Tag 237 , GU -Standard 307
Mit dem Schlaf hatte Pei normalerweise keinerlei Probleme. Sie war schon immer der Typ gewesen, der jederzeit und überall schlafen konnte, ganz gleich, ob daraus dann ein kurzes Nickerchen oder ein tiefer Schlummer wurde. Mit zunehmendem Alter war ihr Körper zwar nicht mehr so erpicht darauf, sich an Kisten zu lehnen oder aufrecht sitzend in einem Sessel zu dösen, den Kopf in den Nacken gelegt, aber solange sie ein Bett hatte – oder zumindest irgendeine horizontale Fläche –, durfte sie damit rechnen, einzuschlafen, sobald ihr Kopf abschaltete. Bei ihren Besatzungsmitgliedern war das teilweise nicht der Fall – ein paar von ihnen hatten nach einem harten Tag Schwierigkeiten, ihren Geist abends zur Ruhe zu bringen, aber welche unangenehmen Erinnerungen Pei auch belasteten, sie manifestierten sich nicht durch Schlaflosigkeit. Wenn sie einmal schlief, dann schlief sie.
In der letzten Zeit jedoch hatte ihr Rhythmus sich verändert. Die Nickerchen fielen ihr noch so leicht wie eh und je, aber wenn es um ihren Nachtschlaf ging, wachte sie manchmal unvermittelt auf, so wie jetzt, aufgekratzt und putzmunter. Sie seufzte entnervt und schaute zu dem glatten Schott über ihr. Es war zwar nicht der gleiche Anblick wie bei ihrer Kabinendecke auf der Mav Bre , aber das fremde Bett war nicht das Problem. Sie hatte schon oft im Shuttle geschlafen, normalerweise zusammen mit mehreren Besatzungsmitgliedern. Nein, dieses spezielle Problem verfolgte sie jetzt schon seit Tagzehnten, und so klein das Ärgernis auch war, es war dennoch … nun, ärgerlich.
Sie wusste, weshalb sie wach war. So signalisierte ihr Körper ihr, dass es ein ungelöstes Problem gab, und irgendein dummer Teil von ihr hielt es für das Beste, in unregelmäßigen Abständen wach zu werden, bis die Sache geklärt war. Sie hatte das schon früher erlebt, wenn es offene Fragen gegeben hatte – bei Flugrouten, Landestrategien oder Vertragsschwierigkeiten. Es spielte keine Rolle, dass es keine neuen Informationen zu verarbeiten gab; ihr Geist wollte einfach die Fakten durchgehen, wieder und wieder. Es war eine Angewohnheit, die sie rasend machte, umso mehr, als es derzeit nicht um ihre Arbeit ging, sondern um Ashby – ausgerechnet denjenigen, mit dem sie sich einen Raum geschaffen hatte, in dem sie nicht über ihre Probleme nachdenken musste.
Sie hatte keine Lust, sich schon wieder deswegen den Kopf zu zerbrechen, und erst recht weigerte sie sich entschieden, es zu dieser Tageszeit zu tun. Dennoch stieß sie einen Seufzer aus und schleuderte die Decke weg. Das Bett bewegte sich mit ihr, als sie sich aufsetzte, nahm eine sesselähnliche Form an, um dann, als sie aufstand, wieder zu der neutralen Kugelform zurückzukehren. Sie machte eine Geste zu dem Bedienfeld für die Beleuchtung, und ein schwaches Leuchten begleitete sie auf ihrem Weg durch den Korridor in die Küche. Der Wasserkessel war halb voll; sie gestikulierte auch in seine Richtung, und das Heizelement sprang an. Sie legte die Handfläche an die Wand zur Speisekammer, und diese schmolz bereitwillig weg und gab eine Öffnung frei, durch die sie sich bei den dort lagernden Vorräten bedienen konnte. Sie zog eine Schachtel mit Instant-Mek-Pulver heraus und öffnete dann ein weiteres Fach, um eine Tasse und einen Mixstab herauszuholen. Nachdem sie ihre Gerätschaften und die einzige Zutat beisammen hatte, klopfte sie das Pulver in die Tasse – ihr Muskelgedächtnis sagte ihr genau, wie viel sie brauchte – und wartete, bis das Wasser kochte.
Pei dehnte leicht die Arme und verspürte dabei ein hartnäckiges Zwicken im rechten Unterarm – ein kleines Andenken an das längst entfernte Schrapnell, das sich bei ihrem letzten Auftrag dort hineingebohrt hatte. Noch vor wenigen Tagzehnten hatte sie sich an der Rosk-Grenze befunden, um mit genau diesem Shuttle an dem Treffpunkt zu landen, der für die Lieferung vereinbart war. Damals hatte der Himmel tatsächlich gebrannt. Kampfschiffe hatten sie bei ihrem Landeanflug beschützt und grelle Flammenstöße auf die Schlachtenkreuzer der Rosk abgefeuert, die gerade ihre Munition aufbrauchten, um sämtliche Landungen zu verhindern. Sie war nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation gewesen, aber das Blatt hatte sich rasch gewendet. Am Ende waren die zehn Minuten auf einem Planeten, um ein paar Kisten abzuladen, mit einer langen Liste von Schäden und zwei zerstörten Kampfschiffen bezahlt worden. Die daraufhin nötigen Reparaturen an ihrem Schiff waren zwar lästig, aber insgesamt war die Mission ein Erfolg gewesen. Ihre Auftraggeber hatten ihr Loblied gesungen, die Crew hatte ihren Lohn bekommen, und niemand, für den Pei die Verantwortung trug, war ums Leben gekommen. Letzten Endes war es ein ganz normaler Job gewesen.
Die Anzeige am Kessel blinkte zum Zeichen, dass er seinen Job getan hatte. Sie goss Wasser in ihren Becher, war jedoch so zerstreut, dass sie es verschüttete. Die kochend heiße Flüssigkeit spritzte auf die Arbeitsfläche und von dort, ehe Pei ausweichen konnte, auf ihren nackten Oberkörper. Es war nur ein winziges Missgeschick, aber sie reagierte darauf wie auf eine derbe Beleidigung – vor Zorn verfärbten sich ihre Wangen so tiefviolett, dass sie sich beinahe schwarz anfühlten. Dieser Tage trennte sie stets nur eine Schuppenbreite vom nächsten Wutanfall, der Zorn schwelte direkt unter der Oberfläche und drohte jederzeit aufzuflackern – wegen eines zu Boden gefallenen Scribus, wegen des Abbruchs eines Empfangssignals oder, wie gerade eben, wegen eines verschütteten Getränks. Unter normalen Umständen spielte Zorn bei ihr keine größere Rolle als Freude oder Furcht oder andere Emotionen. Sie gab ihm immer so viel Raum wie nötig und ließ ihn frei heraus. Zorn zu unterdrücken war ungesund, und weise eingesetzt konnte er sogar nützlich sein. Aber wieso er in letzter Zeit so schnell aufflammte, wusste sie nicht. Sie fühlte sich wie ein Teenager – launisch und empfindlich, ohne erkennbaren Grund. Mehrfach hatte sie versucht, das Gefühl zu analysieren. Emotionen, denen man nicht auf den Grund ging, konnten leicht zu wuchern beginnen, und es lag ihr sehr daran, diese Nachlässigkeit zu vermeiden. Aber in diesem Fall kam sie einfach nicht weiter, genauso wenig, wie sie nachts durchschlafen oder ihren Geist daran hindern konnte, immer wieder zu dem gleichen ermüdenden Thema zurückzukehren, sobald sie ihm die kleinste Pause gönnte.
Sie füllte ihre Tasse. Diesmal verschüttete sie das Wasser nicht.
Sie verrührte Pulver und Wasser, bis sie annähernd das Getränk hatte, das sie eigentlich anstrebte. Die Baumrinde, die man für eine richtige Tasse Mek brauchte, war nicht lange haltbar, weshalb Pei aus praktischen Erwägungen immer das Instantpulver kaufte. Aber bei den Sternen, sie vermisste richtigen Mek. Sie musste an den Mek-Brauer denken, den ihr Vater Po besaß, mit seinen aufwendigen Röhren und Schläuchen, ein wunderschönes, ausgeklügeltes Gerät, das nur dem einen Zweck diente, ein beruhigendes Getränk zuzubereiten. Die wenigsten Mek-Trinker brauten sich ihr Getränk selbst – die meisten bevorzugten das gefriergetrocknete Pulver, das im Vergleich zum Instant-Mek ein deutlicher Fortschritt war, ohne dass seine Zubereitung Stunden oder sogar Tage beanspruchte. Aber Vater Po beharrte darauf, dass man Mek entweder richtig zubereitete oder gar nicht. Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit einem oder zweien ihrer Krippengeschwister um die Ecke in die Küche gelugt hatte, wo Vater sein kompliziertes Ritual vollzog: Er schälte die morgens im Garten geerntete Rinde, zerstampfte die wirksame Substanz geduldig von Hand und fügte Gewürze, getrocknete Blüten und die übrigen Zutaten für diese spezielle Mischung hinzu. Es war ungeheuer viel Arbeit für die etwa zehn Tassen, die am Ende dabei herauskamen, aber Vater Po war fest überzeugt, dass die Mühe sich lohnte. Nicht, dass Pei diese Theorie jemals hatte überprüfen können. Kinder waren für den leichten Mek-Rausch zu klein, und Pei hatte vergessen, Vater Po um einen Vorrat für sich selbst zu bitten, als sie schließlich auszog, um zu studieren. Bei seltenen Gelegenheiten besuchte sie die Krippe immer noch, aber sie brachte es nie übers Herz, ihm nur um ihretwillen so viel Arbeit zu machen.
Zwar hatte sie noch nie traditionellen Mek getrunken – ob es der ihres Vaters war oder einer, den jemand anders gebraut hatte –, aber wenn sie sich eine Tasse von dem Instant-Zeug zubereitete, sehnte sie sich neuerdings nach dieser aufwendigen Delikatesse, die sie noch nie probiert hatte. Auch den Gemüsegarten der Krippe vermisste sie, obwohl sie zum Gärtnern zu ungeduldig war und sich fürs Kochen nicht die Bohne interessierte. Sie vermisste die Zeit, in der ein Insekt oder ein Scherz oder die Bewegung ihres eigenen Gesichts genügt hatten, um sie einen ganzen Nachmittag lang zu fesseln. Die Kindheit selbst vermisste sie nicht. Im Gegenteil – Pei war heilfroh darüber, all das Chaos und die Unbeholfenheit für immer hinter sich gelassen zu haben. Eher vermisste sie die Einfachheit von damals, als sie über nichts Komplizierteres hatte nachdenken müssen, nur über ganz schlichte Fragen wie Ob ich meinen Schuh wohl über diesen Baum schleudern kann? oder Wie funktionieren Hände? oder Ob ich diese Blume wohl dazu bringen kann, die Farbe zu wechseln, wenn ich sie lange genug vor mein Gesicht halte? Solche kindlichen Überlegungen waren einmal essenziell gewesen, ein wesentlicher Baustein, um die Grundregeln des Universums zu erlernen, das sie umgab und von dem sie ein Teil war. Inzwischen musste sie diese Regeln zwar nicht mehr entdecken, aber es wäre schön, dachte sie, wieder die Zeit zu haben, um auf Du und Du mit ihnen zu sein.
Pei legte beide Hände um die Tasse, hob sie an und öffnete den Mund. Doch bevor sie trinken konnte, leuchtete an der Wand ein Bedienfeld mit einer Nachricht auf. Das geschah nur bei Kontakten, die sie als wichtig markiert hatte, und so fackelte sie nicht lange, stellte ihr unberührtes Getränk ab und machte sich auf den Weg zum Kontrollraum.
Doch sie wünschte sich, sie würde noch schlafen.
Empfangene Nachricht
Verschlüsselung: 0
Von: GU -Transitbehörde – Gora-Systemen (Pfad: 487 –45411 –479 –4 )
An: Gapei Tem Seri (Pfad: 3541 –332 –61 )
Betreff: WICHTIGES UPDATE
Es folgt eine wichtige Nachricht des Notfall-Teams des Regional-Orbiters der GU -Transitbehörde (Gora-System).Da sowohl die normalen Ansible- als auch die Linking-Verbindungen derzeit nicht verfügbar sind, werden wir bis auf weiteres über das Notfall-Netzwerk mit Ihnen kommunizieren. Bitte bleiben Sie mit Ihren Scriben auf diesem Kanal, bis die Kommunikation wieder wie gewohnt funktioniert.
Unser Team hat die vollständige Untersuchung des Gora-Satellitennetzwerks und der Trümmerwolke abgeschlossen. Wir haben Drohnen zur Unfallstelle geschickt und arbeiten daran, die Trümmer so schnell wie möglich zu beseitigen.
Da es sich um ein noch nicht da gewesenes Ereignis handelt, wird es länger dauern als ursprünglich angenommen, bis die Trümmer aus dem Weg geräumt sind und der Verkehr zwischen Planet und Umlaufbahn wieder aufgenommen werden kann. Auf Grundlage der derzeitigen Datenlage hoffen wir, dass in etwa zwei GU -Standardtagen wieder die Voraussetzungen für einen gefahrlosen Raumverkehr vorliegen werden. Diese Schätzung basiert auf den aktuellen Daten. Da die Situation sich weiter entwickelt, kann sich der genaue Zeitpunkt noch ändern.
Es ist uns klar, welche Auswirkungen diese Verzögerungen sowohl auf geschäftliche wie persönliche Angelegenheiten haben, und wir bedauern die Unannehmlichkeiten. Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis und werden unser Möglichstes tun, damit die Situation so zügig behoben wird, wie es gefahrlos möglich ist.
Es gab vereinzelte Versuche, trotz des derzeitigen Flugstopps ein Raumschiff zu starten. Bitte sehen Sie bis auf weiteres von sämtlichen bemannten oder unbemannten Raumflügen ab. Das Risiko, bei solchen Versuchen Schiff und Leben zu verlieren, ist sehr hoch. Auch wir bedauern die derzeitige Situation, aber bitte halten Sie sich zu Ihrer eigenen Sicherheit und zur Sicherheit Ihrer Mitreisenden an die derzeit geltenden Regelungen.
Die GUTB und die Orbitalkooperative Gora arbeiten gemeinsam daran, Goras solare Energieversorgung wieder aufzunehmen. Die Orbitalkooperative Gora wird für den von Ihnen für die Notversorgung benötigten Treibstoff aufkommen, bis das solare Netzwerk wiederhergestellt ist.
Der sicherste Ort ist für Sie derzeit Ihr Schiff oder Ihre Habitatkuppel. Bitte verzichten Sie darauf, in Schutzanzügen ins Freie zu gehen, solange es keine Entwarnung gibt.
Alle auf Gora abgestürzten Satellitentrümmer bleiben Eigentum der GU -Transitbehörde oder der Orbitalkooperative Gora. Das Bergungsrecht der GU hat in diesem Falle keine Geltung.
Wir arbeiten daran, die Verbindung zwischen Planet und Orbit so schnell wie möglich wiederherzustellen. Derzeit ist noch nicht abzusehen, wie lange die dafür nötigen Reparaturen dauern werden.
Vielen Dank für Ihre Geduld. Dies ist eine Gemeinschaftsaufgabe.