endgültig aus dem Thema und hofft, es möge anderen gelingen, »aus diesem Müllhaufen an Artikel doch noch was Anständiges«20 zu machen. Als wollte er allen noch einmal zeigen, was in ihm steckt, bearbeitete er in den kommenden drei Wochen mehr als 800 Mal Artikel zu anderen Fernsehtürmen, bevor er sich entschloss, seine Mitarbeit bei Wikipedia ganz zu beenden. Im Grunde reicht es in so einem Fall, einfach nichts mehr zu schreiben, aber vielen Wikipedianern, die enttäuscht sind vom Projekt, genügt das nicht: Sie bitten einen Administrator darum, ihr Konto freiwillig und dauerhaft zu sperren. Ein wenig mag dabei mitspielen, dass man sich selbst vor einem Rückfall schützen möchte, indem man durch die technische Stilllegung des eigenen Accounts Fakten schafft.

Auch Taxiarchos228 wählte den Weg der freiwilligen Selbstsperrung. Diese kann jederzeit wieder aufgehoben werden, wenn ein Benutzer zurückkehren möchte. Nicht jedoch im Fall von Taxiarchos228. Denn es stellte sich heraus, dass er noch vor seiner freiwilligen Sperre etwas gemacht hat, was in der Wikipedia-Community als eines der größten Vergehen überhaupt, ja geradezu als Betrug betrachtet wird: Er hatte unerlaubt mit mehreren Konten gleichzeitig gearbeitet.

Ein Benutzerkonto ist schnell angelegt, und es ist weder technisch noch durch andere Regeln untersagt, dass ein Benutzer mehr als ein Konto in Wikipedia benutzt. Es gibt sogar eine Reihe von legitimen Gründen dafür: Manche möchten ihr Hauptkonto aus Sicherheitsgründen nicht nutzen, wenn sie etwa in einem Internetcafé oder an einem öffentlichen Computer in Wikipedia arbeiten; andere legen sich Konten an, um auf Wikipedia-Veranstaltungen bestimmte Dinge zu demonstrieren, oder sie haben einen privaten und einen beruflichen Account.

Es gibt aber auch Menschen, die aus anderen Gründen mehr als ein Konto unterhalten – sei es, weil sie in Abstimmungen mehr als eine Stimme haben wollen, oder weil sie ihr Erstkonto mit dem Zweitkonto selbst in einer Diskussion zur Seite springen lassen möchten. Manchmal geht es auch darum, im Falle einer Sperre noch ein Konto zu haben, um die Sperre zu umgehen. In all diesen Fällen spricht man von »Sockenpuppen«: Wie die Kinderpuppen lässt der Wikipedianer sein Zweit-Ich mit »verstellter Stimme« sprechen und kann so Dinge sagen und machen, die ihm aus unterschiedlichen Gründen mit dem Erstaccount nicht möglich sind. Dieses Verhalten ist unter Wikipedianern verpönt – weil es eben die größte Stärke von Wikipedia, dass jeder ohne Anmeldung und ohne Kontrolle mitarbeiten kann, schamlos ausnutzt. Ohne dass man das Wikipedia-Prinzip aufgibt, ist es nicht möglich, den Missbrauch solcher Mehrfachkonten zu verhindern. Umso empfindlicher reagiert die Community, wenn jemand dabei erwischt wird, diese Freiheit ausgenutzt zu haben.

Und genau das geschah im Fall von Taxiarchos228, der mindestens vier weitere Konten gleichzeitig in Benutzung hatte. Diese setzte er unter anderem ein, um Abstimmungen zu manipulieren, sich selbst bei Diskussionen beizuspringen und um weiterhin Wikipedia zu bearbeiten, als er eigentlich gesperrt war. Gerade bei erfahrenen Wikipedianern sind solche Manipulationen nicht leicht zu erkennen. Lediglich Administratoren mit sogenannten Checkuser-Rechten sind in der Lage, bei angemeldeten Konten die benutzten IP-Adressen abzugleichen. Da dies ein ziemlicher Eingriff in den Datenschutz bedeutet, können in der deutschen Wikipedia lediglich vier Administratoren diese Informationen abrufen. Einer von ihnen kam Taxiarchos228 auf die Spur, und dieser wurde umgehend gesperrt.

Wer hat die Macht?

Ist Wikipedia eine Art Utopia, wo irdische Dinge wie Hierarchien nicht benötigt werden? Kommt Wikipedia ohne Macht aus? Natürlich nicht. Es gibt sogar zahlreiche Mächtige in Wikipedia.

Wikipedia ist ein System, das auf dem Teilen von Wissen, der Diskussion und der Selbstorganisation beruht. Darum beruht Macht dort mehr auf sozialem Kapital, auf Wissen und auf der Bereitschaft, dieses Wissen zu teilen und zusammenzuarbeiten. Und sie ist abhängig von der Zeit, die jemand investieren kann. Für viele Menschen, die neu zu Wikipedia stoßen, ist es schwer zu verstehen, dieses unendlich viel Zeit benötigende Aushandeln, da es doch so viel einfacher wäre, wenn jemand – ein Chef, ein Abteilungsleiter, ein Administrator oder Jimmy Wales – die Entscheidung treffen würde.

In Zeiten der Wissensfluktuation und des permanenten Lernens geht es tatsächlich mehr um den Prozess als um das Produkt. Das Ziel ist letztlich nicht, eine Enzyklopädie fertigzuschreiben, sondern einen Prozess zu organisieren, in dem Menschen Wissen teilen können. Darum versteht sich Wikipedia selbst als »ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie«.

Macht drückt sich in Wikipedia darum nicht durch Titel oder technische Funktionen aus, sondern durch die Zeit, die man einsetzt. Denn in Wikipedia werden Entscheidungen im Konsens getroffen, und einen solchen stellt man nicht mal eben so her. Er wird ausdiskutiert, so lange es eben dauert. Wer Zeit hat – als Rentnerin vielleicht, als Student, als Hartz-IV-Empfänger oder weil er aus anderen Gründen nicht (mehr) arbeiten muss –, der hat natürlich Macht in einem solchen System. Denn es reicht, einfach abzuwarten, bis das Gegenüber keine Zeit mehr hat, noch eine Schleife in der Diskussion zu ziehen. Tatsächlich enden Debatten oft genug nicht durch eine gemeinsame Einigung. Oft genug enden sie, weil sich einer der Beteiligten zurückzieht, aus Frustration oder schlicht aus Mangel an Zeit. Das ist sicherlich frustrierend für jemanden, der eben nicht über die für eine Wikipedia-Debatte notwendigen Zeit-Ressourcen verfügt (oder der schlicht keine Lust hat, viel Zeit damit zu verbringen, Wissen kostenlos zur Verfügung zu stellen). Dennoch ist dieses Vorgehen notwendig für Wikipedias Qualität. Die Deliberation, auf Deutsch Beratschlagung, ist ein zentrales Organisationsmodell für quasi alle Prozesse in Wikipedia. Über Inhalte kann eben nicht einfach abgestimmt werden, und in einem Projekt, an dem jeder mitmachen kann, ist auch formale Qualifikation eben nicht ausschlaggebend für eine Debatte. Das ist ja gerade der zentrale Unterschied zwischen Nupedia und Wikipedia: Erstere setzte auf die Bewertung von Fachleuten und Experten – Letztere schafft es mit ihrem Ansatz einer radikalen Offenheit deutlich besser, Inhalte zu erstellen.

Hinzu kommt: Dass Wikipedia Zeit hat, ist ebenfalls ein wichtiger Erfolgsfaktor des Projekts. Auch über (vermeintliche) Kleinigkeiten wird erbittert und ausgiebig diskutiert: Seit vielen Jahren geht es etwa um die Frage, mit welchen Symbolen Geburt und Tod in Wikipedia-Biografien dargestellt werden sollen. Die in den meisten Enzyklopädien gebräuchlichen Zeichen (ein * für die Geburt und ein † für den Todestag) findet sich auch in Wikipedia. Jetzt könnte man in einer Enzyklopädie, die, anders als Brockhaus und Co., kein Platzproblem hat, ja auch einfach »geb. am« und »gest. am« schreiben – aber das wäre für Wikipedia zu einfach. Die Anfänge dieser Diskussion gehen bis ins Jahr 2005 zurück und fanden einen ersten Höhepunkt in einem Meinungsbild 2010, ohne jedoch zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis zu kommen – man brauchte dafür aber einen Schriftumfang von rund 350 Seiten. Den Verlauf oder auch nur die wesentlichen Positionen dieser Debatte darzustellen würde diesen Rahmen sprengen. Die Gegner der Zeichen verweisen darauf, dass es sich bei diesen um christliche Symbole handele – die zumindest in Biografien über Atheisten, Juden, Muslime, Buddhisten und andere Nichtchristen unpassend wären. Die Befürworter verweisen darauf, es handele sich etwa bei dem Zeichen für den Todestag † nicht um ein christliches Kreuz, sondern um einen nicht-religiös konnotierten dagger, einen Dolch.

Auch wenn der letzte projektweite Austausch zum Thema bereits vor 6 Jahren stattgefunden hat,21 so ist die Diskussion keineswegs beendet. Als etwa der bekannte Satiriker und bekennende Atheist Wiglaf Droste 2019 verstarb, entbrannte auf der Diskussionsseite seines Artikels die Debatte erneut. Sie erstreckte sich aber »nur« auf rund 32 Normseiten.

Auch wenn sie auf den Außenstehenden skurril oder sogar böswillig wirken mögen, so verdeutlichen solche Debatten doch immer und immer wieder, dass Wikipedia eben nur im Konsens entstehen kann, dass Kompromisse notwendig sind (bei Verstorbenen jüdischen Glaubens etwa kann, muss aber nicht auf die Zeichen verzichtet werden und stattdessen »geboren« und »gestorben« verwendet werden) – und dass Wikipedia eben niemals fertig ist. Doch eines muss man eben mitbringen: Zeit.

Wer auch noch Macht hat in Wikipedia: Menschen mit einem hohen Bildungsgrad, die in der Lage sind, sich schriftlich gut und überzeugend auszudrücken. Ein formaler Abschluss hilft wenig, aber in einem Projekt, das fundamental auf schriftlicher Kommunikation beruht, ist jeder mächtig, der dieses Instrument gut beherrscht. Doch auch das kann kein Fehler sein – schließlich müssen die Inhalte von Wikipedia auch sprachlich überzeugen: ohne gute sprachliche Kompetenzen keine gute Vermittlung von Inhalten.

Ein dritter Machtfaktor ist das Engagement, das man in Wikipedia einbringt. Indem jeder Beitrag, jeder Edit, jede Beteiligung an Diskussionen, Abstimmungen und Ähnlichem durch die Wiki-Software dokumentiert wird, ist es einfach, bei jedem einzelnen Benutzer nachzuvollziehen, seit wann er bei Wikipedia dabei ist, wie viele Edits er getätigt hat, wie viele Artikel er geschrieben oder Fotos er hochgeladen hat. Auch inwieweit er sich an den Debatten über Regeln und Prozesse für das Projekt eingebracht hat, ist erkennbar. Und natürlich lernt man sich auf den Wikimedia-Konferenzen, bei Stammtischen und in den Wikipedia-Läden kennen. Dafür sind sie ja schließlich da. Dadurch baut sich Vertrauen und, besonders wichtig, soziales Kapital auf. Gerade in einem Projekt, das primär auf anonymen und pseudonymen Beiträgen beruht, sind die persönlichen Bekanntschaften von enormer Bedeutung. Es entwickelt sich ein Vertrauensnetz, ein Geflecht aus Bekanntschaften, das einem die Navigation und die Arbeit in Wikipedia enorm erleichtert.

Es mag auf den ersten Blick eine traurige Einsicht sein, aber Fachwissen ist nur sehr bedingt ein Machtfaktor in Wikipedia. Die formale Qualifikation zählt nichts in einem Projekt, bei dem niemand überprüfen kann, wer man wirklich ist. Doch wie sollte Wikipedia dies anders gestalten, ohne die eigene Offenheit aufzugeben? Um Fachleuten, Experten, Professoren mehr Gewicht qua Expertise zu geben, wäre es notwendig, bei der Anmeldung den Status eines Benutzers zu erfassen. Das aber würde bedeuten, dass Wikipedia ein zentrales Erfolgsprinzip aufgibt: dass jeder prinzipiell gleichberechtigt mitarbeiten kann. Dadurch wäre Wikipedia sicherlich für Experten interessanter – aber eine echte Community würde so nicht lange bestehen können.

Wichtiger und für den Aufbau von sozialem Kapital wirksamer ist es, wenn sich die Beteiligten einer Debatte auch mal zurücknehmen, Argumente reflektieren und einem Konsens zustimmen. Das bedeutet ja nicht, dass Experten nicht in Wikipedia willkommen wären – sie müssen sich jedoch einreihen in die Legion der Wikipedianer und sich innerhalb des Projekts einen Namen schaffen. Denn schließlich geht es um ein großes gemeinsames Ziel: alles Wissen der Menschheit allen Menschen frei zugänglich zu machen. Wikipedia, diese amorphe Masse, funktioniert ohne Abstimmungen, ohne richtig oder falsch und ohne Zugangsbeschränkungen, wenn alle Beitragenden sich auch mal zurücknehmen. Zeit und Demut sind die ultimativen Machtinstrumente in Wikipedia.