»Du nimmst in meinem Leben einfach zu viel Platz ein.«
Das sagte er mit einem etwas traurigen Lächeln. Er senkte den Blick. Und er fügte hinzu, er erwarte nicht, dass ich ihn verstehe. Ich legte ihm eine Hand in den Nacken. Ich verstand ihn nur zu gut. Auf diese Weise hat Paul mich aus seinem Leben hinauskomplimentiert. Mit aller Sanftheit, zu der er fähig war. Er hatte in der ersten Ferienwoche darauf gewartet, dass ich mich melde. Er wusste nicht, wo ich war. Meine Eltern haben ihm am Telefon gesagt, ich sei mit Freunden im Südwesten. Ich hatte ihm nichts davon erzählt. Er fühlte sich hintergangen. Ich hätte leugnen, erklären, mich rechtfertigen können. Habe ich aber nicht getan. Dafür hätte ich Wochen zurückgehen müssen, ihm von meinen abendlichen Gesprächen in Bars mit Patrick Lestaing erzählen müssen, von dieser lächerlichen Lust, den Platz des fehlenden Puzzlestücks einzunehmen, von diesem Gefühl eitler Nützlichkeit — aber kein Wort der Welt hätte diese merkwürdige Anhänglichkeit jemals erklären können. Deshalb zuckte ich nur mit den Schultern und sagte leise, er tue mir leid, wirklich sehr leid. Aber das war Paul gegenüber natürlich gar nicht nötig. Er machte mir keine Vorwürfe. Er machte sich selbst Vorwürfe. Weil er es nicht geschafft hatte, mich an der Peripherie seines Lebens zu halten. Weil er mir einen immer größeren Einfluss auf sein Leben eingeräumt hatte. Weil er mir erlaubt hatte, bei ihm zu übernachten, im Zimmer seines Bruders. Weil er so dumm gewesen war, sich in mich zu verlieben, obwohl die Sache von vornherein aussichtlos war. Er wiederholte, ich hätte mir nichts vorzuwerfen, das Problem sei er, sei immer er selbst, er hatte sich inzwischen geschworen, sich nur noch in Jungs zu verlieben, mit denen eine richtige Beziehung möglich war, das würde sein Leben revolutionieren. Im Übrigen hätte er in ein paar Stunden ein Rendezvous. Mit jemandem, den ich nicht kannte. Lachend sagte ich, er müsse mir keine Details erzählen, das alles sei absolut verständlich.
»Aber du kannst heute Nacht noch einmal hier schlafen, wenn du möchtest.«
»Nein, das ist nett von dir, Paul. Du bist überhaupt sehr nett. Das hat mich wahrscheinlich am meisten überrascht an dir, als ich dich näher kennenlernte: deine Liebenswürdigkeit. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde in Nanterre schlafen.«
»Ich nehme es mir übel.«
»Was denn?«
»Das ändert jedoch nichts an allem anderen. Das ...nun ja, unsere Freundschaft, unsere Gespräche, die Bücher ...Alles bleibt, wie es war.«
»Klar.«
Manchmal hat man Lust, »klar« zu sagen, einfach so, um sich zu beruhigen. Wir wussten beide, dass wir uns nach und nach voneinander lösen würden, dass in einigen Monaten nur noch flüchtige Erinnerungen übrig wären, Satzfetzen von Gesprächen, gestohlene Porträts, die niemand fotografiert hatte.
Immer noch mit dem Rucksack auf dem Rücken stand ich vor dem Gebäude, in dem Paul wohnte, und holte tief Luft. Ich roch Paris, den Winter. Mir war nicht danach, wieder in die S-Bahn zu steigen und ins leere Studentenwohnheim zu fahren — die anderen waren sicher alle noch in den Ferien. Es war Montagnachmittag. Ich stieg in den Zug und fuhr in die Provinz. Meine Eltern freuten sich, mich zu sehen.
Und in ihrer Wohnung erhielt ich am nächsten Tag einen Anruf von Anne Lestaing.