Bordeaux, den 8. Januar
Lieber Victor,
wie Sie am Absender sehen, bin ich inzwischen nach Bordeaux gezogen. Blois den Rücken zu kehren ist mir nicht leichtgefallen, doch ich glaube, dortzubleiben wäre noch schwerer gewesen. Vorläufig und zumindest bis zum Sommer lebe ich hier allein und kann somit nur mir selbst zur Last fallen. Meine neue Partnerin kommt eventuell im Juli nach. Seit Mathieus Tod ist es schwieriger geworden zwischen uns. Ich bin distanzierter. Das macht ihr zu schaffen, sie weiß nicht, was sie mit einem trauernden Vater anfangen soll. Wir hatten uns vorgenommen, in unserer Beziehung der reifen Jahre nur das Beste zu teilen, und haben nun aber nur das Schlimmste geerntet. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, aber das weiß schließlich niemand.
Ich versuche, meine Dosis an Beruhigungsmitteln allmählich zu reduzieren. Das ist eine mühselige Sache, doch ich brauche ein Minimum an geistiger Klarheit, wenn ich der Arbeit, die mich hier erwartet, gewachsen sein will. Ich bin für ein Dutzend Vertreter verantwortlich und muss mich dieser Verantwortung stellen. Ich hoffe auch, dass es mir helfen wird zu vergessen, wenn ich mich in die Arbeit stürze. Aber das muss ich Ihnen nicht erklären, Sie wissen es besser als ich.
Inzwischen fahre ich auch wieder Auto, sehr vorsichtig noch. Ich entdecke meine neue Umgebung. Der Wind, der am Horizont dahinfegt, die kahlen Dünen, die Wolken, die über den Himmel jagen, die kilometerlangen Pinienwälder, die einsamen Straßen — das alles gefällt mir sehr. Mir fehlt nur Mathieu. Und auch Sie fehlen mir, so erstaunlich das auch klingt, wenn man unseren Altersunterschied bedenkt und dass wir uns normalerweise nie getroffen hätten. Manchmal denke ich mir, dass es ein Zeichen von Mathieu ist, wo immer er auch sein mag, der mich zu Ihnen geführt hat, um mich über seinen Verlust hinwegzutrösten. Ich bin mir nicht sicher, ob es Ihnen überhaupt recht ist, und falls nicht, hätte ich volles Verständnis dafür.
Ich schreibe Ihnen, Victor, um Ihnen zu sagen, dass ich nun nicht mehr sehr häufig nach Paris kommen kann. Bordeaux ist weit weg. Andererseits weiß ich auch nicht, ob es mir besonders guttut, durch die Straßen der Hauptstadt zu streifen, wo ich eigentlich nur ständig über die Vergangenheit nachbrüte. Eher nicht. Aber ich möchte nicht, dass Sie den Eindruck haben, ich würde Sie im Stich lassen. Da ist mir diese dumme Idee gekommen. Sagen Sie mir ruhig ganz offen, was Sie davon halten. In anderthalb Monaten, wenn ich mich nicht irre, fangen Ihre Winterferien an. In diesem Zeitraum könnte ich ein paar Tage freinehmen. Ich bin inzwischen fast mein eigener Herr, und außerdem würde es niemand wagen, mir nach all dem, was passiert ist, zu verbieten, mich auszuruhen, und bis dahin habe ich sicher Dutzende Überstunden. Ich werde ein Haus in Les Landes mieten, eine Stunde von Bordeaux entfernt — kennen Sie diese Gegend? Außerhalb der Saison ist es eine urwüchsige, einsame Region. Wir könnten am Strand oder in den Wäldern spazieren gehen und unsere Gespräche da wiederaufnehmen, wo wir sie unterbrochen haben. Ich glaube, diese Aussicht ist eine Art Lichtstrahl, der mir durchzuhalten hilft, aber ich würde es natürlich voll und ganz verstehen, wenn Sie mir einen Korb gäben, aus tausend Gründen, die ich bereits im Voraus kenne. Ich bin nicht Ihr Vater. Sie haben bereits Eltern. Das alles ist seltsam und vielleicht unangebracht. Es war schon überaus freundlich von Ihnen, mich überhaupt bis jetzt ertragen zu haben.
Nichtsdestotrotz: Sollte Ihnen mein Vorschlag zusagen, zögern Sie nicht, es mich wissen zu lassen. Sie können mir schreiben oder mich auf der Nummer unten anrufen. Ich hoffe, dass Ihr Leben in Paris wieder seinen normalen Gang geht, dass Sie neue Freunde finden und vor allem Ihr Leben und Ihren Schlaf nicht dafür opfern, um Französisch- oder Philosophiearbeiten zu schreiben, die diese Mühe eigentlich nicht wert sind. Überlegen Sie sich, was wirklich wichtig ist. Denken Sie an die Gegenwart, nicht an die Zukunft. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, und es steht mir auch nicht zu, Ihnen irgendwelche Ratschläge zu geben. Oder vielleicht doch. Noch eine Bitte: Wenn Sie Monsieur Clauzet treffen (schon beim Schreiben seines Namens stockt mir die Feder), richten Sie ihm bitte keinen Gruß von mir aus. Lassen Sie es sich gutgehen. Ich würde mich sehr freuen, Sie bald wiederzusehen.
Freundschaftliche Grüße
Patrick Lestaing
Ich hatte diesen Brief schon vor drei Tagen erhalten. Ich hatte noch immer nicht geantwortet und trug ihn in der Innentasche meines Wintermantels mit mir herum. Manchmal berührte ich ihn, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Er war mein Talisman, genau wie Pierres Satz damals, als wir zusammen in einer Bar waren. Ein anderes Leben war möglich. Ein anderes Leben würde sich abzeichnen.
Ich hatte noch immer mit niemandem gesprochen — von meinen regelmäßigen Treffen damals mit Patrick Lestaing hatte niemand etwas mitbekommen. Ich spielte mit dem Gedanken, seine Einladung anzunehmen — dann wieder wollte ich lieber absagen. Doch eines wusste ich ganz sicher: Ich wollte die Ferien auf gar keinen Fall wieder so verbringen wie die Weihnachtsferien. Diese Einsamkeit. Diese erstickende Atmosphäre.
Der Brief steckte noch immer gefaltet in meiner Innentasche, als Madame Sauge mich nach der Stunde bat, noch zu bleiben. Sie müsse mit mir reden. Zum ersten Mal. Ich fragte mich, womit ich mir diese Ehre verdient hatte. Mir schwante, dass es um die Ergebnisse der Testklausuren gehen würde. Und ich hatte recht. Und auch unrecht.
»Ihre Leistungen bei den Testklausuren liegen weit unterhalb Ihrer Möglichkeiten, Victor.«
»Bedaure, Madame. Aber vielleicht sind meine Möglichkeiten doch eher beschränkt.«
»Hören Sie auf mit Ihrem trotzigen Sich-Schlechtmachen, das ist kindisch. Ich habe etwas Besseres von Ihnen erwartet.«
»Ich tue mein Bestes, Madame.«
»Sind Sie sicher?«
»Pardon?«
»Ich wünschte mir, Sie würden sich weiterhin auf Ihre Ziele konzentrieren und sich nicht links und rechts ablenken lassen.«
»Meine Ziele sind nicht sehr klar definiert, Madame.«
»Oh, seltsam, ich dachte, sie seien im Gegenteil offensichtlich. Sich aus der gesellschaftlichen Klasse lösen, Orte frequentieren, die man für unerreichbar hielt, einen eigenen Weg finden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir all das wünsche, Madame.«
»Gut, Sie haben recht. Manchmal sieht man in den Perspektiven der anderen nur den Weg, den man selbst zurückgelegt hat.«
»Das ist also Ihre Geschichte, Madame?«
»Hören Sie auf mit diesem ständigen ›Madame‹!«
»Ich wüsste nicht, wie ich Sie sonst anreden soll.«
»Lassen Sie es einfach weg. Und ja, ich komme aus Nevers. Never, auf Englisch, wie Sie zweifellos wissen. Und ich kehre nie dorthin zurück. Ich mache mir Sorgen um Sie, Victor.«
»Ich ...Das brauchen Sie nicht. Ich habe einen gesunden Menschenverstand. Ich werde nicht über ein Geländer springen.«
»Richtig. Es ist wegen dieses Vorfalls. Dieses Dramas. Das hat uns alle erschüttert.«
»Oh, aufseiten des Lehrkörpers ist davon nicht viel zu merken.«
»Sie sind alt und gebildet genug, um zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können. Wir müssen unsere Trauer nicht demonstrativ zur Schau stellen. Was hätten Sie sich gewünscht? Schwarze Toiletten? Oder ein Opferlamm, einen Sündenbock?«
»Sie meinen, dass sich die Gewalt ausnahmsweise mal gegen denjenigen richten sollte, der sie ins Spiel gebracht hat ...«
»Sie sind hart, Victor.«
»Und Sie, Sie sind feige. Bei allem Respekt, Madame.«
»Ich ziehe es vor, diese Aussage nicht gehört zu haben. Aber ich rate Ihnen dringend, wieder mehr ans Lernen zu denken.«
»Das tue ich andauernd. Aber es kommt mir vor, als sei ich nicht mit dem Herzen dabei.«
»Mit dem Herzen oder mit dem Verstand?«
»Verstand wohl eher. Sagen wir, dass sich die Tür öffnet und ich durchrenne.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Das ganze erste Jahr lang hat kein Mensch mit mir geredet. Seit ich aber als Freund des Opfers gelte, ist mein Beliebtheitsgrad enorm in die Höhe geschnellt. Das nutze ich aus. Ich existiere, also lebe ich.«
»Verirren Sie sich nicht auf diesem Weg, Victor. Das Leben ist sehr lang. Und je höher Sie steigen, desto weniger werden die Wechselfälle des Lebens Sie berühren.«
»Und umso härter wird der Absturz sein?«
»Ich bitte Sie: Ersparen Sie mir Ihre stereotypen Anspielungen. Das ist Ihrer nicht würdig.«
»Auf jeden Fall weiß ich zu schätzen, dass Sie sich Sorgen um mich machen. Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich mit Ihnen umgehen soll. Ich kann Sie nicht einschätzen. Aber das ist vielleicht ganz gut so. Ich habe ...Gut, es ist vielleicht ein etwas heikles Thema, aber im Gegensatz zu dem, was Sie glauben, bin ich ein recht offener und mutiger Mensch. Ich habe erfahren, dass Sie sich mit dem Vater von Mathieu Lestaing treffen. Regelmäßig.«
Ich wurde unsicher. Ich wusste, dass sie in unserem verbalen Gefecht gerade einen entscheidenden Treffer gelandet hatte und ich Probleme haben würde, wieder in den Sattel zu kommen. Wer? Wer hatte ihr das erzählt? Wer konnte mich gesehen haben? Natürlich hatten wir uns anfangs im 747 getroffen, doch dann haben wir bald die Treffpunkte verlagert, unseren Radius vergrößert und uns in den umliegenden Arrondissements getroffen. Und vor allem: Wen oder was ging das etwas an, abgesehen von ihm und mir?
Ich wurde wütend.
»Ich glaube nicht, dass das Ihr Bier ist, Madame Sauge.«
»Und ich glaube nicht, dass Mathieus Eltern Ihr Bier sind, junger Mann.«
»Ich würde mich bestimmt nicht mit Mathieus Vater treffen, wenn er mich nicht darum gebeten hätte. Ich denke, dass er das Verhalten hier am Lycée ziemlich ungehörig findet. Man hat ihn höflich empfangen. Man hat sich seine Beschwerden angehört. Und dann die Tür hinter ihm wieder zugemacht. Und das hat ihm kein bisschen geholfen, seinen Schmerz zu verarbeiten.«
»Und seinen Schmerz, den verarbeitet er jetzt mit Ihnen?«
Ein schneidender Ton. Ein tiefer Ast, der einen mitten im Galopp aus dem Sattel wirft. Ein eisiger Windhauch im Winter, am frühen Morgen, der einem ins Gesicht peitscht.
»Es mag Ihnen seltsam vorkommen, aber ja.«
»Weiß der Rest der Familie davon?«
»Pardon?«
»Sie haben meine Frage sehr wohl verstanden.«
»Ich ...ich weiß nicht recht, was Sie das angeht. Monsieur Lestaing ist geschieden, seine älteste Tochter ist ...Aber ich verstehe beim besten Willen nicht, was das hier soll ...Bedaure, doch dieses Gespräch nimmt eine Wendung, die mir gar nicht gefällt.«
»Mathieus Mutter hat den Rektor angerufen, der mich in meiner Funktion als Klassenlehrerin informiert hat.«
»Mathieus Mutter?«
»Sie hat sich über Sie erkundigt. Sie hat sich gefragt, was Sie wohl damit bezwecken. Ihr Exmann hat ihr von Ihnen erzählt. Sie findet diese Situation krank. Das ist sie auch, nicht wahr? Aber es ist nicht mein Leben. Jeder trägt sein eigenes Kreuz. Jeder geht seinen eigenen Weg. Aber ich wollte Sie warnen. Ich weiß nicht, welchen Abhang Sie hinuntergleiten, doch er kann schwindelerregend steil sein.«
»Solange ich noch Boden unter den Füßen habe, Madame, fürchte ich mich nicht. Es ist sehr viel schlimmer, wenn es nur noch ein Vakuum gibt und man sich nirgendwo mehr festhalten kann.«
»Ich mag Sie, Victor. Das wissen Sie. Sie können sagen, was Sie wollen, aber Ihnen ist doch bestimmt klar, dass sich viele Ihrer Lehrer in Ihrem Weg wiedererkennen. Passen Sie auf sich auf. Ich gebe Ihnen meine Adresse und meine Telefonnummer. Falls es Ihnen eines Tages mal nicht gutgeht, können Sie mich anrufen.«
Ich ertappte mich dabei, dass ich errötete und gleichzeitig lächelte. Mit leicht erstickter Stimme fragte ich:
»Auch noch in zehn oder zwanzig Jahren?«
»In zehn oder zwanzig Jahren werde ich alt sein und Sie Ihre besten Jahre erleben. Von Ihnen eingeladen zu werden wäre mir eine Ehre. Aber Sie würden als Gigolo dastehen.«
»Das ist vielleicht sogar meine Bestimmung.«
»Versuchen Sie es lieber mit der Literatur. Es ist besser, ein Meister der Illusionen zu werden als der Spielball seiner Umwelt.«
»Waren Sie schon immer so schlagfertig, Madame?«
»Nein, junger Mann. Ich musste es mir erarbeiten. Man muss seine Umwelt beobachten, lange. Das ist das Geheimnis.«
Wir hätten an dieser Stelle aufhören müssen, bei diesem Austausch bühnenreifer Floskeln. Sie hätte das Zimmer vor mir verlassen, hocherhobenen Hauptes, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich hätte ihre Haltung bewundert, ihren entschlossenen Gang — eine Frau mit Charakter. Doch wir blieben im Klassenzimmer stehen, ohne noch etwas zu sagen, fast Gesicht an Gesicht. Wir warteten darauf, dass die Spannung etwas nachließ. Ihre Wangen waren von ihrer Gefühlsaufwallung etwas gerötet. Ich zitterte leicht. Es war eine peinliche Konfrontation gewesen. Dieses Schweigen nun hätte noch peinlicher sein müssen, war es aber nicht. Wir fühlten uns wohl in diesem unangenehmen Moment. Wir hatten keine Lust, uns wieder dem Geschrei der Welt unten auf dem Hof zu stellen. Wir wollten dieses Intermezzo verlängern. Nach einer Weile lächelte sie und bückte sich, um ihre Tasche aufzuheben. Ich kam ihr zuvor. Sie murmelte: »Passen Sie auf sich auf, Victor«, und dann gingen wir zusammen auf den Gang hinaus. Es war kurz vor halb sechs. Das zweite Stockwerk war menschenleer. Wir warfen beide einen kurzen Blick zum Geländer. Da flüsterte sie:
»Jeden Tag, wissen Sie. Ich denke jeden Tag daran. Und ich werde jeden Tag daran denken, solange ich an diesem Lycée bin. Ich denke, ich werde mich versetzen lassen. Das spielt für Sie keine Rolle. Ich bezweifle, dass Sie die zweite Vorbereitungsklasse wiederholen werden. Und ich kann dann wieder besser atmen.«
Wir gingen die Treppe hinunter, ein absolut nicht zusammenpassendes Paar. Ich hätte mir gewünscht, dass jemand uns in diesem Moment fotografiert. Doch es war niemand da, aber ich hörte, wie mein Gedächtnis die Brennweite von selbst einstellte und auf den Auslöser drückte. Ich wusste, dass ich in jedem beliebigen Moment meines späteren Lebens nur die Augen schließen musste und wieder in diesem alten Kloster aus dem 17. Jahrhundert, das in ein Lycée umfunktioniert worden war, stehen würde, in diesem Treppenhaus, in dem es nach Salpeter und Bohnerwachs roch, an der Seite dieser Frau mittleren Alters, deren schwarze Aktentasche sie etwas zur Seite zog. Auch noch in zwanzig oder dreißig Jahren. Auch nach ihrem Tod. Denn in meiner Erinnerung waren wir Phantome. Spukgespenster.