Die Ferien waren fast vorbei. Der Februar hatte sich auf Zehenspitzen davongeschlichen und einem März Platz gemacht, in dem die Sonne wieder an Kraft gewann. Mitten am Vormittag stieg ich am Bahnhof von Blois aus. Ich ging durch die Straßen und an der Loire entlang. Ich sagte mir, dass Mathieu hier gelebt hatte, in dieser Umgebung, und versuchte, ihn mir hier vorzustellen, doch es ist mir nicht gelungen. Er war schon weit weg, Mathieu, unmerklich entschwunden. Vier, fünf Monate sind in gewissen Lebensphasen wie das andere Ende der Welt. In diesen Jahren verändert sich alles rasend schnell.
Um zwölf Uhr traf ich mich mit Anne Lestaing. Sie hatte den Nachmittag freigenommen. Sie arbeitete als Sprechstundenhilfe. Sie vergab Termine, fragte nach den Symptomen und verwaltete die Karteikarten der drei Ärzte, für die sie arbeitete. Seit Mathieus Tod waren ihre Arbeitgeber von einer Fürsorglichkeit, die ihr gar nicht gefiel. Ihr einziger Wunsch war, hin und wieder einen Spaziergang in der Natur machen zu können. Eine gestohlene Stunde, nur für sich allein. Wie an diesem Nachmittag. Sie ging sehr gern im Wald von Chambord spazieren. Hier, inmitten der Bäume und mit dem Schloss in der Ferne, konnte sie neue Kraft schöpfen. Sie verglich ihr persönliches Drama mit den großen Tragödien der Weltgeschichte, und das tat ihr gut. Ihr wurde bewusst, dass wir überall und ständig über Knochen und zermalmte Schicksale gingen, manchmal von Kindern, die noch sehr viel jünger gewesen waren als Mathieu; noch vor wenigen Jahrhunderten wäre Mathieu mit seinen achtzehn Jahren quasi in reifem Alter gestorben.
Das alles hat sie mir später erzählt.
Als wir uns um zwölf Uhr trafen, stand sie einen Moment lang regungslos da und musterte mich von Kopf bis Fuß, mit leicht hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich hatte Sie mir anders vorgestellt.«
»Und wie?«
»Nicht so normal ...Ich meine ...Verstehen Sie, was ich sagen will? Irgendwie verstörter ...weniger vor Gesundheit strotzend.«
»Beruhigt Sie das?«
»Nicht wirklich, junger Mann. Kommen Sie, gehen wir etwas essen!«
Wir gingen in eine Pizzeria in der Innenstadt. Sie war sehr voll, doch der Wirt eilte sofort zu uns und wies uns ein ruhiges Plätzchen zu, ganz hinten im Nebenraum. Anne Lestaing lächelte kurz und erklärte mir, das sei eines der Privilegien einer Mutter, die vor kurzem ihr Kind verloren hat. Die Leute behandelten sie mit großer Rücksicht. Sie war in dieser Provinzstadt eine Berühmtheit geworden — als Frau, der das Schicksal übel mitgespielt hat. Indem man sie mit Samthandschuhen anfasste, hoffte man, sich die Gunst der Götter zu sichern.
»Und Sie? Hat Ihnen Mathieus Selbstmord auch Vorteile gebracht?«
Es war das erste Mal, wie ich glaube, dass jemand so offen darüber sprach; das erste Mal, dass das Wort »Selbstmord« fiel und man ihn nicht unter Metaphern begrub, als »Sprung«, »unüberlegte Tat« oder als »Ausweg« bezeichnete. Es war auch das erste Mal, dass mir diese Frage so direkt gestellt wurde. Ich sah auf den Boden und schluckte. Mit meiner Selbstsicherheit war es vorbei. Als ich ihre Frage beantwortete, klang meine Stimme so dünn wie ein Faden.
»Ja, in gewisser Weise. Ich ...ähm, nicht vorsätzlich. Es hat sich so ergeben ...«
»Gut, das ist gut. Es gefällt mir, dass Sie nicht lügen. Es wäre so leicht. Ich werde so oft belogen. Wenn die Leute jetzt mit mir reden, muss ich Dutzende Schichten Heuchelei abkratzen, um auf ein Fünkchen Ehrlichkeit zu stoßen. Noch eine Frage. Hatten Sie ein Verhältnis mit meinem Sohn?«
»Nein.«
»Ihr wart nur befreundet?«
»Nicht wirklich, nein. Noch nicht ...Ich ...Wissen Sie, Mathieu war ja erst seit anderthalb Monaten in Paris. Wir hatten gar nicht die Zeit, uns richtig kennenzulernen.«
»Und ihr wart nicht mal in derselben Klasse, richtig?«
»Nein, wir haben uns immer nur in den Pausen gesehen. Und zusammen geraucht. Wir haben nicht viel geredet. Aber ich war vermutlich der Mensch, mit dem er den ganzen Tag über am meisten geredet hat.«
»Ah, verstehe. Aber wie kommt es dann, dass diese noch zarten freundschaftlichen Bande dazu führten, dass Sie eine Woche Urlaub machten in Les Landes, bei Mathieus Vater?«
Ich biss die Zähne zusammen. Ich schaute an die Decke, weil ich von Emotionen überwältigt wurde und keinesfalls die Fassung verlieren wollte. Ich sagte die nackte Wahrheit — dass ich es selbst nicht wisse.
Da kam der Kellner. Er nahm unsere Bestellung auf — meine, auf ihre abgestimmt —, und danach lehnte sie sich wieder zurück, um mich erneut zu mustern. Sie zündete sich eine Zigarette an — eine John Player Special —, und das versetzte mir einen Stich. Dann wandte sie leicht den Kopf ab, um den Rauch auszuatmen, ehe sich ihr Blick wieder in meinen bohrte.
»Sie verstehen schon, dass das irgendwie krank ist, hoffe ich.«
Ich zuckte mit den Schultern. Und sagte ihr, dass ich es nicht so sah. Sie erwiderte, es gebe nicht viele andere Möglichkeiten, es zu sehen. Ein Familienvater, dessen Sohn sich umgebracht hat, trifft sich regelmäßig mit einem entfernten Freund seines Sohnes. Das ist dubios, wenn nicht gar sexuell motiviert. Und sie wusste sehr genau, dass es das nicht war. So weit kannte sie ihren früheren Mann immerhin.
»Was suchen Sie, Victor? Ich darf Sie doch Victor nennen, oder?«
»Ich suche nichts, Madame.«
»Wenn ich Sie Victor nenne, dann seien Sie doch bitte so nett und nennen mich Anne.«
»Ich ...Es ist schwer zu erklären ...Ich habe das Gefühl, dass wir einander helfen können.«
»Eine nette Idee, aber illusorisch. Und vollkommen idiotisch. Da kommen Sie und wollen Mathieu ersetzen. Nein, das kann ich nicht akzeptieren.«
»Ich wollte nie ...«
»Aber das muss Ihnen doch klar sein, verdammt nochmal!«
Sie war laut geworden, mitten im Restaurant. Ihre Augen funkelten vor Zorn, aber da war noch mehr. In ihren Augenwinkeln schimmerten auch all die Tränen, die sie seit dem Beginn unseres Gesprächs unterdrückt hatte. Ich wurde rot. Der Ausdruck »jedes Schamgefühl verloren haben« kam mir in den Sinn. Und das hatte ich wirklich. Ich schluckte trocken und verzog das Gesicht.
»Tut mir leid.«
»Mir auch.«
Ihre Empörung hatte sich gelegt. Zurück blieb nur eine große Traurigkeit — und der Eindruck eines heillosen Schlamassels. Sie ergriff wieder das Wort. Ihre Stimme schwankte hin und wieder noch leicht, doch insgesamt klang sie gefasster, fast nüchtern. Sie erzählte mir, wie es am Anfang gewesen war, die Schockstarre, die vielen Male am Tage, wenn sie mit Mathieu redete, ohne sich bewusst zu sein, dass er nicht mehr da war. Sie sprach auch von Patrick Lestaing. Sie sagte, sie wolle mich nicht in die Bredouille bringen. Sondern mir nur ein paar nützliche Informationen geben. Die Wörter, die sie verwendete, waren kühl, fast rechtssprachlich.
»Was hat er Ihnen von mir erzählt?«
»Nicht viel, ehrlich gesagt. Dass Sie glauben, Ihre Trennung sei die Ursache für Mathieus Depression gewesen, und wenn Sie sich nicht hätten scheiden lassen, wäre Mathieu nicht gesprungen.«
»Falsch. Ich meine, so aus dem Kontext gerissen, ist es stark vereinfachend.«
»Ich ...ich kann mich nicht genau an alles erinnern.«
»Das macht nichts. Aber Sie müssen wissen, dass Patrick die Realität gern verzerrt. Gut, das machen wir alle, seien wir ehrlich, aber bei ihm ist es bisweilen sehr ausgeprägt. Wissen Sie, wir sind faktisch seit Jahren getrennt. Seiner Karriere wegen hatte er sich nach Paris versetzen lassen und wurde zum Pendler. Er fuhr frühmorgens weg und kam abends sehr spät zurück. Mathieu hat ihn unter der Woche kaum gesehen. Und am Wochenende war es nicht besser, denn jeder hatte das eine oder andere zu tun. In gewisser Hinsicht ist Mathieu ohne Vater groß geworden. Das hat er ihm letztes Jahr übrigens vorgeworfen. Sie haben sich sehr harte Worte an den Kopf geworfen, es war ein Streit, wie sie ihn nie zuvor gehabt hatten. Mathieu hatte erfahren, ich weiß nicht, wie, dass mein Exmann eine Beziehung hatte, und dass er hauptsächlich deshalb nach Blois zurückversetzt werden wollte — um seine Geliebte häufiger zu sehen, nicht wegen seiner Familie. Ich persönlich denke, dass beide Gründe eine Rolle spielten, doch Mathieu sah es anders. Mit siebzehn, achtzehn sieht man die Dinge oft radikaler, es gibt nur Schwarz oder Weiß. Ich war komischerweise nicht so kritisch seinem Vater gegenüber. Ich liebe Patrick schon lange nicht mehr. Wir kennen uns seit dem Gymnasium, und unser gemeinsamer Weg war längst zu Ende, wir wussten beide ganz genau, dass wir nur der Kinder wegen noch zusammenblieben, weil es einfacher und auch kostengünstiger war. Das war nicht besonders rühmlich, ich weiß.«
Unser Essen kam. Sie hat ihre Zigarette ausgedrückt, sich kurz überlegt, ob sie die nächste anzünden sollte, dann aber darauf verzichtet. Sie sah mich immer wieder an. Ich bemühte mich, die Fassung zu bewahren.
»Sie sind in einer seltsamen Situation, nicht wahr, Victor? Sie müssen sich anhören, wie Ihnen ein Ehemann und seine Frau ihr Herz ausschütten ...Wie kommt das? Sind Sie Waise?«
»Nein.«
»Haben Sie den Kontakt zu Ihren Eltern abgebrochen?«
»Der ist von allein eingeschlafen, und das schon vor einiger Zeit. Wir gehen unterschiedliche Wege.«
»Und deshalb brauchten Sie ...ja, was eigentlich? Was kann man bei einem Vater finden, der kürzlich seinen Sohn verloren hat?«
»Ich weiß nicht ...einen Platz?«
In einer hilflosen Geste schüttelte ich den Kopf.
Auf einmal begannen meine Augen zu brennen, und ich wandte mich ab, um das Unvermeidliche zu vermeiden, doch es war schon zu spät, die Tränen begannen zu fließen, stumme, aber volle Bächlein. Ich konnte es nicht fassen, so viele Tränen, seit wann waren sie da gewesen? So lange schon hatte ich nicht mehr geweint, und jetzt begannen sie dummerweise zu fließen, in diesem Restaurant, in dieser Stadt, die ich gar nicht kannte, vor dieser Frau, von der ich gar nichts wusste, zu einem völlig unpassenden Zeitpunkt.
Die Hand von Anne Lestaing auf meinem Arm, dann an meiner Wange. Die Welt war auf den Kopf gestellt. Normalerweise hätte ich sie trösten müssen.
»Es ist schwierig für alle, hm?«
»Wie dumm von mir. Ich ...ich habe noch nie eine Tragödie erlebt, ich war nie wie Sie mit einem gewaltsamen Tod konfrontiert, mit ...ich meine, ich sollte nicht ...«
»Hat Ihnen das gefehlt, eine Geschichte zum Erzählen, Worte, um damit Ihre Einsamkeit zu überdecken?«
»Kann sein. Es ist so kompliziert. Eines Abends, eine Woche nach Mathieus Tod, bin ich ins 747 gegangen, das Café neben dem Lycée, und dort saß Ihr Exmann, und es war, als hätte er mich erwartet.«
»Ja, ich weiß. Anfangs hatte er sich in den Kopf gesetzt, sämtliche letzten Spuren von Mathieu zu verfolgen. Um seinen Weg bis zum Selbstmord nachzuvollziehen. Die Menschen zu treffen, die Mathieu zuletzt gesehen hatte. Ich fand es krankhaft. Aber ich konnte keinem etwas vorschreiben, ich war ebenfalls völlig orientierungslos — und bin es immer noch, ich habe kein Ziel mehr. Aber ich glaube, dass es Patrick geholfen hat, einfach durch die Straßen zu gehen oder mit Ihnen zu reden. Anfangs. Er hat mir am Telefon davon erzählt, denn natürlich haben wir danach wieder häufiger miteinander telefoniert. Ich habe mich gefragt, was Mathieu wohl dazu gesagt hätte, dass wir uns wieder angenähert hatten. Ich war nicht davon überzeugt, dass er sich darüber gefreut hätte. Wissen Sie, in den letzten Jahren, nachdem Mathieus Schwester zu Hause ausgezogen und sein Vater die ganze Woche über in Paris war, haben wir fast wie eine Art Paar gelebt, Mathieu und ich. Wir haben es uns gemütlich gemacht. Und wenn wir uns am Abend sahen, haben wir zusammen einen Aperitif getrunken, er einen Orangensaft, ich einen Martini Bianco. Und jeder hat von seinem Tag erzählt. Wir haben Meinungen ausgetauscht, zusammen gekocht und dabei irgendwelche Schlager vor uns hin gesummt. Wirklich. Das ist es, was mir am meisten fehlt. Diese Vertrautheit. Aber mit der war es ohnehin schon vorbei. Er war nach Paris gezogen. Ich lebte allein oder fast allein. Paris. Das war auch eine Idee von Patrick gewesen. Er sagte, in Blois gebe es keine Herausforderungen, er sagte es gern auf Englisch: challenge. Es gebe keine challenge. Er sagte, wenn man keine Gegner habe, mit denen man sich messen kann, sei es ein ruhmloser Sieg, man müsse sich einem gesunden Wettbewerb stellen, seine Ziele hoch stecken, die Hauptstadt, die Vorbereitungsklassen, sein Sohn müsse zu einem Adler werden, mit den Raubvögeln fliegen ...all diesen Schwachsinn, Sie wissen sicher, wovon ich rede, Ihre Eltern haben Ihnen vermutlich dasselbe erzählt ...«
»Meine Eltern wissen kaum, was eine Vorbereitungsklasse ist.«
Sie saß einen Moment lang ganz ruhig da, weil sie offenbar ihr Bild von mir revidieren musste, dann sagte sie leise, das sei vielleicht ganz gut so, denn wie es schien, hätten sie ihre Sache besser gemacht als sie, denn ich sei immerhin noch am Leben. Ich nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln. Ich hatte keine Lust mehr, als Zeuge herzuhalten, quasi vor einem Gericht zu stehen. Ich hatte ebenfalls ein paar Fragen auf dem Herzen. Wollte Dinge erfahren.
»Haben Sie jemals damit gerechnet, dass Mathieu ...«
»Springen würde? Denken Sie doch mal nach! Wenn man weiß, dass jemand an so etwas denkt, würde man doch versuchen, ihn daran zu hindern. Vor allem wenn es das eigene Kind ist!«
»Ich wollte fragen, ob Sie gemerkt hatten, dass es ihm nicht gutging.«
Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Ihre Schultern zuckten leicht, als wenn ihr in diesem überhitzten Restaurant kalt wäre.
»Ja. Nein. Mathieu neigte zu Stimmungsschwankungen. Es war, als sei er ständig auf Berg-und-Tal-Fahrt. Im vorigen Winter waren wir deshalb beim Arzt. Der hat Adoleszenz als Krankheit diagnostiziert. Lächelnd schüttelte er mir die Hand und sagte, es würde sich irgendwann legen. Ich fand, er hatte es sich etwas zu einfach gemacht, denn schließlich hatte ich bereits bei Sabine, meiner Ältesten, miterlebt, was Adoleszenz bedeutet, und bei ihr war es ganz anders gewesen, aber gut, sie war ein Mädchen, das macht vielleicht einen Unterschied. Ich habe mir eingeredet, der Arzt würde es schon wissen und ich müsse Geduld haben. Wissen Sie was, Victor? Ich bin erstaunt, dass ich so offen zu Ihnen bin. Sie scheinen die Gabe zu haben, dass man sich Ihnen anvertraut. Ich beginne zu begreifen, was Patrick an Ihnen fand. Aber egal. Normal ist es nicht. Ihre Woche in Biscarrosse, die finde ich nun wirklich nicht normal.«
»Ich ...ich hatte auch etwas davon, es war nicht ganz selbstlos. Ich ertrage Paris kaum noch. Das Studium. Ich habe mich irgendwie zerfranst.«
»Victor, ich habe Sie hierhergebeten, weil ich mir Sorgen um Sie mache. Nicht wegen Patrick. Patrick, der hat nur noch einen halben Grund zu leben. Er hinkt innerlich, und das wird er noch lange tun. Wie ich. Aber Sie, Victor, Sie haben in dieser ganzen Tragödie eigentlich nichts zu suchen. Sie können niemanden vor dem Untergang retten. Sie würden nur mit uns zusammen untergehen. Und das darf nicht sein. Sie haben Eltern, auch wenn ihr euch nicht sehr nahesteht, Freunde, mit denen Sie sich treffen können, die eine oder andere Liebesbeziehung, die Sie erwartet, eine Zukunft. Lassen Sie Patrick und mich weiter abdriften, jeder für sich, und suchen Sie das Weite! Jetzt höre ich auf. Ich höre mich richtig schulmeisterlich an.«
Sie hatte sich den ganzen Nachmittag freigenommen. Nach dem Mittagessen wollte sie einen kleinen Ausflug nach Chambord machen. Das machte sie dreimal pro Woche. Eine Sucht, sagte sie. Wenn sie dort unterwegs war, in dem ausgedehnten früheren Jagdgebiet rund um das Schloss, vergaß sie nach einer Weile alles: Mathieu, Patrick, ihr Leben, manchmal sogar ihren Namen; und das Vergessen war für sie das größte Geschenk. Wenn sie für ein paar Minuten aufhörte, Anne Cligny zu sein, Exfrau von Patrick Lestaing, die Mutter eines Jungen, der am Fuß einer Treppe zerschellt war, nachdem er seinen Französischlehrer als »Idiot« beschimpft hatte — dann war ihr Tag gerettet. Sie erwartete vom Leben nicht mehr, als jeden Tag ein bisschen besser atmen und sich etwas länger vergessen zu können. Sie wäre zu gern schon alt gewesen, im Kopf nicht mehr ganz klar, sodass sie die Tage und Jahreszeiten verwechselt und niemanden mehr erkannt hätte.
Als wir losmarschierten, war es schon später Nachmittag. Man hörte es im Unterholz rascheln, in den Bäumen säuseln. Sie ging mit großen, sicheren Schritten. Allmählich kannte sie alle Wege hier. Sie fragte mich, wie es im Lycée lief. Ihr gegenüber habe ich nichts verschwiegen. Weder die Tatsache, dass ich vermutlich durchfallen würde, was ich mir fast wünschte, noch dass sich bei uns absolut gar nichts verändert hatte, diese Starrheit für unsere Kurse charakteristisch zu sein schien. Nach dem, was ich von den Leuten der ersten Vorbereitungsklasse hörte, hatte sich der »Idiot« Clauzet kein bisschen verändert. Das fanden alle empörend, doch auch für sie vergingen die Wochen, sie waren mit Arbeiten eingedeckt, ihr Schicksal zeichnete sich ab, und sie hatten weder die Zeit, auf Abstand zu gehen, noch sich zu mobilisieren. Sofern sie es überhaupt gewollt hätten.
»Er kommt von Zeit zu Zeit, wissen Sie.«
»Wer?«
»Clauzet.«
»Wie bitte?!«
»Er hat uns einen langen Brief geschrieben, in der Woche nach Mathieus Tod. Wir, Patrick und ich, dachten, er würde sich vor allem rechtfertigen und jede Verantwortung von sich weisen, falls wir uns mit der hirnrissigen Absicht trügen, ihn wegen Psychoterrors anzuzeigen, oder Ähnliches. Aber nein, wir hatten uns getäuscht. Er kroch richtig zu Kreuze. Ich habe ihm geantwortet, eine kurze Karte. Er hat insistiert. Ein zweiter Brief. Ein dritter. Und dann ein Anruf und noch einer. In den Weihnachtsferien ist er nach Blois gekommen. Er wollte an Mathieus Grab. Wir sind zu dritt hingegangen. Er hat viel geweint. Ich dagegen hatte längst keine Tränen mehr.«
Ich blieb stehen, völlig verblüfft. Sie redete, fast lächelnd, weiter.
»Ich wusste, dass es Sie überraschen würde, aber wissen Sie, Victor, die Welt bewegt sich unmerklich, die Erde dreht sich, ohne dass ihre Bewohner es merken; und dasselbe gilt manchmal auch für die Menschen.«
»Glauben Sie, dass Clauzet auch seine Drehung gemacht hat?«
»Ich weiß nur, dass er seine Versetzung beantragt hat. Er will an die Universität, in Paris oder in der Provinz, egal wo, er will sich diesem Wettbewerbsklima entziehen, aus dem Spiel aussteigen, wie er sich ausdrückte.«
»Komisches Spiel.«
»Nicht wahr?«
»Ich bin baff.«
»Aber, Victor, Sie haben doch auch niemandem gesagt, dass Sie sich mit meinem Mann getroffen haben, abends, in den Kneipen von Paris, oder? Wissen Ihre Eltern davon?«
»Nein. Ich ...«
»Tja, wie Sie sehen, sind Sie und Clauzet sich gar nicht so unähnlich, wie Sie denken. Wir haben ein- oder zweimal auch von Ihnen gesprochen. Er findet Sie sonderbar. Weniger harmlos, als Sie sich gern geben. Entschlossen und zartbesaitet, eine komische Mischung.«
»Ich hätte gewettet, dass er mich für einen uninteressanten ›Tagelöhner‹ hält.«
»Fehlanzeige. Er würde zum Beispiel gern wissen, was Sie nächstes Jahr vorhaben.«
»Mich ebenfalls entziehen.«
»Pardon?«
»Alles hinter mir lassen, Paris, den Winter, dieses unentschlossene Lavieren, die Ungewissheiten. Ich möchte einen klar gezeichneten Weg beschreiten. Wissen, wohin ich gehe.«
»Das wird sich von selbst einstellen, Victor. Sofern Sie nicht über ein Geländer springen.«
»Dafür fehlt mir das Talent, Madame. Ich pflege Treppen zu Fuß hinauf- und hinunterzusteigen. Ich folge den Hinweisschildern.«
»Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube Ihnen nur halb. Clauzet denkt, dass Sie nicht das Zeug zu einem Universitätsdozenten oder Spezialisten haben, dass Sie es mit dem Romaneschreiben versuchen sollten. Er sagte sogar, das Romanhafte sickere aus all Ihren schriftlichen Arbeiten. Das analytische Denken komme bei Ihnen bisweilen zu kurz, weil Sie sich zu stark mit Ihren Figuren identifizieren und dem, was diese empfinden. Oh, aber jetzt ist es recht dunkel geworden. Wir sollten umkehren, nicht wahr? Ich freue mich, dass wir uns gesehen haben, Victor, auch wenn ich annehme, dass es zugleich das letzte Mal war. Sie werden mir gehorchen, nicht wahr? Sie werden sich aus dem Wespennest herauskämpfen, in das Sie sich verirrt haben und in dem Sie nichts zu suchen haben.«
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«
»Nein, das ist nicht die richtige Antwort, Victor. Also formuliere ich es anders. Versprechen Sie mir, dass Sie aus unserem Leben verschwinden. Wir brauchen keine weitere Person, die mit uns trauert.«
»Einverstanden.«
»Ich möchte, dass Sie es mir versprechen.«
Ich atmete die Abendluft im Wald von Chambord ein. In der Luft lag ein Hauch von Frühling, der bereits unter den letzten Schichten des Winters schlummerte. Ich versprach es ihr.