Tag 237 , GU -Standard 307
Das Gebäude hatte die gleiche Form wie die anderen Fertigbau-Blasen, aus denen der Five-Hop bestand, aber hier endete die Ähnlichkeit auch schon. Die Fassade war bemalt – auf amateurhafte Weise und in düsterem Schwarz-Weiß –, mit Bildern von ausbrechenden Vulkanen, herabstürzenden Meteoriten, glitzernden Edelsteinen und … und … irgendwelchen Formen. Die Formen hatten eine Bedeutung, da war sich Roveg sicher, aber was auch immer der Künstler sich dabei gedacht hatte, ging in der Umsetzung verloren. Grübelnd betrachtete er eine schiefe Blase, die vermutlich einen Felsen darstellen sollte. Oder einen Stein. Vielleicht auch einen Wassertank, wenn man den Kopf zur Seite drehte. Es ließ sich unmöglich feststellen.
Über dem Eingang des Gebäudes hing ein Schild, dessen Stil sich von seinen erstaunlichen Cousins stark unterschied. Die Beschriftung war eingraviert, nicht gedruckt, und mit großen Tupfern aus Lack- und Metallfarbe verschönert. Eine Sonderanfertigung, in Auftrag gegeben von jemandem, der sich etwas Elegantes gewünscht hatte, ohne die Mittel dafür aufbringen zu können.
Auf dem Schild stand:
Goranisches Museum für Naturgeschichte
Gegründet: GU -Standard 304304
Museumsdirektor: Ooli Oht Tupo
Unter dem Schild hing ein Perlenvorhang. Roveg ging hindurch und nahm sich kurz die Zeit, ein paar der Perlenschnüre aus den Graten seines Panzers zu lösen, in denen sie sich verfangen hatten. Er betrachtete seine Umgebung, und sein Herz schmolz. »O Sterne«, lachte er in sich hinein.
Das Goranische Museum für Naturgeschichte bestand aus einem einzigen, mit Tischen vollgestellten Raum, und auf diesen Tischen lagen, nun … in erster Linie Steine. Es gab große und kleine Steine, Steine in Schachteln, Steinhäufchen, Steine, die auf wackligen Podesten lagen, Splitter und Geröll und mit Erde gefüllte Glasröhrchen. Die mutmaßlichen Ausstellungsstücke waren mit Etiketten gekennzeichnet, die aus dem gleichen Drucker stammten wie die übrige Beschilderung des Five-Hop und auf denen Bezeichnungen prangten wie »Entstehungsphase des Planeten«, »Frühe Zeitalter« und »Anthropologische Relikte«. Dieses letzte Schild hing über dem einzigen Tisch im Goranischen Museum für Naturgeschichte, der nicht mit Steinen bestückt war, sondern mit einem Sammelsurium aus Krimskrams, das aussah, als wäre es ein paar Dutzend unterschiedlichen Reisenden aus den Taschen gefallen. Der ganze Plunder und all die vergessenen Schmuckstücke wurden präsentiert, als würde es sich um kostbare Schätze handeln. Und vielleicht waren sie ja genau das für den Museumsdirektor, dachte Roveg.
Draußen kam jemand angerannt – vier Pfoten, die lautstark über den Weg trappelten. Das Geräusch kam näher, bis schließlich Tupo mit Getöse durch den Vorhang stürmte, wobei ser beinahe mit den Füßen in den Perlenschnüren hängen blieb. Schlitternd kam ser zum Stehen.
»Willkommen in meinem Museum«, japste Tupo. In sirer Stimme lag eine Freude, die vollständig gefehlt hatte, als Tupo Roveg in der Luftschleuse begrüßt, ihm im Garten Kuchen angeboten oder etwas heruntergeleiert hatte, das die Idee sirer Mutter gewesen war. Doch die Freude war irgendwie gedämpft, so als wäre das Kind außer Atem. (Lungen hatten ihre Grenzen, wie Roveg inzwischen wusste; er war sehr dankbar dafür, wie viel vernünftiger die Atemwege in seinem Bauchraum angelegt waren.) »Falls Sie … falls Sie irgendwelche Fragen haben … Oje, warten Sie kurz.« Tupo legte den Kopf in den Nacken und rang nach Atem. »Ich war gerade in der Küche, als ich gesehen habe, wie Sie das Museum betraten.«
»Verzeihung, hätte ich dich zuerst fragen sollen?«, fragte Roveg. Er hatte vor dem Eingang kein Schild gesehen, auf dem etwas über Öffnungszeiten oder Preise oder dergleichen stand. Wenn er sich hinsichtlich des Five-Hop in einem sicher war, dann war es die Tatsache, dass es für alles ein Schild gab.
»Äh, nein, das Museum ist immer … es ist immer geöffnet.« Langsam ging Tupos Atem ruhiger. »Es ist nur … Es kommen nicht oft Leute hierher, deshalb war ich aufgeregt.« Ser bog den Hals wieder zu einem schicklichen Winkel und sah Roveg mit großen, beflissenen Augen an. »Möchten Sie eine Führung?«
Eigentlich hatte Roveg nur einen kurzen Blick hineinwerfen wollen, und der nach dem Betreten gewonnene Eindruck hatte in ihm nicht das Verlangen ausgelöst, länger zu bleiben. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Jetzt hatte er nur ein Ziel, und das war, dem Museumsdirektor seine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Alles andere wäre abscheulich gewesen.
»Tupo«, sagte er, »ich hätte sehr gern eine Führung.«
Das Kind begann beinahe zu leuchten. »Cool«, sagte es. »Waren Sie schon mal in einem Museum für Naturgeschichte?«
»O ja.«
»Es ist echt schwer, auf Gora ein Naturgeschichtsmuseum zu leiten.«
»Weil sich so schwer vorhersagen lässt, wann Besucher kommen?«
»Nein, weil es hier kein Leben gibt.«
»Ah«, sagte Roveg. »Ja, ich kann verstehen, dass das beim Studium der Naturgeschichte ein Problem darstellt.«
Das Laru-Junge blickte auf die Ausstellungsstücke und schnaubte. »Alle haben so große Erwartungen«, sagte ser mit dem Ernst einer sehr viel reiferen Person. »Jeder glaubt, dass es in Naturgeschichtsmuseen Fossilien oder Pflanzen oder Insekten und so was geben müsste, aber ich kann Ihnen versichern, das stimmt nicht.« Stolz deutete ser auf die Ausstellungsstücke. »Steine sind Natur, und sie haben eine Geschichte, und sie sind großartig.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber … Ich habe trotzdem eine Frage.«
»Okay.«
»Und bitte sei nachsichtig mit mir, schließlich bin ich kein Wissenschaftler.« Roveg sprach ebenso höflich, wie er es auch in einem beruflichen Kontext getan hätte. »Wenn du in erster Linie Gesteine erforschst, ist dein Fachgebiet da nicht eher … Geologie?«
Tupo wippte zustimmend mit dem Hals. »Das hat Mom zuerst auch gesagt, aber die Sache ist die: Ich habe jede Menge Naturgeschichtsmuseum-Sims gespielt, und alle haben die gleiche Story.« Tupo erhob sich auf die Hinterbeine, um mit beiden Vorderpfoten gestikulieren zu können. »Am Anfang steht die Entstehung des Planeten. Wie er sich überhaupt erst entwickelt hat.« Ser zeigte auf den ersten Tisch, der mit einem aus Stöckchen und Kugeln bestehenden Modell des Tren-Systems bestückt war – keine schwierige Aufgabe, wenn es nur zwei Himmelskörper in der Umlaufbahn gab – sowie einem uralten Scribus, auf dem in Dauerschleife die Pixelprojektion der Planetengenese lief. Tupo machte eine entschuldigende Kopfbewegung zu dem Scribus hin. »Von Tren habe ich kein Video gefunden, deshalb ist das ein Video von Hagarem. Aber Planeten entstehen alle auf die gleiche Weise.«
»Ah ja, verstehe«, sagte Roveg. »Es ist keine Schande, ein anderes Video zu benutzen. Dieses hier drückt aus, was du sagen willst. Ein guter Instinkt für Didaktik, würde ich sagen.«
Tupo strahlte und sprach weiter. »Okay, dann sind da noch Steine.«
Sterne, ja, da waren Steine, allesamt sorgfältig beschriftet und datiert. Schiefer, 158 /306 , Finder: Tupo . Gneis, 6 /305 , Finder: Tupo. Kalkspat, 184 /307 , Geschenk der Aaskhiset-Federfamilie . »Wer ist denn die Aaskhiset-Familie?«, fragte Roveg.
»Ihnen gehört das Tet-Haus nördlich von hier«, sagte Tupo. »Wir sind so was wie Nachbarn. Mom gibt ihnen Rabatt auf Treibstoff, und sie geben ihr Rabatt auf … ähm … keine Ahnung. Ich darf noch nicht dorthin.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
»Weil es dort Sex gibt.«
»Ja, ich bin mir darüber im Klaren, was ein Tet-Haus ist, danke sehr.«
»Für gewöhnlich kommt Hirikk hierher, um Treibstoff zu kaufen, und er bringt mir immer coole Steine mit, die man dort drüben außerhalb der Kuppel findet. Er ist nett. Wie auch immer, von Steinen kann man sehr viel lernen.« Tupo schwieg erneut und starrte auf seine riesige Sammlung, sichtlich überwältigt. »Wissen Sie, was Vulkangestein ist?«
»Ja.«
»Und wie steht’s mit Sedimentgestein?«
»Ja, das auch.«
»Okay.« Tupo schwieg erneut, er schien ratlos zu sein. »Na schön, dann können Sie einfach die Plaketten lesen.«
»Das werde ich tun«, sagte Roveg. Damit meinte er, dass er sie überfliegen würde, aber das behielt er für sich.
»Oh, und außerdem können Sie …« Tupo lief zu einem Tisch an der Seite, auf dem ein altmodischer tragbarer Datenserver sowie ein Bildschirm standen, die beide aussahen wie heißgeliebte Erbstücke. »Hier haben Sie Zugriff auf die Infodateien, falls Sie etwas nachsehen wollen, das Sie nicht wissen.«
»Ah, Ihr betreibt hier einen Datenserver!«, sagte Roveg anerkennend. »Großartig. Ich habe eine ganze Reihe von Freunden, die ehrenamtlich an den Infodateien mitarbeiten, und sie sind immer auf der Suche nach Leuten, die Server unterhalten wollen. Das macht das ganze Netz robuster, wie du sicher weißt.«
»Ja. Mir ist klar, dass ich einfach meinen Scribus nehmen und über die Linkings auf die Dateien zugreifen könnte, aber das hier finde ich cooler.«
»Es ist cooler. Und nachdem du zurzeit ohnehin nicht an die Linkings herankommst, hast du zumindest das hier, hmmm?« Er sah sich nach den anderen Tischen um. »Okay. Erklär mir, wie Steine in diese allgegenwärtige Story passen, die man in jedem Museum findet.«
»Na ja, okay, also … Da ist ein Planet. Er ist voller Steine, und die Steine erzählen einem alles Mögliche darüber, wie es früher auf dem Planeten war. Auf Gora gab es eigentlich früher gar nichts. Na gut, irgendwann mal gab es Vulkane, aber jetzt nicht mehr. Sie sind erloschen. Und es gab hier keinen Tropfen Wasser, deshalb haben wir hier nicht allzu viele Arten von Steinen. Auch wenn wir ein paar ganz hübsche von dort haben, wo früher die Vulkane waren. Schauen Sie, das hier ist mein Lieblingsstein.« Tupo nahm ein unpoliertes Prachtstück und hielt es Roveg hin – schmutziges Blau mit schwarzen Sprenkeln.
»Ein schönes Stück«, sagte Roveg. »Hast du mal darüber nachgedacht, ihn zu polieren?«
»Keiner von meinen Steinen ist poliert«, sagte Tupo entschieden. »Das reißt den Stein aus seinem Kontext, und dann wissen die Leute nicht mehr, wie er wirklich aussieht.« Ser schwieg. »Und außerdem habe ich nicht das Zeug, das man zum Polieren braucht.«
»Verstehe.«
»Okay, in anderen Museen hat man abgesehen von den Steinen Ausstellungsstücke über das Leben. Und der Punkt ist, es gibt Leben auf Gora. Es ist nur nicht hier entstanden.« Tupo deutete auf den Tisch mit den anthropologischen Relikten. Roveg sah ein kaputtes harmagianisches Piercing, eine leere Flasche Weißdüne und eine makellose Aandrisk-Feder, die das Kind vermutlich geschenkt bekommen hatte. »Es ist Naturgeschichte«, erklärte Tupo. »Auf Gora hat sich Leben ausgebreitet, nur nicht auf die Art … nur nicht auf die Art, die normalerweise damit gemeint ist.«
Roveg begann zu begreifen, was Tupo sagen wollte. »Du meinst, dass du deine Sammlung Naturgeschichte und nicht Geologie nennst, ist legitim, weil sich hier tatsächlich Leben niedergelassen und dadurch entscheidend zur Geschichte des Planeten beigetragen hat.«
»Ja. Ganz genau.«
»Tupo, ich muss sagen, dass ich zwar noch nie von dieser Sichtweise gehört habe, aber sie gefällt mir sehr. Du solltest irgendwann eine Doktorarbeit darüber schreiben.«
Tupo schnitt ein Gesicht. »Ich hasse Schreiben.«
»Nun, dann bleib beim Kuratieren, denn das hier ist ein sehr schönes Museum.«
Das Kind scharrte mit den Pfoten. »Es ist ganz okay«, murmelte es glücklich.
Roveg wandte den Blick von der Feder ab, als ihm ein überraschend vertrauter Gegenstand ins Auge fiel. »Ah!« Er streckte eines seiner Beine danach aus und nahm das dreidimensionale Keramikobjekt vom Tisch. »Du hast einen Lyrikstein! Wunderbar!«
Das Kind blinzelte ihn an. »Einen was ?«
Roveg betrachtete das Etikett, das Tupo unter dem Stein befestigt hatte: Unbekannte Skulptur, 248 /306 , Finder: Tupo . »Woher hast du den?«, fragte Roveg.
»Oh«, sagte Tupo und betrachtete den Fußboden. »Vor einiger Zeit sind ein paar andere Quelin hier gewesen, und die haben ihn im Garten vergessen.«
Roveg versuchte, Tupos Blick aufzufangen. »Hast du ihn deiner Sammlung einverleibt, bevor oder nachdem sie abgereist sind?«
Das Kind interessierte sich auf einmal brennend für ein Gesteinsbröckchen neben seiner Vorderpfote. »Ähm … na ja …«
»Ich bin nicht deine Mutter, Tupo«, sagte Roveg. »Du könntest zwar immer noch versuchen, es ihnen per Maildrohne zurückzuschicken. Aber Diebstahl hat in vielen Museen eine lange, stolze Tradition, die Entscheidung liegt also bei dir.« Er drehte den Lyrikstein zwischen den Zehen. Er war ganz reizend gefertigt – so etwas bekam man mittlerweile in jeder Touristenfalle, aber dennoch allerliebst. Hoffentlich war der frühere Besitzer nicht allzu traurig über den Verlust. »Du weißt also nicht, was das ist?«
Tupo streckte rasch die Zunge heraus, die Körpersprache der Laru für Nein .
»Weißt du, wie Quelin-Schrift funktioniert?«
Wieder blitzte die Zunge auf.
Roveg legte den Lyrikstein hin und sah sich nach etwas Brauchbarem um. Ein Glasröhrchen mit Erde – ja, das würde gehen. Er ging zu dem Frühe-Epochen -Tisch und zeigte auf die Röhrchen. »Wäre es in Ordnung, wenn ich eines davon darauf ausleeren würde?«, fragte. »Hinterher würde ich natürlich sauber machen.«
»Äh … okay?«
»Danke«, sagte Roveg. Er kippte die Erde auf den Tisch. »Könntest du mir vielleicht helfen? Das hier muss so glatt wie möglich sein, und ich glaube, deine Pfoten sind für diese Aufgabe sehr viel besser geeignet.«
Tupo kam seiner Bitte nach, wobei er verwirrt, aber gespannt aussah. Ein paar Sekunden später präsentierte er Roveg ein kleines Fleckchen glatte Erde.
Roveg wölbte die Rüschen. Ja, das würde genügen. Er streckte eines seiner rechten Brustbeine aus und zog mit der ausgestreckten Zehe eine saubere, senkrechte Linie in die Erde, teilte so die provisorische Leinwand säuberlich in zwei Teile. Dann tippte er mit jeweils einem rechten und linken Brustbein feinsäuberlich Kerben hinein, wobei er neben der Mittellinie begann und dann waagerecht zu beiden Seiten hin weitermachte. Er vollendete eine Zeile, dann eine weitere darüber, dann noch eine. Wenig später lehnte er den Rumpf zurück und sah Tupo an. »Was siehst du?«, fragte er und zeigte auf die Muster.
»Punkte«, sagte Tupo.
Zufrieden dehnte Roveg seinen Unterleib. »Für dich ja«, sagte er. »Für mich sind es Sätze. Das ist die Art, in der wir Quelin schreiben.« Er deutete noch einmal auf die Zeichnung. »Schau genau hin. Was siehst du?«
Das Kind kniff die Augen zusammen und rieb fieberhaft die Lippen aneinander, während es den Kopf dicht über die Erde hielt. »Sie sind auf beiden Seiten gleich. Oder … Moment mal.« Noch stärker zusammengekniffene Augen. »Irgendwie sind sie unterschiedlich.«
»Du bist klug, Tupo. Ja, genauso ist es.« Roveg deutete auf die Sätze. »Alles, was ich auf der linken Seite geschrieben habe, hat wörtlich die gleiche Bedeutung wie das, was ich auf der rechten Seite geschrieben habe. Es sind die gleichen Worte. Aber jede Seite steht für ein anderes Sprechwerkzeug. Im Moment spreche ich mittels der Stimmbänder in meiner Kehle.« Er tippte auf die Stelle an seinem Exoskelett, unter der sich seine Speiseröhre befand. »Wenn ich Klip spreche, benutze ich nur die. Aber wenn ich Tellerain spreche …«
»Das ist Ihre Sprache«, unterbrach ihn Tupo.
»Richtig. Wenn ich Tellerain spreche, benutze ich sowohl meine Kehle als auch mein … Es gibt kein Klip-Wort dafür. Das … harte Gebilde im hinteren Teil meines Mundes. Das bringt diese Geräusche hervor.« Er klapperte in schnellem Stakkato mit seinen Mundwerkzeugen und produzierte dabei ein lautes Klappern, das nichts als Kauderwelsch ergab.
Tupo war entzückt. »Machen Sie das noch mal.«
Roveg folgte der Aufforderung; das Kind lachte. Roveg nahm seinen Stegreifunterricht wieder auf. »Tellerain besteht gewissermaßen aus zwei Sprachen auf einmal. Nehmen wir das Wort für …« Er sah sich im Museum um. »Stein. Welches Wort bedeutet ›Stein‹ auf Mululo?«
»Ich spreche kein Mululo.«
»Nicht?« Roveg war überrascht. Dass Ouloo ihrem Kind ihre offizielle Muttersprache nicht beibrachte, schien ihm sehr extrem.
»Ich kenne vielleicht … ein paar Wörter. Aber mit Mom spreche ich Piloom.«
»Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass deine Mutter aus Ulapot stammt.« Eine kleine, landwirtschaftliche Laru-Kolonie im Aandrisk-Territorium. Er wusste zwar von der dortigen Regionalsprache, hatte sie jedoch noch nie gesprochen gehört.
Tupo war überrascht. »Sonst kennt nie jemand Ulapot.«
»Natürlich kenne ich Ulapot. Von dort wird das beste Rotschilf der gesamten GU exportiert. Also, was heißt ›Stein‹ auf Piloom?«
»Oelo« , sagte Tupo.
»Interessant. Auf Tellerain gibt es nur ein Wort für ›Stein‹, aber es wird auf zwei verschiedene Arten gebildet. Durch meine Kehle gesprochen heißt es trihas . Mit meinen … anderen Werkzeugen gesprochen, lautet das Wort …« Er ließ ein scharfes Klappern hören. »Wenn man die beiden Geräusche übereinander legt, erhält man …« Er demonstrierte das zusammengesetzte Wort.
Tupo versuchte das Klappern mit der Zunge nachzuahmen und scheiterte kläglich. »Ich kann das nicht.«
»Du hast nicht die Mundwerkzeuge dafür. Kein Nicht-Quelin hat sie, und deshalb kann niemand außer uns richtig Tellerain sprechen, genauso wie niemand richtig Hanto oder die Farbensprache sprechen kann. Es gibt eine Handvoll andere Wesen, die es versuchen, aber die sprechen vereinfachtes Tellerain, bei dem nur die Stimme benutzt wird.«
»Aber das ist dann nicht … das ist dann nicht das ganze Wort«, sagte Tupo.
»Die Bedeutung wird transportiert. Wenn du trihas sagen würdest, wüsste ich, dass du Stein meinst. Aber dabei fehlt dann der …« Wie sollte er das einem Kind erklären? »Der Geschmack. Kennst du das, wenn sich manche Wörter einfach besser anfühlen als andere?«
»Ich glaube schon.«
»Nun, ich kann die Art, wie sich ein Wort anfühlt, stark verändern, indem ich einfach das Klappern verändere. Hör noch mal zu, wie ich trihas sage.« Roveg sprach das Wort ganz aus, mit Kehle und Mundwerkzeugen gemeinsam. »Das ist die langweilige Art, es auszusprechen. So würde man es aus einem Wörterbuch-Feed vorlesen. Aber wenn ich dir jetzt sagen wollte, dass der betreffende Stein wunderschön ist, würde ich es so aussprechen: trihas .« Diesmal kam das Klappern von weiter hinten im Mund und klang ein wenig schärfer, ein wenig tiefer. »Aber wenn ich mich über diesen Stein ärgern würde, weil ich gerade darüber gestolpert wäre und mir die Zehen angestoßen hätte, würde ich trihas sagen.« Das begleitende Klappern war genau das gleiche wie zuvor, nur härter, heftiger. Roveg übertrieb das Geräusch absichtlich, wie der Bösewicht in einer Oper, damit Tupo den Unterschied deutlich hören konnte. Wieder zeigte er auf die Schrift in der Erdfläche. »Verstehst du – die linke Seite unserer Schrift beschreibt die Kehllaute, die rechte die Mundgeräusche. Auf den ersten Blick hast du recht, sie sehen aus wie Spiegelbilder, weil jede Seite für die gleichen Wörter steht. Aber die Unterschiede, die du siehst, zum Beispiel, dass dieser Buchstabe höher ist als sein Gegenstück – das sind Anweisungen. Die geben das Gefühl wieder, das ich vermitteln möchte.«
»Und was steht da?«, fragte Tupo ungeduldig.
Roveg führte zwei Beine an den Wörtern entlang, wobei er jeweils auf das Wort zeigte, das er gerade übersetzte. »Ich heiße Roveg. Ich bin hier bei Tupo, einem …« Er unterbrach sich und suchte nach den richtigen Klip-Wörtern. »Ser führt ein angesehenes Museum, das einen Lyrikstein in der Sammlung besitzt.« Er sah das Kind freundlich an. »Das ist die wörtliche Bedeutung. Aber wenn man das Gefühl hinzuaddiert, das ich geschrieben habe, steht da, dass ich Tupo für brillant halte und die Sammlung sehr bewundere.«
Tupo war so erfreut, dass sir Fell sich bauschte.
»Also«, fuhr Roveg fort, »dein Lyrikstein.« Er griff danach. »Siehst du?« Er hielt ihn so, dass Tupo direkt auf den vorderen Rand des Dreiecks blickte. »Rechte Wörter, linke Wörter. Das ist eine sehr alte Art zu schreiben. Vor den Scriben und Bildschirmen und dergleichen haben wir auf Tontafeln geschrieben. Wer etwas schreiben wollte, goss nassen Ton in eine flache Form und schrieb seinen Text, bevor der Ton trocken war. Diese Fertigkeit erfordert viel Übung, aber es ist immer noch die schönste Art zu schreiben, denn – schau.« Er brachte Tupo dazu, sein Gesicht näher zu dem Stein zu führen. »Siehst du, wie sich bei jedem Buchstaben die Tiefe verändert?«
»Ich glaube schon«, sagte Tupo. »Oh. Ja.«
»Dabei verändert sich auch das Wort. Es handelt sich um genaue Anweisungen, wie das Gedicht vorgetragen werden sollte.«
»Und was steht da?«, wollte Tupo wissen.
Roveg drehte den Stein zu sich um und begann zu übersetzen. »Okay, auf Klip reimt es sich nicht, und das Versmaß ist auch falsch, aber es fängt so an: Wenn du weit weg bist, denk an deine Heimat …«
»Nein, nein«, sagte Tupo und schüttelte den Hals. »Ich will hören, wie es richtig klingt.«
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Sie können es mir hinterher erzählen.« Tupos Pfoten tanzten. »Ich will Sie noch mal klappern hören.«
Roveg lachte. »Na schön«, sagte er. Er hob den Stein ins Licht und begann zu lesen.
Wenn du weit weg bist, denk an deine Heimat
und lass dich von ihr trösten
denk an uns andere, wenn du allein bist
vergiss niemals die guten Zeiten
vergiss nicht den Gesang, vergiss nicht die Freude
vergiss nicht den purpurnen Himmel
vergiss nicht die dunklen Gesichter, so alt, so lieb
Vergiss nicht die Kinder, deren …
Der Vers blieb Roveg im Mund stecken und wollte nicht heraus. Er hatte gleich gewusst, welches Gedicht es war – der Abschied des Liebenden aus dem zweiten Akt von Sommerleid , einer der auf Vemereng am häufigsten aufgeführten Klassiker – aber es war ewig her, seit er es gelesen hatte. Es gab einen Grund, weshalb er Tellerain mied, genau wie klassische Literatur, und ganz besonders Gefühlsduseleien wie diese hier. Er war so damit beschäftigt gewesen, nett zu Tupo zu sein, dass er nicht bedacht hatte, in welche gefährlichen Gefilde er sich törichterweise begab. Und jetzt steckte er dort fest, ohne Aussicht, wieder herauszukommen.
»Das ist alles?«, fragte Tupo und reckte hinter dem Stein den Kopf hoch.
»Ja, das ist alles«, log Roveg. Er gab den Stein Tupo zurück, legte ihn in sire geöffneten Pfoten.
»Das hat echt cool geklungen«, sagte Tupo. »Aber … irgendwie auch unheimlich.« Er schwieg kurz. »Mom sagt, ich soll so etwas nicht sagen.«
Roveg antwortete nicht, obwohl er es dem Kind nicht übel nahm. Er war mit den Gedanken woanders, und das Museum bot ihm nicht mehr genug Ablenkung. »Vielen Dank für die Führung, Tupo. Ich freue mich schon darauf, mir deine Ausstellungsstücke später genauer anzusehen, aber jetzt sollte ich erst einmal zu meinem Shuttle zurückkehren. Ich bin ein bisschen müde und könnte einen Snack gebrauchen.«
»Ich kann Ihnen einen Snack besorgen, wenn Sie möchten«, sagte das Kind seiner Gastgeberin.
»Nein, danke. Ich … Ich glaube, ein kurzes Schläfchen in meinem Shuttle wird mir guttun.« Er wandte sich zum Gehen, dann hielt er inne. Vergiss nicht die Kinder, deren Panzer noch weiß ist. Er drehte sich zu Tupo um. »Das ist wirklich ein ganz außerordentliches Museum«, sagte er. »Gora kann sich glücklich schätzen, dich zu haben.«
Er ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und ließ das Kind mit seinen geraubten Schätzen allein.