Auf dem Bildschirm sehe ich zwei Augenpaare. Leonie und Oskar stehen kurz vor dem nächsten Schritt: Hochzeit. Wer diesen Schritt geht, möchte sich oft sicher sein. Denn obwohl sie vertraut und liebevoll miteinander umgehen und auch einige Meilensteine gemeinsam gemeistert haben, plagen Leonie Zweifel. Oskar erzählt von seinem Autismus und Leonie ergänzt: »Wir sprechen unterschiedliche emotionale Sprachen. Er hat schon viel gelernt und weiß jetzt besser, wie er auf mich zukommen kann. Aber manchmal …« Sie zuckt mit den Schultern, sein Blick geht zum Boden. Ansonsten regt sich wenig in seinem Gesicht. Autismus kommt aus dem Griechischen. Autos für »selbst« und ismos als Zustand oder Ort. So verbinden wir mit Autismus, dass Menschen in ihrer eigenen Welt leben.
Ein negatives Vorurteil ist deswegen oft, dass Menschen mit Autismus gefühlskalt oder unempathisch seien. Doch das deckt sich nicht mit den Erfahrungen, die ich als Paartherapeutin machen durfte. Auf mich wirkt es so, als hätten sie eher eine andere Art, ihre Emotionen auszudrücken. Ihre Ausdrucksweise ist statischer und nimmt weniger Raum ein. Es sei denn, sie fühlen sich sehr lange unverstanden. Dann kann diese Intensität sie selbst und andere überwältigen. Viele von uns haben die Tendenz, ihre Emotionen lauter auszudrücken, wenn sie sich nicht verstanden fühlen.
Für Leonie und Oskar ist es aber nicht nur, dass Oskar seine Emotionen nicht so ausdrückt wie die meisten Menschen. Manchmal fehlt es Leonie, dass Oskar auf sie zugeht, wenn sie sich zum Beispiel traurig oder verletzt fühlt. Ich würde gerne verstehen, was in Oskars Welt passiert, was er wahrnimmt und auch was nicht.
Oskar erklärt, dass er ihren Schmerz zwar nicht spüre. Doch natürlich will er nie, dass sie traurig ist. Vor allem nicht, wenn sein Autismus der Grund dafür ist. Und er merkt an ihrem Abstand, dass sie verletzt ist. »Außerdem sage ich es ihm«, wirft Leonie ein. Dann ein Schweigen, das wie ein Suchen wirkt. Also biete ich Oskar Wörter an für Gefühle: »Wenn du sie nicht verletzen möchtest und ihren Schmerz wahrnimmst … ich könnte mir vorstellen, dass du Scham verspürst oder Trauer darüber, sie verletzt zu haben.« Er nickt. Ich kenne selbst die Erleichterung, wenn etwas stimmig ist. Dieses Suchen nach einer Emotion kann anstrengend sein. Manchmal wissen wir nicht, nach was wir suchen, bis wir es gefunden haben. Ihr einen Namen geben zu können, lässt auch mich immer wieder durchatmen.
Eine der schönsten Dinge in meinem Beruf ist zu merken, dass Verbundenheit nicht groß oder kitschig oder perfekt sein muss. Im Gegenteil, oft geht es eher darum, dass wir authentisch unsere Gefühle teilen, das gesprochene Wort zu unserem Charakter passt. Oskar muss also kein Poet sein, damit Leonie berührt ist. Dadurch, dass Leonie nicht immer eine emotionale Reaktion bekommt, fühlt sie sich einsam. Auch wenn sie Oskar das nicht zum Vorwurf machen möchte. Für ihn sind die folgenden Worte Selbstverständlichkeiten: »Ich will nicht, dass sie traurig wegen mir ist. Das macht mich traurig. Denn natürlich liebe ich sie und will, dass sie glücklich ist. Ich möchte sie besser verstehen und ein besserer Partner für sie sein.« Er sagt es ruhig, unaufgeregt. In ihren Augen sehe ich Tränen. Mitgefühl ist auch eine Art Liebeserklärung. So zart und präsent fühlt sich emotionale Sicherheit an.
In diesem Augenblick macht Oskar so vieles richtig. Er zeigt, dass ihn Leonies Schmerz berührt, dass er ihn sieht. Wenn wir den Schmerz anderer ernst nehmen, dann geben wir damit auch einer anderen Person die Erlaubnis, diesen Schmerz zu empfinden. Und manchmal ist allein dieser emotionale Spiegel heilsam.
Doch es geht nicht nur darum, gesehen zu werden, sondern auch darum, sich eingeladen zu fühlen. Leonie weiß, dass es ein Geschenk ist, in Oskars Welt zu Gast zu sein. Während er von seinen Gefühlen spricht, ist sie ruhig und zugewandt. Sie beobachtet ihn aufmerksam und saugt jedes Wort auf. Sie – wir alle – brauchen auch eine Verbindung, die wir spüren können, und nicht nur eine, die wir uns erdenken.
Doch so heilsam so ein kleiner Moment für Leonie sein kann, so heilsam ist er auch für Oskar. Denn zu merken, dass er etwas richtig macht – dass es sogar schön sein kann, wenn er seine Emotionen teilt –, ist eine neue Erfahrung für ihn. Er hat oft erfahren, dass er eine Maske tragen muss, damit andere ihn verstehen oder nicht durch ihn irritiert werden. Zu merken, er tut Leonie gut, indem er teilt, was er für sie empfindet, stärkt auch sein Selbstbewusstsein. Denn anscheinend braucht es nicht viel, damit Leonie sich von ihm gesehen fühlt. Ihre soziale Interaktion, die Art, wie sie in diesem Augenblick miteinander umgehen, schenkt beiden emotionale Sicherheit. Und diese emotionale Sicherheit wiederum gibt ihnen die Möglichkeit, sich verbunden zu fühlen. Eine positive Spirale beginnt, denn je sicherer sie sich fühlen, desto offener können sie ihre Innenwelt miteinander teilen. Je mehr sie das Schöne und Schwere miteinander teilen können, desto kreativer werden sie und desto leichter ist es auch im Alltag, in echten Kontakt zu treten. Denn natürlich darf Verbindung nicht nur im Therapiezimmer stattfinden.
Was sich so einfach und leicht und fast magisch anfühlt, baut auf dem Konzept der »emotionalen Granularität« oder »emotionalen Differenzierung« auf. Wenn etwas granular ist, können wir die vielen kleinen Körner sehen, die das Ganze ausmachen. Und so bedeutet emotionale Granularität, dass wir zwischen verschiedenen Emotionen unterscheiden können.
Im Alltag hat Oskar seine Emotionen oft gar nicht ausgedrückt. Und wenn doch, dann hat er eher etwas Oberflächliches gesagt. Viele von uns antworten auf die Frage, wie es uns geht, mit »Passt schon« oder »Mir geht es gut/schlecht/okay.« Er hat nicht mit Leonie geteilt, dass er traurig war, wenn er sie verletzt hatte, sondern war versteinert und hat geschwiegen. Viele von uns kennen die Sprachlosigkeit, wenn jemand starke Emotionen durchlebt. Floskeln wie »herzliches Beileid« bei einem Todesfall oder »Du findest schon noch jemanden« nach einer Trennung zeigen, wie schwer es ist, emotional eine Verbindung aufzubauen. Dass wir aber zu Floskeln greifen, bedeutet nicht, dass wir nichts fühlen. Im Gegenteil. Wir haben nur nicht gelernt, wie wir unsere Emotionen wahrnehmen, unterscheiden und schließlich ausdrücken können. Doch dafür brauchen wir andere Menschen, die uns helfen, dieses neue Vokabular aufzubauen.
Indem ich vorsichtig geteilt habe, wie ich mich in dieser Situation fühlen würde, habe ich Oskar Worte für seine Gefühle angeboten. Ob ich mit meinen Vermutungen richtigliege, weiß ich erst durch die Rückmeldung meiner Klient: innen. Die Idee dahinter ist, dass wir auch als Erwachsene noch lernen können, Worte zu finden, ja dass es sogar eine Form von Selbstliebe und Heilung ist, seine innere Welt zeigen zu dürfen. Sich in sich selbst auszukennen und stolz auf seinen Wortschatz zu sein.
In dieser Sitzung mit Leonie und Oskar lag der Fokus auf Trauer als einer Grundemotion. Wut, Ekel, Angst und Freude sind weitere sogenannte Basisemotionen. In den nächsten Sitzungen ging es darum, auch die verschiedenen Nuancen dieser Emotionen besser wahrzunehmen: War er in Rage oder nur ärgerlich? Hatte er Panik oder nur Sorge? War er frustriert oder hilflos? Jede Facette hat eine leicht andere Bedeutung und Wirkung. So wie wir eben die Primärfarben Rot, Gelb und Blau haben. Doch ein realitätsnahes, wunderschönes Bild entsteht oft erst, wenn wir verschiedene Farbtöne benutzen.
Je präziser wir unterscheiden können, desto mehr Freiheit bekommen wir und desto leichter können wir unsere Emotionen handhaben. Wir können dadurch unsere Gefühle besser regulieren, weil wir passende Bewältigungsstrategien wählen können. Wer zufrieden ist, braucht schließlich etwas anderes als jemand, der gerade positiv aufgeregt ist. Auch wenn beide zur Emotion »Freude« zugeordnet werden. Hoffnungslosigkeit und Melancholie zählen zur Emotion »Trauer« und doch stehen dahinter sehr unterschiedliche Bedürfnisse.
Ein besseres Bewusstsein für unsere Gefühlswelt zu haben, lässt uns auch fundierte Entscheidungen fällen, schwierige Situationen besser meistern und unsere Reaktionen besser managen. Dadurch können wir Probleme leichter lösen. Dann verstehen wir zum Beispiel, warum wir bleiben, obwohl wir allen anderen in diesem Moment raten würden zu gehen: Wenn wir beispielsweise Angst UND Zuneigung zugleich fühlen.
Wenn wir uns selbst besser verstehen, können auch andere uns besser verstehen. Die eigenen Emotionen und die Emotionen anderer wahrzunehmen, ist außerdem ein wichtiger Baustein von Empathie und Verbundenheit.
Eine Möglichkeit, emotionale Granularität zu entwickeln, ist mithilfe von anderen Menschen. Wer nicht durch seine Eltern schon ein emotionales Vokabular mitbekommen hat, kann dies durch Therapie oder seine Herzensmenschen aufbauen. Doch auch Emotionskarten oder das sogenannte Emotionsrad können helfen, besser unterscheiden zu lernen. In der Praxis dürfen meine Klient: innen einfach durch diese Karten blättern und die für sich passenden Emotionen raussuchen. Einige Emotionen habe ich in der vorderen Buchklappe bereits in »Emotionswolken« gebündelt. Sobald wir unsere Emotionen als Worte vor uns sehen, fühlen wir uns oft erleichtert. Nutze die Klappe gerne, um deine innere Welt in Worte zu fassen.
Das Spannungsgefühl, das aus der Überforderung durch zu viele Emotionen entsteht, verschwindet dann. Wir als Begleitende können noch mehr Verständnis spüren. Es sind Aha-Momente. Und wenn meine Klient: innen aufgrund dieser Aha-Momente das Fazit ziehen: »Wir müssen mehr miteinander reden«, schmunzle ich. Das Statement kommt meistens von sehr rationalen Personen, die noch wenig Bezug zu ihren Emotionen hatten. Dieses Fazit bedeutet mir: Auch sie konnten die Schönheit von Emotionen spüren. Sie konnten spüren, was es bedeutet, emotional sicher zu sein.
Die Kraft der Verbundenheit bedeutet, dass wir die tieferliegenden Emotionen auf eine sichere Weise betrachten können. Dadurch können wir uns selbst besser verstehen und andere uns besser begreifen. Sich wieder ganz und vollständig zu fühlen, bedeutet oft, dass wir mit unseren Emotionen gesehen und akzeptiert werden.