Speaker

Das Shuttle war zu klein.

Früher war das nicht so gewesen. Speaker hatte das Shuttle viele Male für seinen vorgesehenen Zweck benutzt – schnelle Sprünge zwischen Planet und Orbit, vom Schiff zur Station oder auch von Schiff zu Schiff, normalerweise um Güter in die eine oder andere Richtung zu transportieren. Manchmal saß dabei ihre Schwester neben ihr. Bisher war es ihr nie eng vorgekommen, und das Shuttle war mit dem Notwendigsten ausgestattet, falls sich unerwartete Umstände einstellten, so wie jetzt. Es gab Wasser, zwei Schlafhängematten, reichlich Trockennahrung, eine halbwegs anständige Toilette, Atemluft – alles, was man für eine schnelle Flucht im Fall des Falles brauchte. Aber im Moment brauchte Speaker etwas anderes, etwas, dass das Shuttle ihr nicht bieten konnte, und dieses Fehlende machte sie wahnsinnig.

Sie musste sich bewegen.

Speaker schwang sich von Mast zu Mast, wobei ihre Handgelenk-Haken laut und wütend gegen das Metall knallten. Sie marschierte von einer Seite des zu kleinen Shuttles zur anderen, hin und her, hin und her, immer mit einem halben Blick zum Kommunikationsbildschirm. Dort drehte sich schon seit zehn qualvollen Minuten ein Fortschrittsrad, und jeden Moment würde es …

Der Bildschirm wurde weiß, das Zeichen für ein Update. Speaker ließ sich nach unten gleiten und krabbelte zur Konsole. »Komm schon«, sagte sie. »Komm schon, komm schon, komm …«

Die Außenhülle des Shuttles war dick, aber dennoch drang ein furchterregendes Geräusch hindurch: Ein knirschender Aufprall, dann ein Prasseln. Speaker sah zwar nicht, was passiert war, aber das war auch nicht nötig. Ohne Zeit zu verschwenden, rutschte sie die nächste Stange hinunter und schoss in den Zwischenraum unter der Konsole. Sie zog den Kopf ein und schützte ihren Hals mit den Armen. Irgendwo da draußen hatte es einen Aufprall gegeben, und sie hörte zwar keinen Dekompressionsalarm und keine alarmierenden Geräusche mehr, wappnete sich aber trotzdem. Es war ihr aus Sicherheitsübungen vertraut, einen echten Vorfall hatte sie noch nie erlebt. Ihr Puls ging schnell, und ihre Hände zitterten, aber sie verschränkte die Finger, schloss den Schnabel fest und wartete auf das, was kommen würde.

Nur kam da nichts. Das Shuttle und die Welt dahinter waren genauso still wie noch vor wenigen Minuten. Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen, aber Speaker traute dem Braten nicht. Wer fand schon Trost in einer Stille, die jederzeit ohne Vorwarnung enden konnte?

Zaghaft kam sie aus der Ecke heraus, in der sie Schutz gesucht hatte, und kletterte zum nächsten Fenster hinauf, um nach der Ursache des Geräuschs zu fahnden. Lange musste sie nicht danach suchen. Nicht weit von ihr entfernt war ein zerknautschtes Stück Metall heruntergekommen – weit genug, dass sie nicht das Bedürfnis verspürte, den Schiffsrumpf zu inspizieren, aber doch so nah, dass sie den Staub sah, der immer noch in der dünnen Luft über dem Ding hing.

Speakers Magen krampfte sich zusammen, als sie an all die unbekannten Faktoren dachte, die dazu geführt hatten, dass das torkelnde Stück Schrott dort drüben und nicht genau bei ihr gelandet war. Mühsam bezwang sie das Zittern ihrer Hände, kämpfte das helle Entsetzen nieder, das aus dem Gedanken erwuchs: O Sterne, was wenn …? Sie schloss die Augen und holte tief Luft, dann machte sie sich auf den Rückweg zur Kommunikationskonsole und versuchte, sich nur auf eine nervenzerfetzende Angst auf einmal zu konzentrieren.

Fehler , stand auf dem Comm-Display. Die Verbindung mit dem gewünschten Empfänger kann nicht hergestellt werden. Mutmaßliche atmosphärische Störung. »Was du nicht sagst«, flüsterte Speaker.

Die nicht zustande gekommene Verbindung war alles andere als überraschend. Genauso wenig überraschend wie bei den drei Malen zuvor. Das Shuttle hatte kein Ansible, sondern eine Kurzstrecken-Kommunikationsschüssel, und die benötigte eine starke, lückenlose Verbindung zwischen Sender und Empfänger. Da Letzterer behindert wurde durch die sich exponentiell vervielfachenden Trümmer von Ersterem, würde sie nie und nimmer senden können.

Sie versuchte es trotzdem noch einmal und wählte einen anderen Algorithmus für die Signalsuche aus, bevor sie weiter auf und ab lief.

»Alles bestens bei dir«, flüsterte sie ihrem immer noch zittrigen Selbst zu, wobei die Worte zu einem Rhythmus wurden, während sie sich mit beiden Händen in zwei Stangen einhakte. »Alles bestens, alles bestens, alles bestens.«

Tracker wüsste, wie man eine Verbindung zustande bekommt, dachte Speaker. Na schön, vielleicht. Vielleicht würde Tracker auch zu dem gleichen Schluss kommen wie das Comm-Display – dass manche Dinge auch für einen noch so cleveren Workaround zu kaputt waren. Trotzdem, so etwas auszuknobeln war Trackers Spezialität. Darauf ging auch ihr Name zurück. Sie liebte Muster und Ordnung; das galt zwar auch für Speaker, aber in anderer Weise. Wo Speaker das Geflecht der Grammatik liebte, fand Tracker Trost in numerischen Reihen. Wo Speaker Nuancen, Semantik, Wortwurzeln und Doppelbedeutungen schätzte, ergötzte sich Tracker an Zahlenknobeleien und der Zufriedenheit, die im Finden der Lösung lag. Der Zweck ihrer jeweiligen Mittel war der gleiche: die Suche nach dem elegantesten Weg, einer Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. In dieser Hinsicht waren sie zwei Bestandteile desselben Werkzeugs. Alle Akarak-Zwillinge waren halbierte Seelen, aber die Verbindung zwischen Speaker und Tracker war das, was man ein triet nannte. Die wörtliche Übersetzung war »gerader Schnitt«, aber in der Ihreet-Sprache hatte das Wort etwas Gewichtiges, Ehrfürchtiges. Es beschrieb ein Paar, das durch die gegenseitige Ergänzung ganz wurde.

Und nun konnte Speaker Tracker nicht erreichen.

Der Bildschirm wurde weiß, und wie eine Närrin rannte Speaker erneut darauf zu. Fehler , stand auf dem Bildschirm. Die Verbindung mit dem gewünschten Empfänger kann nicht hergestellt werden. Mutmaßliche atmosphärische Störung.

»Sterne!«, fauchte Speaker. »Verdammt nochmal!« Sie schlug mit der flachen Hand auf den Bildschirm und stieß einen wortlosen, frustrierten Schrei aus. Dieses Verhalten war völlig untypisch für sie. Es war Tracker, die zornig wurde, die in die Luft ging, im Gegensatz zu Speaker, die sich dann in sich selbst zurückzog. Tracker wurde laut; Speaker brachte sie herunter. Das war ihr Gleichgewicht, die Gezeiten ihrer Gefühlslage, Ebbe und Flut. Aber genau da lag für Speaker der Hund begraben: Ihre andere Hälfte war dort oben. Es war keineswegs so, dass Speaker sich nie von Tracker trennte. Bei einem Aufenthalt wie diesem hier tat sie das sogar oft, wegen des Widerstrebens ihrer Schwester, die Harmony zu verlassen. Aber das waren dann immer nur Stunden. Ein Nachmittag vielleicht. Die Zeitspanne zwischen Erwachen und Schlafengehen. Bisher hatte sie noch nie eine Nacht ohne Tracker verbracht.

Sie dachte an all die Gelegenheiten, bei denen ein bestimmtes Geräusch sie geweckt hatte – oder besser gesagt das Fehlen eines Geräuschs. Tracker, die aufgehört hatte zu atmen. Hin und wieder vergaß ihre gequälte Lunge einfach, was sie tun musste; und obwohl Trackers Immunobots eigentlich Alarm auf ihrem Scribus auslösen sollten, wenn der Sauerstoffgehalt in ihrem Blut beim Schlafen zu stark absank, reagierten sie nur selten so schnell wie die Schwester neben ihr. Dutzende von Nächten waren davon unterbrochen worden, dass Speaker Tracker wach rüttelte, ihr half, sich aufzusetzen, Luft zu holen, ihre Medikamente zu nehmen. Tracker, die daran gewöhnt war, schlief oft schnell wieder ein. Speaker hingegen tat das nie. Für gewöhnlich lag sie danach wach und lauschte, bis der Morgen kam und Tracker aufstand, um ihren Tag zu beginnen. Erst dann fühlte sich Speaker sicher genug, um wieder einzuschlafen.

Würde Tracker überhaupt wieder aufwachen, überlegte Speaker, wenn sie nicht da war?

Sie schwang sich zu den Schlafhängematten und nahm in einer von ihnen Platz. Sie schloss die Augen. Lockerte ihren verkrampften Schnabel. Diese ganze Aufregung brachte nichts. Das war Panik, und Panik war zwar eine normale Reaktion, wenn alles zusammenbrach, aber die Richtung, die ihre Gedanken nahmen, war wenig hilfreich und auch eher unwahrscheinlich. Tracker war kein Baby, und sie war nicht dumm, und es hing nicht von Speakers Anwesenheit ab, ob Trackers Lunge funktionierte oder nicht. Tracker war einfallsreich, sie war zäh. So große Sorgen musste sie sich nicht machen, sagte sich Speaker.

Sie machte sich dennoch Sorgen.

Speaker rieb sich die Hände. Nein, so ging das nicht. Sie würde nicht hier herumsitzen, einen ganzen Tag oder wie lange es eben dauerte – und sie bezweifelte, dass etwa ein GU -Standardtag eine präzise Schätzung dafür war. Etwa ein GU -Standardtag war die Floskel, mit der man abgespeist wurde, wenn die betreffende Behörde die Leute auf eine lange Wartezeit einstimmen wollte, genauso wie Bitte kommen Sie zwanzig Minuten vor dem Termin alles bedeuten konnte, von sofortiger Bedienung bis zu einer Wartezeit von einer Stunde. Ein GU -Standardtag war eine leere Phrase, eine Zahl, die durch das zugrunde liegende Konzept von eins und Tag schnellen Trost spendete und gleichzeitig durch die bürokratische Verwendung des Wortes etwa jede echte Bedeutung auslöschte. Speaker hatte in zu vielen Warteschlangen gestanden und zu viele Formulare ausgefüllt, um einer solchen Phrase zu vertrauen.

Na schön. Wenn die Comm-Verbindung ein hoffnungsloser Fall war und das Shuttle sie langsam in den Wahnsinn trieb, was blieb ihr dann übrig? Was war die bessere Art, etwa einen GU -Standardtag zuzubringen?

Sie lief zurück zu den Stangen und machte sich auf, um ihren Scribus zu holen.