Das Kind atmete, aber es rührte sich nicht. Die Farben auf dem Scannerbildschirm blieben unverändert. Nur die Pflegerin wechselte jede halbe Stunde – Pei, Speaker, Pei, Speaker. Die Stimmung im Shuttle war angespannt und gedrückt, und Pei wusste nicht recht, ob sie sich wünschen sollte, es möge schneller gehen, damit sie sich dem, was da kam, stellen konnte, oder ob sie lieber Stillstand wollte, bis ihnen eine bessere Lösung einfiel.
Da sie aber ohnehin keinen Einfluss darauf hatte, saß sie neben dem Krankenbett und beobachtete weiter den Bildschirm, auf dem sich nichts tat.
Speaker kam zurück, bevor sie wieder an der Reihe war. »Ich muss mal kurz in mein Shuttle«, sagte sie. »Mein Atemluftvorrat geht zur Neige, und ich brauche etwas zu essen.«
»Ach ja«, sagte Pei. Trotz der Allgegenwärtigkeit von Speakers Anzug hatte Pei bisher noch nicht über die praktischen Implikationen nachgedacht, die es mit sich brachte, wenn man den ganzen Tag darin steckte. »Ja, natürlich.« Die Akarak wollte gehen, aber jetzt kam endlich das heraus, was Pei schon seit Stunden auf der Seele lag. »Hey, ich möchte mich für die Szene im Garten entschuldigen. Es … tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Ich war betrunken.«
Speaker ließ den Anzug stehen bleiben und drehte sich zu Pei um. »Auf mich wirken Sie nicht wie jemand, der seine Meinung ändert, nur weil er betrunken ist.«
Damit lag sie zwar richtig, aber ihr Tonfall ließ Pei aufbrausen. »Ich habe gesagt, es tut mir leid, dass wir gestritten haben. Ich entschuldige mich nicht für meine Ansichten.«
»Ich auch nicht«, sagte Speaker.
»Sterne, kann ich …« Pei spürte, wie ihre Wangen violett anliefen, aber sie beherrschte sich und holte Luft. »Es tut mir leid, dass ich mich in Themen verbissen habe, über die Sie nicht sprechen wollten. Sie wollten nicht darüber reden, und ich … war unfähig, das zu merken. Und ich hätte es merken müssen , auch wenn ich nicht – na ja, es liegt ja auf der Hand, dass wir nicht einer Meinung sind.«
Speaker sah ihr direkt ins Gesicht, ohne zu blinzeln. »Ich halte Sie nicht für schlecht, Captain Tem. Nur wenige Leute sind wirklich von Grund auf schlecht. Und ich kenne Sie ja immer noch nicht. Ich kenne Sie nur etwas besser , nach allem, was ich in den letzten Stunden gesehen habe. Ich glaube, Sie meinen es gut. Ich glaube, Sie wollen anderen Leuten helfen, auch wenn wir sehr unterschiedliche Ansichten haben, was das bedeutete. Aber ich werde nicht so tun, als würde ich das, was Sie tun und wovon Sie ein Teil sind, für richtig halten. Ich kann Sie nicht ansehen und sagen: ›Na ja, als Person mag ich sie, also ignoriere ich mal, was für ein Leben sie führt.‹ Bei so einer Haltung ändert sich nie etwas. Wenn Sie jetzt also erwarten, dass ich mich ebenfalls entschuldige oder sogar meine Worte im Garten zurücknehme – das werde ich nicht tun. Ich habe die Wahrheit gesagt. Daran ändert auch der heutige Abend nichts.«
»Pei.«
Speaker blinzelte. »Wie bitte?«
»Du kannst Pei zu mir sagen«, sagte sie. »Das ist mein Name. So nennen mich meine Freunde.«
»Ich … verstehe nicht. Wir …«
Pei machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir sind keine Freundinnen. Ich weiß nicht mal, ob wir welche sein könnten. Ich schäme mich überhaupt nicht für meine Arbeit, und ich sehe sie ganz anders als du. Zu behaupten, dass ich nicht sauer war, wäre gelogen. Aber ich respektiere dich und deine Ehrlichkeit. Ich respektiere dich dafür, dass du Ansichten aussprichst, von denen du weißt , dass sie nicht gut ankommen – weil du daran glaubst. Und deshalb, und nach allem, was heute Abend passiert ist, wäre es merkwürdig, wenn du mich weiter wie eine Fremde anredest.«
»Was sind wir, wenn wir weder Fremde noch Freunde sind?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Die Akarak dachte darüber nach. »Na schön«, sagte sie. »Pei.« Sie legte den Kopf schief. »Willst du dich vielleicht mal hinlegen, wenn ich wieder da bin? Ich kenne zwar deinen Schlafrhythmus nicht, aber vor allem wegen …« Sie machte eine ausladende Geste zu Peis schimmernden Schuppen hin.
Jetzt war an Pei, verwirrt zu sein. »Was ist damit?«
»Ich … Entschuldige, ich habe keine Ahnung, wie sich euer Fortpflanzungszyklus anfühlt«, sagte Speaker. »Bei meiner Spezies ist es jedenfalls normal, dass man müde ist, wenn man brütet.«
»Bei uns nicht. Wenn, dann bin ich eher ruhelos.«
»Verstehe«, sagte Speaker. »Freust du dich denn auf die Krippe? Auf das Paaren, oder wie auch immer das funktioniert?«
Pei hatte zwar ernst gemeint, was sie über ihren Respekt vor Ehrlichkeit gesagt hatte, aber Sterne, Speaker war wirklich unverblümt. »Dafür, dass wir keine Freundinnen sind, ist diese Frage ziemlich direkt.«
»Wenn du nicht weißt, was wir sind, woher willst du dann wissen, welche Fragen zu direkt sind?«
Eine unangenehme Antwort, aber Pei fiel keine Erwiderung ein, und sie war zu müde, um ihre Gedanken weiter für sich zu behalten. »Die Sache mit dem Paaren ist … schwierig für mich.«
»Wegen deines menschlichen Partners?«
»Nein, Sterne – verdammt, okay, genau das – genau das ist mein Problem.« Pei seufzte. »Ich kann es dir erklären, aber interessiert dich das denn?«
Speaker zuckte mit den Achseln. »Neugierig bin ich schon.«
Pei lachte kurz auf, ihre Wangen verfärbten sich grünlich. »Ich denke, das reicht mir.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sammelte sich. »Wie viel weißt du über die Probleme, die meine Spezies mit solchen Beziehungen hat?«
»Im Grunde nichts, nur dass es ein Tabu ist.«
»Okay. Die Begründung geht so: Je mehr Zeit man mit einer anderen Spezies verbringt, desto mehr wird man kulturell von ihr beeinflusst. Normalerweise gilt das als positiv. Die meisten von uns würden es unterstützen. Aber wenn man diesen Einfluss auf romantische Beziehungen ausdehnt, wird befürchtet, dass man sich in diesem Bereich von den äluonischen Traditionen abwendet, was …«
»… was bedeuten würde, dass man nichts unternimmt, wenn man zu flimmern beginnt.«
»Das fasst es zusammen, ja.«
»Und … Verzeihung, aber wo liegt das Problem, wenn man nichts unternimmt?«
»Fortpflanzung ist nicht einfach für uns, und wir bekommen nur ein- oder zweimal im Leben die Gelegenheit dazu. Ein Flimmern, bei dem man nichts unternimmt, ist eine vergeudete Chance. Eigentlich sogar noch schlimmer. Irgendwie lässt man dadurch alle im Stich.« Pei hatte Schwierigkeiten beim Formulieren. Bisher hatte sie es noch nie mit Worten erklären müssen, und sie bekam die Feinheiten nicht richtig heraus. »Wenn man sein Flimmern verstreichen lässt, hat man versagt. Seiner Spezies gegenüber.«
Speaker dachte darüber nach. »Ist es wegen des Engpasses? Weil ihr beinahe ausgestorben wart?«
»Offen gestanden weiß ich es nicht. Wahrscheinlich, wenn ich darüber nachdenke. Inzwischen ist es fest in uns verankert. Es ist für uns selbstverständlich.«
»Okay, wenn das die Begründung ist, wieso solltet ihr euch noch Sorgen ums Bevölkerungswachstum machen? Ihr gehört zu den am meisten verbreiteten Spezies in der GU . Ihr seid überall .«
»Ja, aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass es dieses Gesetz schon sehr, sehr lange gibt, und das … hat sich verfestigt. Es ist egal, dass es Milliarden von uns gibt, in Dutzenden von Sonnensystemen. Partnerschaften zwischen verschiedenen Spezies gehen einfach nicht. Zumindest sehen die meisten es so.«
»Ich habe mal auf Reskit zwei Äluoner getroffen, die zu einer Federfamilie gehörten. Du bist also auf keinen Fall die Einzige.«
»Nein, aber diese Leute leben in den Randzonen, und ich … nicht. Wenn die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, dahinterkämen, würde das nicht gut für mich ausgehen.«
Speaker kniff die Augen zusammen. »Aber du hast doch gesagt, dein Problem mit dem Flimmern hätte nichts mit … Entschuldigung, wie hieß er noch gleich?«
»Ashby. Und ja, genau deswegen verstehe ich es verdammt noch mal nicht, weil er hier nämlich nicht das Problem ist. Bei den Menschen gibt es alle möglichen Missverständnisse in diesem Bereich, aber wir haben über das Flimmern geredet, sobald klar war, dass wir unser Arrangement fortsetzen wollten. Er versteht den Unterschied zwischen sozialem Sex und Sex zur Fortpflanzung – er versteht ihn wirklich. Seine Pilotin ist eine Aandrisk, und sie sind dicke Freunde, er hatte also schon Berührung mit dem Konzept. Das ist natürlich nicht das Gleiche, aber …«
»Er ist aufgeschlossen. Und bereit, kulturelle Normen zu akzeptieren, die nicht seine sind.«
»Ja.«
»Es geht also nicht darum, dass du dich nicht mit jemand anderem paaren willst.«
»Nein. Überhaupt nicht. Und genau deshalb bin ich so wütend, weil ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bevor die Leute – meine Leute, meine ich – das mit ihm und mir herausfinden. Ich weiß es. Die Sache geht jetzt schon viel zu lange, und ich will ihn nicht verlieren. Die einzige Alternative ist deshalb Offenheit. Wenn ich also keine Krippe aufsuche, aber zu meinem Menschenpartner fliege, dann … Na ja, dann ist es egal, wieso ich nichts wegen meines Flimmerns unternehme. Dann bin ich genau das abschreckende Beispiel, um das es bei diesem Blödsinn geht, und das, obwohl Ashby gar nicht der Grund wäre.«
»Und was ist dann der Grund?«
»Ich weiß es nicht.« Pei rieb sich verzweifelt das Gesicht. »Eigentlich spricht nichts dagegen. Ich bin gesund. Ich bin offensichtlich in der Lage dazu. Alle meine Bekannten, die schon mal in einer Krippe waren, erzählen, dass es großartig ist. Ich könnte mehrere Tagzehnte einfach nur herumliegen und Sex haben. Ich mag Kinder. Ich bin gern mit Kindern zusammen. Wahrscheinlich hätte ich Spaß daran, meine eigenen zu besuchen. Ich habe einen verständnisvollen Partner und Freunde, die vor Freude ganz aus dem Häuschen wären, und … es gibt keinen Grund, es nicht zu tun.«
Speaker sah sie kurz an. »Natürlich gibt es einen Grund«, sagte sie. »Du willst nicht.«
»Das ist kein Grund. Das ist ein Gefühl. Gefühle müssen begründbar sein.«
»Seit wann denn das?«
»Alle Gefühle haben irgendeine Ursache. Selbst wenn man sie nicht sofort erkennen kann, sie lassen sich immer auf irgendetwas zurückführen. Wie das mit den Fischen. Ich habe panische Angst vor den Fischen, die auf Sohep Frie gefangen werden. Schon Videos mit Fischen machen mich kribbelig. Das war bei mir schon immer so, und ich wäre nie darauf gekommen, dass es dafür eine Ursache gibt, bis ich vor ein paar Standards einmal meine Väter besuchte, und irgendwie kamen wir auf meine Angst vor Fischen zu sprechen. Und mein Vater Gilen findet das … oje, es gibt für dieses Farbmuster keine Klip-Entsprechung. Traurig-lustig, oder so. Entschuldige, es ist schwierig, sich ein Gespräch in Farbensprache in Erinnerung zu rufen und es in Laute zu übersetzen.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Jedenfalls sagte er, eines meiner älteren Geschwister hätte mir einmal erzählt, dass die Schwärme von Zitterfischen, die wir bei unseren Ausflügen ans Meer zu sehen bekamen, mich fressen wollten. Offenbar konnten mich meine Väter danach ewig nicht mehr dazu bewegen, wieder schwimmen zu gehen. Ich habe keinerlei Erinnerung daran, aber es hat sich mir wohl eingeprägt. Das hier ist ähnlich. Irgendwo in meinem Inneren gibt es einen Grund für meine Ablehnung. Ich habe ihn nur noch nicht gefunden.«
Speaker überlegte. »Ist dir klar, dass meine Beine untypisch für meine Spezies sind?«
»Ich … nein, eigentlich nicht. Tut mir leid.«
»Macht nichts. Genau deshalb frage ich ja. Es ist eine genetische Erkrankung. Im Vergleich zu normal gebauten Akaraks habe ich nur beschränkte Kontrolle über meine Beine.«
»Oh. Das tut mir leid.«
»Noch mal: Das muss dir nicht leidtun, genauso wenig wie mir.« Speaker veränderte ihre Sitzhaltung und klapperte mit dem Schnabel. »Vor zwei Standards legten Tracker und ich einen Zwischenstopp auf einem Markt ein. Ihre Lunge machte Probleme, also gingen wir zu einer Ärztin. Die Ärztin war eine Laru, und die Vorliebe dieser Spezies für Gentherapie ist dir ja sicher bekannt.«
»Ich habe schon davon gehört, ja.«
»Okay, die Ärztin behandelte Tracker also, und wir waren zwar nicht wegen mir dort, aber sie untersuchte auch mich, einfach so. Drei Tage später rief sie an und sagte, wissen Sie, nachdem Sie da waren, habe ich ein paar Simulationen laufen lassen, und ich könnte Ihnen ziemlich sicher neue Beine geben.«
»Ah, in einem Gencontainer oder so?«
»Ja. Im Prinzip würde sie mich in Stase versetzen, und ich würde die nächsten vier Tagzehnte in einem Genmanipulationsmodul verbringen – in einem Gencontainer, wie du es nennst – und anschließend mit neuen Beinen aufwachen. Ich müsste erst wieder lernen, sie zu gebrauchen, aber ich hätte keine Schmerzen. Und ich hätte keinerlei Erinnerung an das, was während meiner Bewusstlosigkeit passiert wäre. Sie erklärte mir alles und sagte, Tracker könnte die ganze Zeit bei mir bleiben. Sie hatte Tracker geholfen, und ich vertraute ihr. Ich mochte sie. Das sage ich nicht immer, wenn es um Ärzte geht. Aber ihre Vorschläge klangen seriös und durchdacht.«
»Aber du hast es nicht gemacht.«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich nicht wollte«, sagte Speaker schlicht.
»Aber warum denn nicht?«
»Weil ich nicht wollte . Und bei dem eigenen Körper reicht das als Begründung. Es ist egal, ob es um zwei neue Beine geht oder um die Art, sich die Krallen zu schneiden, oder –« Sie warf Pei einen durchdringenden Blick zu – »um die Frage, was man mit seinem Ei anstellen will. Ich wollte es nicht. Du willst es nicht. Das genügt.«
»Aber …«, fing Pei an.
Speaker beugte sich vor. »Das. Genügt. Vollkommen.«
Pei runzelte die Stirn, ihre Farben wirbelten unruhig. Innerlich rebellierte sie gegen das, was Speaker ihr sagen wollte. Speaker begriff einfach nicht, dachte Pei, dass man sich zwar den ganzen Tag über kulturelle Unterschiede unterhalten konnte, aber trotzdem immer ein paar Leerstellen blieben. Dennoch, ein Teil von ihr war angetan von dem Standpunkt der Akarak und bettelte die restliche Pei an, sich anzuschließen. Das verärgerte sie, und ihre Wangen liefen rot an. »Wieso führst du überhaupt dieses Gespräch mit mir?«
»Weil es interessant ist«, sagte Speaker. »Und ich glaube, dass du es nötig hattest.« Sie reckte den Hals und wiegte den Kopf hin und her. »Und da wir gerade von nötig sprechen – jetzt muss ich mal für mich sorgen. Ich hoffe, dass ich nicht länger als eine halbe Stunde brauchen werde.«
Speaker entfernte sich scheppernd und ließ Pei mit dem Monitor, dem bewusstlosen Laru-Kind und mehr als genug Stoff zum Nachdenken zurück. Tupo atmete heftig aus, wie ser es von Zeit zu Zeit tat. Das Geräusch hatte nichts zu bedeuten, aber Peis Implantat interpretierte es als Trauer und Ungeduld, die nonverbale Beschwerde von jemandem, der endlich weiterkommen wollte.
Ja, Kleines, vermittelte sie ihm in Farbensprache. Das Gefühl kenne ich.