Tag 267 , GU -Standard 307
Wenn man auf dem Nobel-Raumflughafen landete und sein Schiff verließ, wurde man vom Anblick eines dekorativen, über und über mit Ranken bewachsenen Steinbogens empfangen, der sich über den Weg zum Zollgebäude spannte. Roveg hatte ihn Dutzende von Malen gesehen, bei den verschiedensten Gelegenheiten, von den Urlauben seiner Kindheit bis zu seiner vom Staat verordneten Ausreise. Diesmal jedoch war es anders. Diesmal sah er den Steinbogen nicht, denn man hatte ihn abgerissen und durch eine geschmacklose Lichtinstallation ersetzt. Roveg hatte sich innerlich gewappnet, bevor er an den Ort zurückkehrte, von dem er geglaubt hatte, er würde ihn nie wiedersehen; aber er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass es ohne ihn weitergegangen war.
Unverändert war der Geruch, ein überwältigender Duft, der ihn bis ins Mark traf. Die Luft war feucht – köstlich, wunderbar, auf die richtige Weise feucht – und erfüllt von den Gerüchen nach beschaulichen Seen, nach leeren Treibstoffschläuchen, nach dem Gewimmel der Imbissbuden, die ihn erwarteten, sobald er um die Ecke bog, und den Pheromonen zahlloser Angehöriger seiner Spezies, durchdringend oder schwächer werdend, Erzählungen von den Leuten, die sich in der Nähe aufhielten oder bereits gegangen waren. In den letzten acht Standards war er hin und wieder anderen Quelin begegnet – Verbannten wie ihm –, aber nie mehr als einem oder zwei auf einmal. Niemals in einem Kontext, in dem sie die Mehrzahl stellten. Seit seinem letzten Aufenthalt in Nobel war Roveg nie mehr an einem Ort gewesen, der von Quelin und nur von Quelin bevölkert wurde. Er hatte vergessen, wie es war, wenn man nicht herausstach.
Nur dass er natürlich durchaus herausstach. Er roch den heftigen Abscheu der Passanten, die das zerstörte Brandmal auf seinem Panzer sahen. Außer ihm wurde niemand, der heute in Nobel landete, hinter der Luke von einem Vollstrecker-Paar erwartet. Wenigstens war er auf nur zwei Vollstrecker heruntergestuft worden, stellte Roveg mit grimmiger Erheiterung fest. Bei seinem Weggang hatten ihn vier Vollstrecker begleitet.
Es wurde Zeit, diese unerfreuliche Angelegenheit in Angriff zu nehmen. Er spreizte die Brustbeine und bereitete sich auf die Durchsuchung vor. »Vollstrecker, hiermit unterwerfe ich mich untertänigst dem Willen des Protektorats und Ihrer Befehlsgewalt«, sagte er. Jedes Wort, das er mit Mund und Kehle gleichzeitig bildete, schmeckte faulig. Der Geschmack blieb auch, nachdem die Laute ihn verlassen hatten. »Mein Name ist Roveg, und ich habe einen bestätigten Termin bei der Justizbehörde.«
Die weibliche Vollstreckerin trat vor und scannte sein Armband, während ihr Kollege unverzüglich die Tornister öffnete, die Roveg sich um Unterleib und Brust geschnallt hatte. Als sein Armband gescannt war, blickte die Vollstreckerin auf ihren Scribus. »Ihr Termin war um 14 .00 Uhr«, sagte sie.
»Ja«, sagte Roveg.
Sie sah ihm in die Augen. »Sie sind zu spät.«
»Ja«, sagte er. »Es tut mir sehr leid, auf meiner Reise hat sich ein …« Er stockte. O Sterne, o verdammt, er konnte sich nicht mehr an das Wort erinnern. Er hatte so lange keine förmliche Unterhaltung mehr auf Tellerain geführt, dass ihm das verflixte Wort nicht mehr einfiel. »… ein Unglück ereignet, weshalb ich aufgehalten wurde. Ich bin gekommen, so schnell es mir auf legalem Weg möglich war.«
Roveg verneigte sich unterwürfig, während er sprach, aber die Vollstreckerin machte sich auf ihrem Scribus eine Notiz, in der sie ohne Zweifel sowohl seine Verspätung als auch sein eingerostetes Tellerain festhielt. Roveg sank der Mut. Er war noch nicht einmal eine Minute hier und hatte doch schon das starke Gefühl, dass die Reise umsonst sein würde.
Verdammt, er musste es versuchen.
Die Vollstrecker nahmen ihn in die Mitte und führten ihn zur Justizbehörde, wortlos und ohne ihn zu berühren. Roveg spürte die Blicke der Menge, während er sich vorwärtsbewegte. Er war daran gewöhnt, von anderen intelligenten Spezies angestarrt zu werden, und schenkte den Blicken normalerweise keine Beachtung mehr. Diese Blicke jedoch – von Augen wie seinen eigenen – ließen seinen Panzer bröckeln, schnitten winzige Stückchen aus ihm heraus und ließen sie zum Bleichen in der Sonne liegen.
Er war wegen Boreth hier, sagte er sich. Er war wegen Segred und Hron und Varit hier. Wieder und wieder sagte er sich innerlich ihre Namen vor, eine Litanei der Tapferkeit, die ihn weitertrug.
Das Justizbüro war kahl und viel zu hell, so wie alle Behörden. Es war unglaublich, wie bedrohlich ein beinahe leerer Raum wirken konnte. Der einzige Gegenstand war ein kreisrunder Schalter exakt in der Saalmitte, an dem ein einsamer Justizbeamter saß. Roveg ersetzte die Litanei der Namen seiner Lieben mit einem nervösen Schnelldurchgang der Eventualitäten, auf die er sich vorbereitet hatte.
Sie werden dich nach deiner Arbeit fragen, dachte er, und in dieser Hinsicht hast du nichts zu befürchten. Stell klar, dass du nur Urlaubs-Sims machst. Sie werden dich fragen, wo du wohnst und ob du mit anderen Spezies zusammenlebst. Du lebst allein, und sie können dir kaum vorwerfen, dass du in einer gemischten Stadt lebst – wo zum Teufel sollst du auch sonst hin, nachdem du hier nicht mehr leben darfst? Anschließend werden sie deine Hämolymphe scannen. Wahrscheinlich werden sie deine Bots überprüfen. Danach werden sie deinen Scribus sehen wollen, und das ist in Ordnung, auf dem ist nichts Ungehöriges. Das hast du dreimal überprüft. Wenn sie wegen deiner Verspätung nachhaken, weise sie ebenso nachdrücklich auf den Grund deines Besuchs hin. Du stehst für Tradition. Das mögen sie. Streng dich an. Du weißt, wie das geht. Boreth. Segred. Hron. Varit. Du schaffst das.
Du musst das schaffen.
Der Beamte blickte kurz von seinem Tresen auf; er roch, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie über einen Witz gelacht. »Sie müssen mein Vierzehnuhrtermin sein«, sagte er, während er mittels Gesten Befehle in sein Terminal eingab.
»Ja, ich bin Roveg«, sagte er. »Und es tut mir wirklich leid. Es gab einen Zwischenfall …«– inzwischen hatte er Zeit gehabt, um sich an das Wort zu erinnern – »… der unvermeidlich eine Verspätung zur Folge hatte.« Er öffnete eine Tasche (die Vollstrecker verfolgten aufmerksam, was er tat) und zog ein sorgfältig eingewickeltes Päckchen mit Pixel-Ausdrucken und Infochips heraus. Nachweise über seine Wohnung, seine Arbeit, seine Finanzen, seine Krankengeschichte, seine Reiseroute, sein ganzes Leben. Er hatte Tagzehnte gebraucht, um das alles zusammenzustellen, und obwohl er wieder und wieder überprüft hatte, dass auch jedes Detail stimmig war, blähten sich seine Atemlöcher bei dem Gedanken, dass er etwas vergessen haben könnte. Der Vollstrecker, der sein Armband gescannt hatte, sah ihn an, und Roveg musste nicht nach dem Grund fragen. Er wusste, dass er nach Besorgnis stank.
Höflich reichte er dem Vollstrecker das Päckchen, wobei er es zwischen vier Zehenpaaren hielt. Der Agent musterte es kurz. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er.
Roveg war zumute, als wären sämtliche seiner zahlreichen Knie kurz davor, nach innen wegzuknicken. Nein. Nein, sie mussten ihm eine Chance geben. Sie durften ihn nicht einfach abweisen, ohne ihm auch nur eine Chance zu geben. »Aber … bitte, ich …«
Aus einem Gerät, das auf dem Schalter stand, fiel etwas heraus – eine Art Plakette. Der Beamte nahm sie, brannte sechs verschiedene Stempel hinein und reichte sie Roveg. »Befestigen Sie das an Ihrem Rumpf, möglichst nah bei ihrem Gesicht. Der Klebstoff auf der Rückseite wird sich nach einem Tagzehnt auflösen.«
Roveg nahm die Plakette. Sie bestand aus hartem Plex, die Aufschrift war plump und hässlich.
Befristete Aufenthaltserlaubnis
Gültig bis: 277 /307
Der Inhaber ist ein registrierter Abweichler und muss zu jeder Zeit von einer Polizeieskorte begleitet werden.
Stumm stand Roveg da und starrte auf den kostbarsten Gegenstand in der Galaxis, den er jetzt in den Zehen hielt. Die Behauptung, dass er verwirrt war, wäre eine Untertreibung gewesen. Hier musste ein Irrtum vorliegen, aber er würde ihnen sicher nicht sagen, dass sie ihn vielleicht nicht hereinlassen sollten. »Muss ich … muss ich gar nicht zur Befragung?«, fragte er vorsichtig.
Der Beamte winkelte verneinend die Beine an. »Gemäß unserem Einwanderungsabkommen mit der GU müssen Sie sich, da Sie derzeit bei einem Parlamentsmitglied beschäftigt sind, nicht wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt wurden und die ersten acht Standards ihrer lebenslänglichen Strafe verbüßt haben, für eine befristete Aufenthaltserlaubnis keiner Befragung unterziehen.« Im Geruch des Beamten lag flammende Missbilligung, aber sein Tonfall verriet, dass ihm nichts anderes übrigblieb. Gesetz war schließlich Gesetz.
Roveg kalkulierte kurz. Hier war ohne Zweifel ein Fehler passiert. Er hatte keine Ahnung, von welchem Arbeitsverhältnis und welchem Arbeitgeber die Rede war. Aber sollte er das etwa sagen? Was war schlimmer – wenn er seine Chancen sofort in den Sand setzte oder wenn sie nachträglich herausfanden, dass er sich die Aufenthaltserlaubnis unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen hatte?
Boreth, dachte er.
Er zog die Rückseite der Plakette ab und klebte sie fest auf seinen Rumpf, unter dem Kopf. Der Klebstoff roch widerlich. Es war ihm egal. »Vielen Dank«, sagte er und verwendete jedes Quäntchen seiner Kraft darauf, gelassen zu klingen und zu riechen. »Ich verspreche Ihnen, dass ich mich vorbildlich verhalten werde.«
»Darüber hat Ihre Begleitung zu befinden, nicht ich«, sagte der Beamte. Er deutete auf die andere Seite des Raumes. »Sie können sich dort drüben im Wartebereich aufhalten, bis sie hier ist.« Er nahm einen Infochip vom Tresen und reichte ihn Roveg. »Im Empfehlungsschreiben Ihres Arbeitgebers stand, dass wir Ihnen bei Ihrer Ankunft das hier übergeben sollen. Der Inhalt ist natürlich überprüft worden.«
Roveg nahm den Chip, um nichts weniger verwirrt, aber mehr als gewillt, das Gespräch zu beenden, bevor man ihm noch mehr Fragen stellte. »Vielen Dank.« Er machte sich auf den Weg zum Wartebereich, und die Vollstrecker, deren Missbilligung noch deutlicher zu spüren war als die des Beamten, folgten ihm.
Sobald er nicht mehr beobachtet wurde, nahm Roveg seinen Scribus aus der Tasche und steckte den Infochip hinein, darum bemüht, gelassen zu wirken, obwohl er darauf brannte, zu erfahren, was zum Teufel hier gespielt wurde. Der Chip enthielt zwei Dokumente, mit einem Vermerk, das eine zuerst zu lesen.
Lieber Roveg,
ich bin überaus erfreut, dass Sie den Arbeitsvertrag akzeptieren, um für das GU -Archiv zur kulturellen Weiterbildung künftig Umweltsims zu entwerfen! Es gibt beklagenswert wenig Material dieser Art, das Quelin-Habitate einschließt, und ich freue mich, dass wir in Ihnen einen begabten Bürger Ihres Planeten gefunden haben, der uns helfen wird, diese Lücke zu schließen. Die Quelin sind ein hochgeschätztes Mitglied der GU , und uns liegt daran, die reichhaltige Kultur und komplexe Geschichte Ihrer Spezies angemessen zu würdigen.
Die Einzelheiten zu Ihrem Gehalt und den Abgabeterminen besprechen wir, sobald Sie in den Zentralraum zurückgekehrt sind. Auf dem Chip finden Sie eine Liste der Sehenswürdigkeiten, die Sie für Ihre Sim hoffentlich scannen und kartographieren werden, sofern Ihre Aufenthaltserlaubnis Ihnen den Zutritt zu den betreffenden Gebieten erlaubt. In Anbetracht Ihrer juristisch heiklen Situation und um völlige Transparenz herzustellen, erhalten Sie diese Informationen nicht als direkte Nachricht, sondern zusammen mit Ihrem Empfehlungsschreiben. Ich bitte Sie außerdem, Bilder vom Zeremoniell der Ersten Brandmarkung Ihrer Söhne anzufertigen, das, soviel ich weiß, glücklicherweise während dieses Einsatzes stattfindet. Unsere Bürger würden großen Nutzen aus einem besseren Verständnis dieser faszinierenden Tradition ziehen.
Eine persönliche Randbemerkung: Unsere gemeinsame Freundin Gapei Tem Seri sendet Ihnen herzliche Grüße. Sie und ich wünschen Ihnen für dieses Projekt nur das Beste. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis.
Mögen Sie allzeit sicher reisen
Kasu Reb Lometton
Stellvertretende Direktorin der Exportbehörde, GU -Grenzdezernat
Verwirrung war nicht mehr die angemessene Bezeichnung für das, was Roveg empfand. Er war vollkommen sprachlos.
Daran änderte sich auch nichts, als seine Begleitung eintraf – eine Frau mit stabilem Panzer, die er attraktiv gefunden hätte, wenn sie nicht gerochen hätte, als wäre ihr jede Ausrede willkommen, ihn in ein Verlies zu werfen. »Mein Name ist Officer Greshech«, sagte sie so eisig, wie sie roch. »Ich werde Sie während Ihres Aufenthalts auf Vemereng begleiten. Es ist Ihnen verboten, sich von mir zu entfernen. Es ist Ihnen verboten, ohne meine Erlaubnis ein Gebäude zu betreten. Es ist Ihnen verboten, sich an Gesprächen zu beteiligen, deren Themen ich nicht ausdrücklich gebilligt habe. Ich erwarte täglich bis 6 .00 Uhr einen detaillierten Plan für die von Ihnen geplanten Aktivitäten. Ein Verstoß gegen diese Auflagen hat den Entzug Ihrer Aufenthaltserlaubnis zur Folge sowie …«
Roveg fixierte sie, als würde er ihr konzentriert zuhören, und ließ die bürokratische Tirade über sich ergehen. Im Geiste wandte er sich glücklich anderen Dingen zu und beschäftigte sich mit den ersten Umrissen seines nächsten Projekts. Es würde eine Menge Arbeit werden, aber er sah bereits die Farben vor sich, die Formen, spürte, wie es sich anfühlen sollte. Es würde wunderschön werden, ganz bestimmt, aber diese Phantasie hob er sich für ein andermal auf. Zuerst würde er seine Söhne besuchen. Er würde ihre Gesichter sehen, ihre erwachsenen Gerüche kennenlernen, sie vielleicht sogar berühren, wenn sie es zuließen. Er hatte sie noch nie mit harten Panzern gesehen und sich tagzehntelang dafür gewappnet, dass er sie vielleicht nicht erkennen würde. Doch jetzt, mit seiner alles andere als wohlriechenden Urkunde auf dem Thorax, machte ihm diese Vorstellung nichts mehr aus. Sie waren seine Söhne, und ganz gleich, wie sie aussahen, auch sie würden wunderschön sein.