Das eelim formte sich um Pei, als sie sich setzte, sein fensterkittartiges Polymer zerfloss und schmiegte sich um ihren Körper. Die Türen waren auf ähnliche Weise geschmolzen, als sie von Zimmer zu Zimmer gegangen war, kurz davor, den Verstand zu verlieren. Wie alle äluonischen Wohnräume passte sich das gesamte Innere des Shuttles ihren Bedürfnissen an. Das Möbelstück, in dem sie sich jetzt niederließ, war groß und praktisch und konnte sowohl als gemeinschaftliche Bank oder als Bett für drei Leute dienen (oder auch für mehr Personen, sofern man nichts gegen ein wenig Enge einzuwenden hatte). Aber diesmal reiste Pei allein, und das brachte den Luxus mit sich, dass sie sich ausstrecken konnte, ohne mit den Ellbogen ihrer Besatzungsmitglieder zusammenzustoßen. Normalerweise machte Beengtheit ihr nichts aus – wo sie arbeitete, war Bequemlichkeit oft zweitrangig –, aber sie musste einräumen, dass es schön war, das Schiff für sich allein zu haben. Nicht, dass es dazu eine Alternative gegeben hätte.
Es war seltsam, sich an so etwas zu erfreuen, wenn der Himmel in Flammen stand.
Eine brennende Atmosphäre war nichts Neues für Pei, was sich auch darin zeigte, dass ihr erster Impuls gewesen war, loszurennen, zu reagieren, zu schießen, zu beschützen. Aber Gora war kein Kriegsgebiet. Ihre Schusswaffen lagen in einem Spind, ihr richtiges Schiff befand sich woanders, und die Rosk-Grenze war am Gora-Himmel nur ein Stern unter Millionen. Das derzeitige Problem – das Problem des brennenden Himmels – spielte sich im unteren Orbit ab, und von hier unten konnte sie den Leuten, die sich mit dem Chaos dort oben befassten, nicht helfen. Ihr blieb nichts weiter zu tun, als im Shuttle herumzusitzen und zu warten, so wie es den Anweisungen entsprach.
Auch warten war etwas, woran Pei gewöhnt war, aber es ging fast immer Hand in Hand mit Vorbereitungen. Normalerweise war die Liste der Angelegenheiten, die sie während des Wartens im Blick behalten musste, schier endlos und wurde beständig länger. Sie musste sich mit Hinterhalten und Kreuzfeuern befassen, mit Diebstählen, Streitereien, technischen Inspektionen, Einflugschneisen, Ausstiegsplänen, Treibstoffvorräten, der Frage, ob die Schotten intakt waren und die Verschalung hielt, mit humorlosen Zollinspektoren, Mittelsmännern ohne moralische Basis, mit Übersetzungen und digitalen Stempeln und der Einschätzung, ob die Schilde diesmal halten würden oder nicht. Sie hatte zwar eine Crew – und noch dazu eine verdammt gute –, an die sie solche Aufgaben delegieren konnte, aber als Captain trug sie die Verantwortung, und es gab kein Problem, bei dem ihre Entscheidung nicht erforderlich war, ob das nun Ihr Pilot hat ein Auge eingebüßt oder Wir haben wieder mal keinen Mek mehr war.
Und deshalb stellte Pei im Lauf der ersten Stunde, nachdem der Notruf hereingekommen war und alle sich wie kleine Krippenkinder in ihr jeweiliges Shuttle geflüchtet hatten, fest: Sie empfand die Situation, nichts weiter zu tun zu haben, als anderer Leute Anweisungen zu befolgen und darauf zu warten, dass die Betreffenden ihren Job machten, in erster Linie als … Erleichterung.
Sie hatte Schuldgefühle deswegen. Für die Verantwortlichen war dieser Vorfall eine Tortur, das stand außer Frage, und die Katastrophe hatte zweifelsohne Auswirkungen auf die Zeitpläne eines ganzen Planeten voller Leute, die irgendwohin mussten. Sie selbst verlor dadurch einen Tag Landurlaub, was eindeutig ihre Stimmung trübte, aber wahrscheinlich war es für andere mit strengen Zeitplänen und dringenden Anliegen viel schlimmer. Soweit sie wusste, war niemand ums Leben gekommen. Niemand in ihrer unmittelbaren Umgebung war verletzt worden. Dennoch, Schaden war Schaden, und sie fühlte sich zwischen zwei Wahrheiten hin und her gerissen, bis ihr klarwurde, dass sie sich gar nicht gegenseitig ausschlossen:
Das hier war keineswegs das Schlimmste, was geschehen konnte.
Dennoch war es schlimm.
Aber ihre Überlegungen waren müßig. Sie hatte keinerlei Kontrolle und trug keine Verantwortung, sie musste einfach nur hierbleiben und abwarten. Das wurde ihr fast nie zugestanden.
Richtig oder falsch – Erleichterung siegte über Schuldgefühle.
Sie entspannte die Schultern und ließ den Kopf sinken. Hier in ihrem Shuttle schien die Vorstellung, dass etwas nicht stimmte, absurd. Alles war ruhig. Sie war in Sicherheit. Durch ihr Fenster konnte sie den Garten sehen, in dem sie vorhin spazieren gegangen war, und die Hügel hinter der Kuppel wölbten sich so hoch, dass sie ihr den Blick auf den Himmel verwehrten. Sie ließ den Blick wieder in den Garten schweifen, der auf eine bescheidene Weise wirklich schön war. Er erinnerte Pei an den Garten der Krippe, in der sie groß geworden war und in dem einer ihrer Väter jeden Tag gearbeitet hatte. Voller Zuneigung dachte sie an die dreieckigen Beete, in denen vor allem Pflanzen wuchsen, von denen sich Kinder etwas abbrechen und naschen konnten. Dort geschah niemals etwas Böses, und vorübergehend empfand sie in Ouloos Garten das Gleiche. Sie wusste zwar, dass diese Gefühle nichts mit der Wahrheit zu tun hatten, dass überall etwas Schlimmes geschehen konnte und auch geschah, aber es war schön, sich der Illusion vorübergehend hinzugeben. Sie erlaubte sich, kurz in ihrer Phantasie zu verharren, auch wenn sie wusste, dass der Blick in den Himmel eine andere Geschichte erzählte.
Während ihr Verstand ruhig wurde, begannen ihre Gedanken zu schweifen, und Pei folgte ihnen müßig und spürte, wie ihre Wangen mal die eine und dann wieder die andere Farbe annahmen. In ihrem Beruf war es wichtig, sich der Vorgänge im eigenen Inneren bewusst zu werden, und sie pflegte diese Art von Selbstfürsorge in jedem freien Moment. Über die aktuelle Situation war sie sich schnell klargeworden und musste sich nicht weiter damit befassen. Aber es gab noch ein weiteres Problem, mit dem sie schon seit Tagzehnten haderte. Sie hatte dabei nur wenig Fortschritte gemacht, und je mehr sie sich damit auseinandersetzte, desto mehr erschien es ihr, als wollte sich das Gewirr der Komponenten miteinander verflechten, wie die Wurzeln von Pflanzen, die zu dicht beieinander wuchsen. Hätte sie doch nur Les Gartenschere, um sie kleinzuhacken und das Problem los zu sein.
Sie atmete aus und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Sie war das Chaos so leid, hatte es so satt, jedes Mal damit konfrontiert zu sein, sobald ihre Gedanken zu wandern begannen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, sagte sie sich. Da draußen gab es ein echtes Problem, sosehr sie auch davon abgekoppelt war. Sie hatte die Anweisung erhalten, Schutz zu suchen und Ruhe zu bewahren. Ersteres war leicht, Letzteres ein Vergnügen. Es gab keinen Grund, diese geschenkte Zeit mit rastlosen Grübeleien zu vergeuden.
Mit gleichmütiger Entschlossenheit drückte sich Pei rückwärts in den eelim , bis er nach ganz hinten kippte. Sie kuschelte sich in das behagliche Nest, verschränkte die Hände über der Brust und ließ sich in das Gefühl der Geborgenheit hineinfallen. Durch das Fenster über ihr sah sie in der Ferne die vorbeischwebenden Überreste eines Wettersensors, die, als sie auf die dünne Luft trafen, wie trockenes Holz aufflammten. Pei schloss die Augen, bevor die Teile aufgehört hatten zu brennen. Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen.
Empfangene Nachricht
Verschlüsselung: 0
Absender: GU -Transitbehörde – Gora-System (Pfad: 487 –45 .411 –479 –4 )
An: Ooli Oht Ouloo (Pfad: 5787 –598 –66 )
Betreff: WICHTIGES UPDATE
Es folgt eine wichtige Nachricht vom Bereitschaftsteam des Orbiters der GU -Transitbehörde, Abteilung regionales Management (Gora-System). Da sowohl die normalen Ansible- als auch die Linking-Verbindungen derzeit nicht verfügbar sind, werden wir bis auf weiteres über das Notfall-Netzwerk mit Ihnen kommunizieren. Bitte bleiben Sie mit Ihren Scriben auf diesem Kanal, bis die Kommunikation wieder wie gewohnt funktioniert.
Dies ist keine vollständige Entwarnung. Zwar dürfen sich Personen auf der Planetenoberfläche innerhalb der Habitatkuppeln ab jetzt wieder frei bewegen, aber von Reisen zwischen den Kuppeln wird abgeraten. Alle raumtauglichen Schiffe müssen bis auf weiteres am Boden bleiben. Derzeit sind keine Starts oder Landungen erlaubt.
Wir arbeiten weiterhin mit der Gora-Satellitenkooperative an einer umfassenden Einschätzung der Lage. Unser derzeitiger Wissensstand ist wie folgt:
Heute früh wurde die routinemäßige Anpassung des Satelliten durch einen Hardwarefehler gestört. Die Folge war eine Kaskadenkollision, die zum jetzigen Zeitpunkt schätzungsweise achtundsiebzig Prozent der goranischen Satellitenflotte beschädigt oder anderweitig beeinträchtigt hat. Wir rechnen damit, dass dieser Anteil noch zunimmt, da weiterhin beschädigte Hardware herunterkommt. Wie Sie vermutlich bereits festgestellt haben, sind sämtliche Verbindungen des Planeten davon beeinträchtigt.
Die Umstände dieses Hardwareausfalls müssen noch gründlich untersucht werden, aber erste Daten deuten darauf hin, dass der Vorfall sowohl zufällig bedingt als auch mechanischer Natur war. Uns ist bekannt, dass Gerüchte über einen nicht erkannten Asteroiden oder den Beschuss durch orbitale Waffen kursieren. Diese Gerüchte sind völlig haltlos.
Wie immer hat Ihre Sicherheit oberste Priorität, sowohl auf dem Planeten als auch außerhalb. Unser Ziel ist es, innerhalb eines GU -Standardtags Starts und Landungen zu ermöglichen, und wir arbeiten daran, so schnell wie möglich Lösungen zu finden.
Wir danken Ihnen für Ihre Geduld. Dies ist eine Gemeinschaftsaufgabe.