Das Leben verlief im Sauseschritt und gleichzeitig in Zeitlupe.
Die Bewegungen wirkten schwerfällig, die Blicke träge und die Wörter zähflüssig; und doch reihte ich Treffen und Rendezvous aneinander und redete an einem einzigen Tag mit mehr Leuten als sonst in einem ganzen Jahr, noch mehr als früher in meiner Heimatstadt am Gymnasium. Ich wurde zu einer Vertrauensperson, einem Geheimnisträger, zum zukünftigen Schriftsteller von Romanen, die im Paris der achtziger Jahre spielen. Ich war begehrt. Und das überraschte mich immer wieder. Ich begriff nicht, was die Leute an mir fanden — oder ehrlich gesagt doch, ich war mir dessen nur zu gut bewusst. Man fand mich interessant, weil ich der Freund des Opfers gewesen war.
Am Morgen nach meiner Nacht bei Paul einigten wir uns darauf, dass das Zimmer seines Bruders mein Zimmer war, wann immer ich wollte. Ich hatte ein bisschen Angst vor der Reaktion seiner Eltern, doch Paul wischte meine Zweifel mit einer Handbewegung beiseite. Ich hatte nichts zum Umziehen dabei und auch nicht die Zeit, noch schnell nach Nanterre zu fahren. Also gab Paul mir ein weißes Hemd und schwarze Strümpfe — und betonte, er wolle mir die Sachen geben und sie keinesfalls zurückhaben. Unterwäsche lehnte ich lächelnd ab. So weit wollte ich dann doch nicht gehen. Mich aushalten zu lassen, dazu war ich bereit, aber wenn schon Hure, dann wenigstens eine mit Prinzipien.
Die ersten Kurse an diesem Morgen haben wir geschwänzt, weil ich unbedingt noch im Salon frühstücken wollte. Wir kamen erst um zehn Uhr ins Lycée, gemeinsam. Die Schüler des ersten und zweiten Vorbereitungsjahres sahen uns plaudernd die Treppe heraufkommen. Paul sprach von einem kürzlich erschienenen Buch, das er gelesen hatte, einem interessanten Roman über eine Nacht, die die Shelleys und Lord Byron in den Schweizer Bergen verbrachten, und in deren Verlauf Mary Shelley ihre Idee zu Frankenstein hatte. Wir kamen gerade auf dem oberen Treppenabsatz an, als Paul noch hinzufügte, er würde mir das Buch am Abend leihen. Alle starrten uns an, versuchten es aber natürlich zu verbergen. Als ich in mein Klassenzimmer gehen wollte, hielt Armelle mich am Arm fest.
»Kannst du mir das erklären?«
»Was soll ich dir erklären?«
»Paul Rialto und du?«
Ich runzelte die Stirn.
»Bedaure, ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ach, nichts. Lassen wir es. Sehen wir uns heute Abend?«
»Nach dem, was gestern war, dachte ich, dass ...«
»Vergiss es. Ich war nicht gut drauf. Verzeihst du mir?«
»Jetzt bin ich derjenige, der nachdenken muss.«
»Dafür hast du bis heute Abend Zeit. Nach dem Unterricht also?«
»Nein. Ich kann nicht.«
»Bist du schon verabredet?«
»Ja. Wie wär’s mit morgen? Morgen ist Samstag. Aber da hast du sicher schon was vor, oder?«
»Kann ich noch absagen. Kino?«
»Kino und mehr?«
»Mal sehen.«
Plötzlich wollten alle mit mir reden. Mit mir, dessen Leben bisher aus Selbstgesprächen bestanden hatte, aus schriftlichen Interpretationen, Textauslegungen, Aufsätzen mit These-Antithese-Synthese, nicht zu Ende geführten Anmerkungen. Manchmal wurde es mir fast zu viel. Vermutlich auch aus diesem Grund genoss ich die Gesellschaft von Patrick Lestaing. Bei ihm musste ich nicht schlagfertig sein, den treffenden Ausdruck finden und keine endgültigen Schlüsse ziehen. Zeitweise zog er sich innerlich zurück, dann war Ebbe, und ich konnte am Strand der Sätze spazieren gehen, die wir ausgetauscht hatten, die Spuren im Sand betrachten, bevor sie weggespült wurden, den Geräuschen des Windes lauschen, das Gesagte noch einmal überdenken.
An diesen Abend hatte er woanders hingehen wollen. Er ertrug das 747 nicht mehr, den langen Tresen, die Enge des Hinterzimmers, die Gespräche der Büroangestellten. Ihm war nach etwas Luxus, dezentem Flüstern und Klaviermusik im Hintergrund, nach Eiswürfeln, die in unseren Gläsern klirrten. Er wollte in einem tiefen, weichen Sessel versinken und für kurze Zeit die Außenwelt vergessen, die noch im Dunkeln liegenden kommenden Jahre. Nur in sanften, goldbraunen Erinnerungen schwelgen. Dem toten Sohn ein Mausoleum errichten. Und dafür brauchte er mich. Mein Zuhören. Mein Nachfragen. Ich war genau das, was er brauchte — ich war keine gefestigte, starke Persönlichkeit, ich konnte mich zurücknehmen, und außerdem musste ich in den Augen, im Mund und in der Stimme etwas haben, das anderen Vertrauen einflößte. Ich eignete mich allem Anschein nach zum Beichtvater.
Am Anfang des Gesprächs tat er so, als würde er sich für mich interessieren. Er stellte mir Fragen, ohne meinen Antworten jedoch große Beachtung zu schenken. Er ließ sich von seinen eigenen Worten leiten, er suchte Mathieu an einem Ort auf, den ich lieber nicht betreten wollte. An diesem Abend fragte er mich, wofür ich mich am meisten begeisterte — und es fiel mir sehr schwer, darauf eine Antwort zu finden. Bevor ich nach Paris gekommen war, hatte ich mich für zeitgenössische Literatur interessiert, die Neuerscheinungen im Herbst, die jungen Autoren. Ich hatte Tennis und Basketball gespielt. Und gern angelsächsische Musik gehört. Doch das alles war nach und nach absorbiert worden vom Kampf ums Überleben, dem permanenten Schreiben von verschiedenen Hausarbeiten, die rechtzeitig fertig sein mussten, um in diesem lebensfeindlichen Milieu weiterexistieren zu können. Ich hatte meine sämtlichen Hüllen abgelegt. War entblößt bis zum Kern. Im Übrigen hatte ich sechs Kilo abgenommen und trug nun eine Hosengröße weniger. Meine Mutter machte sich Sorgen, doch ich hatte ihr erklärt, es läge daran, dass ich regelmäßig Sport treibe. Ich hatte ihr vorgeschwindelt, ich würde für Langstreckenläufe trainieren. Das hatte sie beruhigt. Eine gute Sache. Er lüftet seinen Kopf aus, sagte sie sich. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Damit war das Thema für sie erledigt gewesen.
Ich gab mir große Mühe, auf Patrick Lestaings Fragen zu antworten — ich hatte noch nicht begriffen, dass meine Antworten völlig unwichtig waren. Er brauchte nur einen Aufhänger. Und kaum hatte ich ihm ein paar Worte zum Fraß vorgeworfen, da setzte er schon zur Fackelabfahrt an. Mathieu hatte jede Menge Interessen habt. Mathieu begeisterte sich für vieles, manchmal vielleicht etwas zu schnell. Mathieu konnte andere mitreißen. Sie sahen ihn als Leitstern, als Kometen. Sie sonnten sich in seiner Ausstrahlung. Vor zwei Jahren, als das Verbot von Piratensendern gelockert wurde, hatte er frohlockt. Er hatte beim Abenteuer der ersten Sender mitmachen wollen, die in Blois gegründet wurden. Es war ihm gelungen, einen der Verantwortlichen davon zu überzeugen, ihn für ein Jahr mit der Verantwortung für eine wöchentliche Kultursendung zu betrauen, in der es um Bücher, Filme, Schallplatten, Comics ging, da war er nicht sektiererisch. Obwohl die Sendung recht erfolgreich war, hörte Mathieu nach einem Jahr damit auf. Da hatte er bereits neue Ambitionen. Eine Schülerzeitung für die Oberstufe, deren Chefredakteur er werden wollte. Er war mit einigen Freunden zu den örtlichen Druckereien gegangen, sie hatten sich Kostenvoranschläge geben lassen, die Rendite berechnet und sich von amüsierten Eltern Kredite geben lassen. Dank guter Absatzzahlen konnten sie das Geld zurückzahlen und sich obendrein alle zusammen einen Urlaub am Meer leisten.
Ich ließ mich vom Rhythmus der Sätze und der Gestalt des Helden einlullen — doch es gelang mir nicht, die Geschichte so ganz zu glauben. Das wenige, was ich über Mathieu Lestaing wusste, deckte sich nicht mit dem, was mir da erzählt wurde. Ich sah das Zittern seiner Hände wieder vor mir, wie ungeschickt er die Zigarette hielt. Wo waren sie, diese Freunde, die von den schulischen Leistungen Mathieus so fasziniert waren? Wo waren seine überschäumende Energie, sein Kampfgeist geblieben? Ich erwähnte das Wort »Scheidung«. Augenblicklich verebbte der Wortschwall meines Gegenübers.
»Er hat Ihnen davon erzählt?«
»Ein bisschen.«
»Was hat er gesagt?«
»Nichts Wichtiges. Eigentlich nur die Fakten.«
Ein tiefer Seufzer. Und die willkommene Rückkehr des Schweigens, zumindest für einige Augenblicke. Patrick Lestaing zog sich wieder in seine innere Welt zurück. Zum ersten Mal an diesem Abend hörte ich das Piano im Nebenzimmer. Wir waren in einem der Salons eines Viersternehotels, beim Bahnhof Saint-Lazare. Draußen auf den großen Boulevards drängelten sich die Fahrzeuge, doch an den doppelverglasten Fenstern prallte der Lärm der Stadt ab. Hier drinnen gab es nur Teppichböden, Vorhänge und leise Unterhaltungen. Ich nippte an meinem weißen alkoholischen Getränk, dessen Namen ich nicht kannte.
Was für ein Leben!
Konnte man sein Leben auf diese Weise verbringen, abgeschieden von der Welt, in einem Niemandsland des Komforts und der Wärme, und den anderen dabei zuschauen, wie sie sich abmühten, einen Sinn für ihr Leben zu finden?
»Meine Frau denkt, es sei deswegen passiert. Wegen uns. Wegen der Trennung. Wir ...Unsere Ehe lief natürlich schon seit Jahren nicht mehr sehr gut, aber wir wollten zusammenbleiben, bis die Kinder alt genug sein würden ...Eigentlich wollten wir noch ein paar Jahre länger durchhalten, bis beide mit ihrer Ausbildung fertig wären. Nicht, dass wir uns gehasst hätten oder so, aber wir hatten seit längerem keine körperliche Beziehung mehr gehabt. Wie die meisten Paare, die von jungen Jahren an zusammen sind und sich irgendwann satthaben. Wir waren beide etwa in Mathieus Alter, als wir uns ineinander verliebt haben, Sie verstehen. Für Sabine, Mathieus Schwester, war die Trennung kein Problem, sie ist zweiundzwanzig und hat schon einen Beruf. Sie ist verlobt und spricht bereits von Kindern. Ich dachte, für Mathieu wäre es auch kein Problem. Er war in der letzten Klasse, das war natürlich nicht ideal für sein Abitur, klar, aber er war reif genug, um zu begreifen, worum es ging. Und außerdem gibt es heutzutage ja immer mehr Scheidungen, nicht wahr? Das ist kein Grund, um ...für das, was er getan hat. Vor allem, weil er sehr viel außer Haus war, mit Freunden unterwegs, seine Hobbys hatte, und da ...Bei der Scheidung war ich der Buhmann. Ich hatte mich in eine andere Frau verliebt, die nicht viel jünger ist als meine Ehefrau. In eine Frau, mit der ich wieder Lust hatte, Pläne zu schmieden, frohen Herzens der Zukunft entgegenzusehen, und zu der ich am Abend wieder gern nach Hause kam ...Jedenfalls bin ich dann ausgezogen. Im Oktober letzten Jahres. Ja, ich weiß, im Oktober. Deshalb macht meine Frau mir nun Vorwürfe, sie gibt mir alle Schuld, das deutet sie zumindest an. Sie behauptet, dass er zwangsläufig an uns gedacht hat, an das, was wir verbockt haben, an seine Kindheit und diesen Quatsch mit dem verlorenen Paradies. Offenbar hat er ›Idiot‹ gerufen, bevor er gesprungen ist. Sie glaubt, das sei auf mich gemünzt gewesen. Denken Sie das auch?«
»Nein, damit kann er nur Clauzet gemeint haben.«
»Das sage ich mir auch, aber ...«
»Wenn er an Ihre Frau und an Sie gedacht hätte, wäre er nicht gesprungen. Er hat keine einzige Sekunde nachgedacht. Denn sonst wäre er die Treppe hinuntergelaufen, hätte die Tür hinter sich zugeschlagen, wäre nach Blois zurückgefahren und hätte das Thema Lycée ein für alle Mal abgeschlossen.«
»Das ist nett von Ihnen. Das hilft mir sehr, wissen Sie.«
»Ich glaube, der Idiot war vor allem er selbst.«
»Wie bitte?!«
»Clauzet hat ihn dazu gebracht, sich wie der letzte Idiot zu fühlen. Clauzet hat sich eigentlich nur verhalten wie der Idiot, der er ist. Doch ich bin davon überzeugt, dass Mathieu mit dem Schimpfwort sich selbst gemeint hat, als er aus dem Zimmer rannte. Clauzet hat seine geheimsten Ängste in Worte gefasst.«
Ich fabuliere drauflos. Ich schmücke aus. Ich begreife nicht, wieso ich plötzlich so schulmeisterlich und selbstsicher daherrede. Ich entdecke mein Talent zum Lügen. Zum Romanschriftsteller. Mathieu ist gerade zu meiner Romanfigur geworden. Ich tauche in seine Gedanken ein. Und es ist seltsam amüsant — bis zu dem Moment, als ich den Blick von Patrick Lestaing auffange, der nun kein bisschen geistesabwesend mehr wirkt. Sondern im Gegenteil schrecklich präsent. Ich habe einen wunden Punkt berührt. Er hat feuchte Augen. Ich erlebe es zum ersten Mal. Ich merke, welche Schäden ich anrichten kann. Ich gerate in Panik. Ich stottere, dass das natürlich nur Vermutungen sind, ohne jede Grundlage, total absurd. Ich rudere zurück. Ich entschuldige mich. Patrick Lestaing sagt mit gebrochener Stimme, das sei nicht nötig. Es könne durchaus sein, dass ich recht habe, und in diesem Fall, ja, seien sie verantwortlich, seine Mutter und er, sie hätten ihn falsch erzogen, ihm nicht genügend Selbstbewusstsein gegeben, kein Vertrauen in seine Fähigkeiten, sie hätten zu viel Gewicht auf das gelegt, was nicht ging, was fehlte, und nicht genug auf all das Glück, das er ihnen schenkte.
»Hören Sie, es tut mir leid, wirklich. Das sind Dinge, die mich nichts angehen.«
»Nein, nein. Es tut mir gut, mit Ihnen zu reden. Es hilft mir, die Sache etwas klarer zu sehen. Glauben Sie, ich wüsste nicht, was das alles auch für Sie bedeutet? Ich ...ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Das brauchen Sie nicht.«
»Ich werde jetzt ins Hotel zurückgehen. Seien Sie mir nicht böse. Ich brauche etwas Zeit. Und ich muss schlafen. Und meine Medikamente nehmen. Aber wir sehen uns morgen doch wieder, oder? Nein, morgen ist Samstag, da muss ich nach Blois zurück. Ich ...ich wollte gerade umziehen, als es passiert ist. Im Januar will ich ein neues Leben anfangen, in Bordeaux. Neue Arbeitsstelle, neue Partnerin. Jetzt ist alles in der Schwebe. Ich weiß nicht mehr, was ich kann und wozu ich Lust habe. Zum Glück habe ich meine Älteste. Sie ist diejenige, die ...Immerhin ist sie uns geblieben. Sie ...sie braucht mich sicher noch, nicht?«
Dieses »nicht?« am Ende seines Satzes gab mir den Rest. Meine Mutter unterstreicht ihre Sätze auch mit »nicht?« oder »nicht wahr?«. Sie sucht ständig nach Bestätigung. Zum ersten Mal habe ich mich gefragt, ob ich später wirklich mal Kinder haben möchte. Ständig beurteilt werden möchte. Die ganze Zeit Angst haben. Angst, mich zu täuschen. Angst um das Leben eines anderen.
Ich stand auf, Patrick Lestaing ebenfalls. Doch statt ihm die Hand zu geben, habe ich ihn umarmt. So blieben wir mehrere Minuten lang stehen, von den Kellnern der Bar beäugt. Ich habe gewartet, bis Patrick Lestaing aufhörte zu weinen. Dann ist er sehr schnell gegangen, mit gesenktem Kopf. Auf der Straße war es kalt. Ich rief Paul an. Er schlief noch nicht. Er hatte auf meinen Anruf gewartet. Er hat keine Fragen gestellt. Seine Eltern waren zurück, hatten sich aber in die Bibliothek zurückgezogen. Wir haben bis spät in die Nacht gearbeitet. Englisch gelernt. Latein. Fremde Sprachen, ob tot oder lebendig, mildern die Realität ab.