»Glaubt ihr, es geht ihr gut?«, fragte Ouloo und setzte sich, während sie beobachtete, wie Captain Tem zum Shuttlepad zurückging.
»Auf mich wirkt sie wie jemand, der selbst auf sich aufpassen kann«, sagte Speaker. Sie ging auf ihrem Scribus die Namen von Bands durch, als würde sie ein Gewürzregal durchwühlen. Da waren Orange Fizz, Fünf auf Fünf, Augment – Ah, dachte sie. Sehr gut. »Tupo, ich will noch mehr von deinen coolen Moves sehen«, rief sie, während sie den Song auswählte.
Stampfende Beats und das ansteigende Wimmern von Gitarren erfüllten die Luft und entzündeten augenblicklich ein Feuer in Speakers Unterleib. Roveg ließ eine laute Abfolge anschwellender Klappergeräusche hören – die lungenlose Version eines Jauchzers. »Ja!«, rief er, während sein Rumpf sich im Takt der Musik durchbog. »Oh, großartig , Speaker. Sie haben einen hervorragenden Geschmack.«
Speaker wurde ganz warm vor Stolz. »Sie kennen Augment?«
»Aber natürlich. Ich habe sie vor zwei Standards beim Release einer Sim live gesehen.«
»Wow«, sagte Speaker neidisch. »Da wäre ich gern dabei gewesen.«
Roveg ließ sich in die Musik fallen. Die Beinpaare an seinem Oberkörper bewegten sich jeweils synchron, aber jedes Paar auf eigene Weise. »Nun, falls Sie mal in der Nähe von Chalice sind, melden Sie sich. Wir könnten ein paar Bands kommen lassen, ein paar interessante Leute einladen und eine richtige kleine Soirée abhalten.« Die Beine an seinem Unterkörper gesellten sich zu der Party und marschierten mit mathematischer Präzision auf der Stelle.
Speaker wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie fragte sich, ob das zu den Nettigkeiten gehörte, die Roveg jedem zuteilwerden ließ. Zu jemandem, dessen Zuhause groß genug für Partys mit Live-Bands war, hätte es gepasst, dass er mit nichtssagenden Einladungen um sich warf, nur aus Höflichkeit und um anzugeben. Doch so verschwenderisch Roveg auch sein mochte, sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er aufrichtig war und sein Angebot ernst meinte. Vielleicht gab er ja gar nicht an. Vielleicht war er einfach nur jemand, der wusste, dass er viel besaß, und seinen Besitz gern mit anderen teilte. »Vielleicht tue ich das ja«, sagte sie. Ihre Antwort war so genauso wenig beiläufig wie seine. Wenn es ihm ernst war, dann galt das auch für sie.
»Drehen Sie die Musik lauter!«, schrie Tupo und stampfte in einem wilden Rhythmus, als wollte ser ein Feuer austrampeln.
»Ja!«, rief auch Roveg.
»Aber nicht zu laut«, bat Ouloo. Es war eine gutmütige Bitte, aber es lag auch der Nachdruck von jemandem darin, der sich schon den ganzen Tag mit einem lauten Kind herumschlug.
Speaker warf Ouloo einen verständnisvollen Blick zu und stellte die Musik einen Tick lauter. Sie lachte, als sowohl Pfoten als auch gepanzerte Beine darauf reagierten und sich noch wilder bewegten. Die Tanzstile von Quelin und Laru passten denkbar schlecht zueinander, und dennoch ergab der Anblick der beiden auf seltsame Weise Sinn.
Ouloo stand nicht auf, um sich ihnen anzuschließen, ließ jedoch im Sitzen Kopf und Nacken wippen, während sie die albernen Bewegungen ihres Sprösslings mit unverhohlener Bewunderung beobachtete. »Sterne, ich liebe dieses Kind«, seufzte sie.
»Sie beide sind ein interessantes Paar«, sagte Speaker, »wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Ouloo.
»Nun, Sie sind nur zu zweit, nicht wahr?«
»Jupp«, sagte Ouloo zufrieden. »Wir haben nur uns.«
»Darf ich fragen, weshalb?« Speaker hatte zwar noch nicht viel Zeit mit Ouloos Spezies verbracht, aber sie hatte ihre Behausungen in den Raumhäfen gesehen: große Gemeinschaftsgebäude, die niemandem gehörten und für alle Laru im Viertel da waren (eine Regelung, die Speaker mühelos verstand). Und doch waren hier nur Ouloo und Tupo, buchstäblich in einer Blase, in der niemand außer ihnen war. In mancher Hinsicht erinnerten sie Speaker an Tracker und sie selbst, aber sie war sicher, dass die Umstände nicht unterschiedlicher hätten sein können.
Ouloo überlegte kurz. »Sie sprechen keine unserer Sprachen, nicht wahr?«, fragte sie.
»Nein, leider nicht«, sagte Speaker. »Ich weiß nur, dass sie viele Vokale haben.«
Ouloo lachte herzlich. »Das stimmt«, sagte sie. »Sie haben zwar nicht viel gemeinsam, aber eines trifft auf alle zu: Wir haben kein Wort für Familie . Wir haben jede Menge Wörter für Gruppen – für alle Arten von Gruppen, Leute, die oft Zeit miteinander verbringen …« Sie verstummte.
»Was?«
»Ich weiß nicht, wie man solche … Wörter übersetzt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine Klip-Übersetzung dafür gibt.«
Speakers Interesse war geweckt; solche Wörter mochte sie am liebsten. »Was sind denn das für Begriffe?«
»Moh . Das ist eine besondere Art von Substantiven, und es bedeutet …« Ouloo runzelte die Stirn. »Gruppenstimmung oder so ähnlich? Stimmung passt nicht ganz. Gruppengefühl . Oder …« Sie wippte nachdrücklich mit dem Kopf, als wäre sie zu einem Schluss gekommen. »Gruppengeschmack . Das passt.«
»Gruppengeschmack«, sagte Speaker und ließ sich den neuen Begriff auf der Zunge zergehen. »Nennen Sie ein Beispiel.«
»Na ja, so etwas wie … eine dynamische Menge, dafür haben wir ein moh . Zum Beispiel die Leute auf einem großen Fest. Oder eine kleine Gruppe guter Freunde. Eine Gruppe junger Leute, die zusammen Quatsch machen. Eine Gruppe, die gern Sex miteinander hat. Eine Gruppe, die innerhalb eines Ortes für sich bleibt. Das sind alles Arten von moh . Ist das verständlich?«
»Ja. Das gefällt mir.«
»Gibt es so etwas auf Ihreet?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir«, sagte Ouloo. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der moh hat. Aber verstehen Sie, es gibt kein moh für Familie, weil wir dieses … Konzept nicht kennen. Ich weiß, dass Sie alle diese Unterteilungen haben, in vielen verschiedenen Ausprägungen, aber für uns gilt das nicht. Das einzige Konzept von Familie, das Laru für ihresgleichen haben, sind andere Laru . Unsere Spezies ist eine Familie. Auf dieser Ebene können wir etwas damit anfangen, aber alles, was kleiner ist als das, gibt es traditionell bei uns nicht.«
»Verstehe«, sagte Speaker. Sie drehte das Konzept im Geist hin und her. »Das … überwältigt mich ein bisschen. Aber nicht auf eine schlechte Art.«
»Was meinen Sie damit?«
»Für mich ist eine Familie die Gruppe innerhalb des eigenen Schiffes, aber dabei gibt es … verschiedene Abstufungen. Am wichtigsten sind Geschwister. Vor allem Zwillinge – das Geschwister, mit dem man gemeinsam ausgebrütet wurde. Der Zwilling ist …« Die andere Hälfte von einem selbst , wollte sie sagen, aber die Worte lösten sich in nichts auf, als die Sorge, von der sie sich so mühevoll abgelenkt hatte, die Gelegenheit nutzte und an die Oberfläche schnellte.
Ouloo streckte eine Pfote aus und legte sie auf Speakers Anzug. Eine tröstlich gemeinte, aber leere Geste angesichts der Tatsache, dass sie Speaker nicht wirklich berührte, aber Speaker nahm die Absicht dennoch dankbar zur Kenntnis. »Roveg hat mir von dem Sib-Turm erzählt«, sagte Ouloo freundlich. »Ich habe auf meinem Scribus eine Benachrichtigung eingerichtet, damit ich sofort erfahre, wenn die Verbindung wieder funktioniert. Sie benachrichtige ich dann als Erste. Ich weiß, dass das nicht viel ist, aber …«
»Doch, das hilft mir«, sagte Speaker. Und es half ihr tatsächlich. Ouloo machte auf sie den Eindruck von jemandem, der einen wegen so etwas mitten in der Nacht wecken würde, was genau das war, was Speaker sich wünschte.
Ouloo wippte zustimmend mit dem Hals. »Okay. Geschwister stehen bei Ihnen also an erster Stelle. Und danach …«
»Danach kommt die Mutter. Die Mutter ehrt und respektiert man immer, selbst wenn man sie nicht mag.«
»Hmmm!«, sagte Ouloo. »Nicht schlecht. Das sollten Sie Tupo erzählen.«
Speaker lachte. »Abgesehen davon sind alle Besatzungsmitglieder eines Schiffes gleichwertige Familienmitglieder. Was Sie über Ihr Volk erzählt haben – über Ihre Auffassung von Familie –, fühlt sich genauso an wie das, was ich gegenüber den Schiffskameraden empfinde, mit denen ich aufgewachsen bin, nur dass es bei Ihnen Millionen sind. Milliarden. Oder wie viele es eben von Ihnen gibt.«
»Ich habe keine Ahnung, wie viele es von uns gibt. Wir sind so sehr in alle Richtungen zerstreut, dass man es unmöglich sagen kann. Aber ja, das passt. Laru gehören zur Familie.« Sie schwenkte ihren Kopf herum und sah zu ihrem Kind hinüber. »Und deswegen lebe ich nicht mit ihnen zusammen.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Speaker.
Ouloo legte den Kopf zurück und sprach ins Leere. »Das, was bei uns dem Konzept Familie am nächsten kommt, ist die Redewendung: Laru sind Blut, und Laru sind Knochen, und Blut und Knochen sind eins. Das hört sich auf Klip zwar nicht so griffig an, aber ich denke, die Bedeutung wird klar. Auf Piloom entsteht dabei ein Bild, bei dem sich die Laru von allen anderen unterscheiden. Dieses Konzept war sinnvoll, solange wir auf unserem Planeten noch allein waren, die einzige uns bekannte intelligente Spezies. Es bedeutet, dass wir uns umeinander kümmern und voneinander lernen und alle, mit denen wir zu tun haben, gleichermaßen lieben müssen – selbst wenn wir sie, wie Sie sagen, nicht sonderlich gut leiden können. Aber … o Sterne, wie soll ich das erklären … dabei schwingt etwas mit, das sich nach … Abschottung anfühlt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Spezies sich abschottet«, sagte Speaker. Jedes Laru, das sie je getroffen hatte, war mit Haut und Haar im multispeziären Leben aufgegangen. Sie betrachtete die Laru als leidenschaftliche Immigranten, wo sie auch hingingen.
»Ich weiß, was Sie meinen, aber … ah, jetzt hab ich’s.« Ouloo stampfte mit einer Pfote auf, um ihre Worte zu unterstreichen. »Laru sind Blut und Knochen und so weiter, aber man würde diese Redewendung niemals auf andere Spezies anwenden. Man würde … das einfach nicht sagen. Es würde sich falsch anhören. Und wir verwenden den Begriff Spezies auch nicht für uns selbst. Es gibt Laru, und Laru sind einfach … Laru. Spezies sind … die anderen. Sie , im Gegensatz zu uns.«
»Laru … sind also Familie, und andere Spezies sind Freunde?«, fragte Speaker.
»Ja! Das ist es. Und ich halte das für falsch. Völlig falsch! Wenn wir hier draußen sind, um von Ihnen allen zu profitieren und so viel wie möglich zu lernen und zu Ihnen zu gehören und uns ein Beispiel an Ihnen zu nehmen, dann müssen Sie ebenfalls Blut und Knochen sein. Sie müssen ebenfalls Familie sein. Ich will, dass Tupo das versteht – wirklich versteht. Und deswegen hielt ich es für das Beste, die Laru ganz aus der Gleichung herauszunehmen, um sihm eine Kindheit nur mit anderen Spezies zu schenken. Was könnte eine bessere Erziehung sein?«
»Kann sein«, sagte Speaker langsam. Sie war zwar nicht ganz überzeugt von dem Konzept, wollte Ouloo aber nicht verletzen, nur weil sie ihre Meinung nicht teilte. »Nur wird ser dafür nie das Leben der Laru kennenlernen.«
Ouloo schnaubte und wischte den Einwand weg, als wäre er ein lästiges Insekt, mit dem sie schon früher zu tun gehabt hätte. »Natürlich wird Tupo das. Oder vielmehr kann ser es, wenn ser will. Irgendwann wird ser erwachsen sein und hingehen, wo ser hingehen will. Wenn ser bei den Laru leben will, kann ser das tun, ganz klar. Aber bis dahin wird ser alles lernen, was es über Sie zu lernen gibt. Ich meine – sehen Sie doch nur!« Stolz wies sie auf ihr Kind, das in der blaugepanzerten Gesellschaft eines lachenden Quelin tanzte, bis es keine Luft mehr bekam. »Was würde Tupo in einem überfüllten Klassenzimmer über interspeziäre Beziehungen lernen, was ser nicht zehnmal besser hier lernen könnte?«
Speaker sann darüber nach. »Ich muss schon sagen, Ouloo, ich hätte nicht erwartet, dass Sie so radikal sind.«
Ouloo strahlte. »Ha!«, sagte sie. »Oh, das gefällt mir. Das merke ich mir.« Für einen Augenblick blieb sie begeistert sitzen, dann stand sie auf und lief zu den anderen hinüber, wobei sie schwankende Tanzbewegungen machte. Roveg ließ einen klappernden Beifallsruf hören, Tupo lachte, und alle drei tanzten noch wilder, eine undefinierbare Anzahl von Gliedmaßen, die den zuvor unberührten Rasen platt trampelten.
Speaker lächelte, drehte die Musik lauter und schloss sich ihnen an.