Epilog
Tag 240 , GU -Standard 307
Sie hatte nicht die Farben, um auszudrücken, wie schön es war, wieder im Weltall zu sein.
Eigentlich hätte es keine Rolle spielen dürfen. Ihr Shuttle war immer noch dasselbe Shuttle. Ihr Stuhl war immer noch derselbe Stuhl. Aber jetzt befanden sich Sterne vor ihrem Fenster – nicht nur über ihr, sondern überall um sie herum. Unter ihr wurde Gora immer kleiner, eine riesige Kurve, die zu einer bescheidenen Kugel schrumpfte. Es war beunruhigend, das Trümmerfeld aus der Nähe zu sehen, aber die automatischen Wrackdrohnen taten ihre Arbeit und pflügten systematisch hin und her, zogen mit ihren magnetischen Sammelarmen passiv den Schrott mit sich. Es war erstaunlich befriedigend, ihnen dabei zuzusehen.
Erwartungsgemäß gab es viel Verkehr in der Umlaufbahn, aber die flinken Leitschiffe der Transitbehörde, die die Reisenden auf ihre Flugbahnen lotsten, leisteten heldenhafte Arbeit. Hinter den Flugbahnen gab es fünf klar definierte Bereiche, in denen der Verkehr zum Erliegen kam – die Sicherheitskorridore rund um die Tunneleingänge, die immer nur ein Schiff hindurch ließen. Am Ende der Korridore warteten die Wurmlöcher, jedes von ihnen stabilisiert von einem polyedrischen Schutzkäfig, der rings um das Loch konstruiert war, ein Geflecht aus Metall und blinkenden Lichtern mit einer tiefschwarzen Kugel darin, die weniger Objekt war als Gestalt gewordenes Nichts.
Pei lenkte ihr Schiff in die Spur für Tunnel Nummer vier und ließ es den Autopilotbojen folgen. Wahrscheinlich wartete auf der anderen Seite ein ähnliches Szenario auf sie, und ihre Reise nach Ethiris würde genauso kontrolliert ablaufen. Sie freute sich schon darauf, in ein paar Tagzehnten wieder im offenen Weltraum zu sein und fliegen zu können, wohin sie wollte und so schnell die örtlichen Gesetze es erlaubten. Aber diese Form der Freiheit lag noch in weiter Ferne. Zuerst musste sie ihr Ei befruchten lassen.
Nein. Das war nicht das, was zuerst kam. Zuerst musste sie Ashby schreiben, dass sie nicht kommen würde.
Es fühlte sich kindisch an, dass sie ihm nicht sofort geschrieben hatte, sobald die Comms wieder funktionierten. Sie hatte sich gesagt, es sei nicht nötig, ihn über ihre Verspätung zu informieren. Die war schon offensichtlich gewesen, als sie ihm vor fünf Tagen von Gora aus ein Update zu ihrer Reise geschickt hatte, und so, wie sie Ashby kannte, hatte er bestimmt die Nachrichten gecheckt oder ein bisschen recherchiert und herausgefunden, was los war. Aber je länger sie ihm nicht schrieb, desto mehr wurde ihr klar, dass ihr Zögern nichts mit Flugrouten-Updates zu tun hatte, sondern vor allem damit, dass sie den Moment hinauszögerte, in dem sie ihn enttäuschte.
Da ihr nichts anderes übrigblieb, als in der Schlange zu warten, beschloss sie, sich endlich zusammenzureißen und sich wie eine Erwachsene zu benehmen. Sie wandte sich ihrer Comm-Konsole zu, ließ die Farbe für Neue Nachricht aufleuchten, schaltete die Eingabe auf Klip um und begann zu schreiben.
Es tut mir so leid, aber ich werde leider nicht
Sie löschte den Satz und begann von vorn.
Es tut mir so leid, was ich dir jetzt sagen muss. Auf Gora kam es zu einer massiven Verspätung, und während ich dort war, habe ich zu flimmern begonnen. Ich habe eine Krippe gefunden, die etwa ein Tagzehnt von hier entfernt liegt, aber das bedeutet, dass ich nicht
Sie löschte auch diese Zeilen, gelbe Flecken traten auf ihre Wangen.
Du kennst doch den Spruch: Pläne zu machen ist die Garantie, sie zu verhindern? Nun,
Löschen, löschen, löschen.
Ich würde dir das lieber nicht schreiben, und ich finde einfach nicht die richtigen Worte. Ich weiß gar nicht, weshalb das so schwer ist. Auf Gora hat bei mir das Flimmern eingesetzt, und ich habe eine Krippe gefunden, aber ich
Pei atmete scharf aus, auf ihren Wangen lagen frustriertes Gelb und wehmütiges Orange. Sie presste die Fingerspitzen fest auf das Tastaturfeld und löschte all die unzulänglichen Worte.
Sie nahm einen neuen Anlauf.
Ich will nicht
Sie verschränkte die Hände im Nacken. Das Shuttle kroch vorwärts, geführt von den Autopilotbojen.
Sie schloss das Schreibfenster und aktivierte stattdessen die Comm-Kamera. Da gerade kein Anruf lief, sah sie auf dem Bildschirm nur sich selbst.
Sie atmete ein, schloss die Augen, tauchte tief ein und ließ ihre Farben wirbeln, wohin sie wollten.
Sie dachte an die Rin-Krippe mit ihrem fröhlichen Info-Chip, in dem genau die richtigen Dinge standen. Sie stellte sich vor, wie sie an etwas Uraltem, Wunderbarem teilhatte, etwas, das jedem ihrer Vorfahren geglückt war. Sie dachte daran, wie Ehrfurcht gebietend es sich anfühlen würde, diese Kette fortzusetzen und all das zurückzugeben, was ihr so selbstlos geschenkt worden war. Sie rief sich all die Gespräche mit Freunden ins Gedächtnis, die von ihrem Flimmern zurückgekehrt und geschwärmt hatten, wie wunderbar es gewesen war. Eine so dringend benötigte Pause, hatten sie gesagt. Eine so besondere Erfahrung. Guter Sex, viel Ruhe und das bleibende Gefühl, eine wesentliche Bestimmung erfüllt zu haben.
Sie öffnete die Augen und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie sah viele Farben auf ihren Wangen, aber die Töne, die bei weitem dominierten, waren Rot, Gelb, Orange. Furcht. Ablehnung. Unbehagen.
Der Anblick machte sie zittrig, aber er überraschte sie nicht. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie genau das sehen würde.
Sie kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Ganz bewusst lenkte sie ihre Gedanken in eine andere Richtung.
Sie dachte an Ashby. Sie dachte an sein gemütliches, altmodisches Schiff und an die guten Leute, die dort mit ihm lebten. Sie stellte sich vor, wie sie sie diesmal richtig kennenlernte – ohne Verstellung, ohne Halbwahrheiten, ohne ihre Farben bei jeder Begegnung zu fixieren, damit ihre Crew nicht merkte, wie ihr in seiner Nähe zumute war. Sie überlegte, wie sein Bett wohl war. Sie war noch nie in seinem Bett, in seinen Privaträumen gewesen. Wie es wohl wäre, für eine Weile mit ihm zusammen in einem Kontext zu existieren, der nicht geheim war? Seltsamerweise musste sie an Doktor Miriyam denken und daran, wie nur wenige Silben Klip mit exodanischem Akzent ihr das irrationale Gefühl gegeben hatten, dieser Fremden vertrauen zu können. Sie dachte an Käse und Wasserball und Haarbürsten und Grashüpfer-Burger und Gänsehaut und Weinen und all die anderen verrückten menschlichen Kleinigkeiten, die inzwischen Platz in ihrem Kopf beanspruchten. Das alles war wirklich verdammt seltsam, aber sie war dennoch froh, es zu kennen.
Überraschenderweise musste sie an Speaker denken. Ihr fiel ein, was die Akarak in den langen Stunden auf dem Shuttle zu ihr gesagt hatte, als sie zusammen über Tupo gewacht hatten.
Du willst nicht , hatte Speaker gesagt. Und das genügt. Das genügt vollkommen.
Pei öffnete die Augen und sah zwei Dinge vor sich.
Sie sah ein tiefes Blau, so dunkel wie das Meer, das in seinen Strömungen nichts als Liebe transportierte.
Sie sah Orange, grell und kummervoll. Das war kein Widerspruch zu dem anderen Farbton. Wenn man vor zwei Türen stand und wusste, dass eine davon geschlossen bleiben würde, war Kummer eine normale Empfindung.
Ihre Entscheidung verfestigte sich. Eigentlich hätte sie ihr Angst machen müssen. Sie hätte sich falsch anfühlen müssen. Aber je länger Pei sie sacken ließ, desto mehr wurde ihr klar, dass sie nichts als Erleichterung empfand. Diese eine Entscheidung brachte keine Antwort auf alle ihre Fragen, nicht einmal ansatzweise. Wie wäre das auch möglich gewesen? Das Leben war niemals nur die Frage einer einzigen Entscheidung. Das Leben bestand aus lauter winzigen Schritten, einer nach dem anderen, und jede Entscheidung zog ein Dutzend weitere Fragen nach sich. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was sie mit ihrem Job, ihrer Crew oder allem anderen anstellen sollte. Aber sie kannte jetzt die Richtung, und das war besser als nichts.
Sie rief das Schreibfenster wieder auf und begann erneut zu schreiben.
Bitte entschuldige die Verspätung. Auf Gora gab es ein Riesenchaos, und ich musste fünf Tage lang dortbleiben. Aber es geht mir gut, und ich bin jetzt unterwegs. Ich erzähle dir alles, wenn ich da bin.
Ich freue mich auf dich.
Sie schickte die Nachricht ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Es kribbelte in ihren Adern, als sie es tat.
Es war richtig so.
Sie schüttelte den letzten Rest Anspannung aus ihren Händen und startete einen Voice-Anruf beim Orbiter der Transitbehörde.
Auf dem Bildschirm erschien ein Aandrisk-Mann, die Schuppen grün wie Gelächter, die Federn ein wilder Streit. »Hallo, ich bin Agent Siksish«, sagte er. »Was ist Ihr Anliegen?«
»Ich bin Captain Tem, Schiff-ID -Nummer 9992 –3 –23434 –7 A. Ich befinde mich gerade in der Schlange für Tunnel 4 , muss aber meine Route ändern.«
Der TB -Agent sah sie skeptisch an. »Das ist ganz schön knapp, Captain.«
»Ich weiß«, sagte sie.
Agent Siksish gab mit seinen Krallen rasch ein paar Befehle ein. »Sie sagten, Ihre Schiffsnummer sei …?«
»9992 –3 –23434 –7 A.«
»Okay. Und welchen Tunnel möchten Sie stattdessen ansteuern?«
»Tunnel Nummer 1 .«
Er blickte auf seine Bildschirme. »Da Sie sich wieder neu einreihen müssen, verzögert sich Ihr Abflug dadurch um eine Stunde. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Ja«, sagte Pei. Auf eine Stunde kam es jetzt nicht mehr an.
Er gab noch ein paar Befehle ein. »Okay, gleich wird ein Leitschiff zu Ihnen kommen, dass Sie von Ihrer derzeitigen Warteschlange zur nächsten bringt. Deaktivieren Sie einfach Ihren Autopiloten und folgen Sie dem Schiff.«
»Vielen Dank«, sagte Pei. Das Gespräch war beendet. Sie ließ ihre Befehle aufleuchten, und das Shuttle verließ die Spur. Sie lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze und blinzelte mit den inneren Augenlidern.
Scheiße nochmal, sie tat es wirklich.
Das Leitschiff war nach wenigen Minuten da; Pei flog ihm in gleichmäßiger Geschwindigkeit hinterher. Als ihr Schiff ausscherte, kam Gora zurück in ihr Sichtfeld. Die Tage, die sie dort verbracht hatte, begannen in ihrem Kopf bereits ineinanderzufließen – die Leute, die sie getroffen, die Gespräche, die sie geführt hatte. Eine Idee formte sich in ihr. Es war ein Schuss ins Blaue, aber … hmm. Je mehr die Idee Gestalt annahm, desto mehr gefiel sie ihr.
Wieder wandte sie sich dem Comm-Bildschirm zu und rief ihre lange Liste beruflicher Kontakte auf. Sie scrollte hindurch, nicht ganz sicher, wonach sie eigentlich suchte. Sie brauchte jemanden, der die richtige Art von Einfluss hatte, jemanden, der sie mochte, jemanden, der … da. Sie zeigte auf den Bildschirm, auf dem der Name Kalsu Reb Lometton aufgetaucht war. Ja, sie war perfekt.
Die gute Kalsu nahm den Sib-Anruf nach wenigen Minuten an. »Meine liebe Captain Tem!«, sagte sie. »Was für eine angenehme Überraschung!« Die Harmagianerin saß in dem überladenen Büro, in dem Pei bereits einige Male gestanden hatte, wenn sie beruflich in der Hauptstadt gewesen war. Pei übernahm nicht sehr oft Aufträge, für die Kalsus Stempel erforderlich war, aber wenn sie es getan hatte, war es immer eine … spannende Erfahrung gewesen.
»Wie läuft’s auf Hagarem?«, fragte Pei.
»Nun ja, das Wetter ist gut, der Strand ist schön, die Politik eine Katastrophe. Das Übliche.« Kalsu blickte zur unteren Ecke ihres Displays. »Da Sie sich offensichtlich nicht gerade in der Nähe befinden, gehe ich davon aus, dass Sie nicht einfach so anrufen.«
»Damit haben Sie wie immer recht«, sagte Pei. Kalsu entging niemals etwas, und genau deswegen war sie so gut in dem Job, über den sie sich unaufhörlich beklagte. »Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten.«
»Für Sie? Was immer Sie wollen.«
»Nicht so schnell. Ich weiß nicht, ob Ihr Einfluss dafür ausreicht.«
Kalsus Tentakel kräuselten sich gespannt. »Eine Herausforderung! Wie aufregend.« Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Es ist doch hoffentlich nichts Ungebührliches?«
»Also bitte, Kalsu, ich bin’s«, sagte Pei. »Natürlich nicht. Und tatsächlich rufe ich Sie genau deshalb an. Das hier bringt nur etwas, wenn es korrekt über die Bühne geht.«
»Eine juristische Herausforderung! Das sind mir die liebsten. Na los. Erzählen Sie mir alles.«
Pei lächelte blau und schob ihr Schiff weiter in die richtige Richtung. Schön, wenn man seine Beziehungen spielen lassen konnte.